Geisterbahn
Dienstag, 31.Januar 2006  Sechsuhrvierzehn, nullkommaneun.

  Mehrmals in der Nacht durch Telefonklingeln aufgewacht.

  Im Schauspiel Bonn ein Theaterstück über die Schleyerentführung. Schauspieler sprechen Politikertexte, tödlich öde. Dafür gibt es doch das Fernsehen, dass die ihr Material bringen, dasssie mit den Beteiligten sprechen und ihre Bilder zeigen. Klaus Bölling, der jetzt von damals erzählt, ist unendlich interessanter als ein Schauspieler, der den alten Text des ehemaligen Regierungssprechers aufsagt. Simulierte Authentizität auf der Bühne, nee … 

  Jens Bisky muss auf die Partisanen-Liste.

  Anruf der HR-Redakteurin. Ich darf mir für die Sendung vier Musikstücke aussuchen. Und ich freue mich darüber wie ein … wie sagt man denn? … wie ein …? Schneekönig? Egal, fange sofort an zu suchen, zu wühlen. Und weiß, dass ich meine Wahl noch zehnmal ändern und es jedesmal genießen werde.

  Wieder im Hué. Allen gehts gut. Jetzt wird’s Frühling, sagt Michael.

  Geburtstag von Matthias Beltz. Gestorben sind Hildegard Knef und Heiner Carow, der “Die Legende von Paul und Paula” gedreht hat.

Montag, 30.1.2006  Sechsuhrdreiundzwanzig. Minuszweikommazwei.

  296 users online. Was heißt jetzt das? Eine Killervirenattacke?    Das unscheinbare Dorfbild will noch immer niemand haben. Null Gebote. Gut so, ha!
  Wenn mir jemand sagt, dass er die Sachen von Keith Haring, von Mel Ramos oder von Roy Lichtenstein mag, reagiere ich wahrscheinlich mit einem kleinen schiefen Lächeln. Dabei regt mich das dermaßen auf, dass mir regelrecht schlecht wird vor Wut, dass ich wirklich denke: diese Welt muss ja den Bach runter gehen, wenn die Geschmacksbildung nicht weiter entwickelt ist. Tagelang geht mir das nicht aus dem Kopf. 
  Umgekehrt genauso: Wenn ich das Dorfbild kriege, wird es wieder so ein Glücksrausch sein, den ich mit niemanden teile. Die Freunde werden davor stehen und nun ihrerseits mit demselben schiefen Lächeln reagieren. Und ich könnte schreien: Ja, seht ihr denn nicht, wie groß das ist in seiner Kleinheit, in seiner Unscheinbarkeit …
  Okay, man könnte mit einem Achselzucken reagieren: Du findest das gut, ich finde was anderes gut, jeder hat halt seinen eigenen Geschmack. Aber genau das ist es nicht. Geschmack ist existentiell. Eigentlich kann man aufhören zu reden, wenn man nicht 
dasselbe gut findet. Dann war halt alles ein Irrtum. Aber für neunundneunzig Prozent der Leute ist Kunst nichts anderes als Dekoration. Oder Ausdruck. Mit den Bildern, die sich jemand an die Wand hängt, soll irgendwas illustriert werden, in den meisten Fällen: ein Lebensgefühl.    

  Na ja, aber wenn ich dran denke, welchen Mist ich schon alles gut fand …

  So, jetzt weiß ich auch, warum ich nie gescheite Winterkleidung besitze. Weil ich nämlich zu geizig bin, weil ich immer denke, dieser überflüssigen Jahreszeit werfe ich aber auch nicht einen einzigen Cent in den Rachen. Diese Jahreszeit muss man einfach überstehen.

  Tot sind Heinrich von Zügel und Charles Chaplin, aber der andere. Wie langweilig.

Sonntag, 29.1.2006  Dreiuhrfünfundzwanzig, minus zweikommazwei.

  4 users online.

  In der Wohnung gegenüber brennt ja immer noch Licht.

  Kann man mehr verlangen als dies hier: Leni Riefenstahl, nacktnoch dazu gemalt von einem, der im Konzentrationslager saß? Zum Startpreis von 5.000 Euro.

  Neunzig Minuten auf der Rolle. Zuerst mit Mozart, dann mit Ry Cooder.

  Wirddasetwaschonwiedersonsonnigertagoderwas? Guten Morgen, Herr Nachbar!

  Geburtstag haben Anton Cechov und Karsten Kroon. Gestorben ist Janet Frame.

Samstag, 28.1.2006  Siebenuhrzweiundzwanzig. Minus sechskommaeins.

  Noch vor dem Frühstück in den Supermarkt. Und noch eh die Augen offen sind und sozusagen auf nüchternen Magen: auf dem Kassenband, verschweißt in durchsichtige Plastikfolie, ein blutigesSchweineviertel.

  Gestern im Hue erzählte Axel, er habe gelesen, dass es einen neuen Film nach Motiven von “Landschaft mit Wölfen” gebe, der in Kürze in die Kinos komme. Aber das kann doch nicht sein …. Da hätte mir doch irgendwer etwas gesagt … Schaue ins Netz, nee, da ist nichts. Na, und was nicht im Netz ist, das gibt es auch nicht.

  Am Nachmittag: Ozons ” Sous le sable”. Was für eine stille, traurige Wucht

  Danach, später: ein wenig Rostropvich. Dann Soybelman. Aber immer weiter im Kopf das Gesicht und die unbeirrbare Liebe von Charlotte Rampling.

  Einundzwanziguhrdrei. In den letzten fünf Minuten wieder drei Einträge von diesen amerikanischen Porno-Viagra-nice-site-Idioten. Der Teufel soll Euch holen!

  Piwitt hat Geburtstag.

Freitag, 27.1.2006  Minus vierkommasechs.

  Das Beispiel Haneke zeigt, wie sehr die öffentliche Aura eines Künstlers auf die Wahrnehmung seines Werks zurückwirkt. Und dauernd wiederholen sie es, wie schwierig er sei, wie sperrig, verstörend seine Filme. Und wenn man ihn dann sieht, dieses von den Zumutungen versehrte Gesicht, das sich hinter dem weißen Künstlerbart zu schützen versucht … Noch jedesmal bin ich zurückgeschreckt, wenn es wieder einen neuen Film von ihm im Kino gab. Und dass, obwohl “Fraulein” doch eine ganze Zeit lang zu meinen Lieblingsfilmen zählte. Jetzt aber: “Caché”!

  Versuche Rautenberg anzurufen, um ihm zu sagen, wie gut mir gestern sein Frankfurt-Porträt auf Einsplus gefallen hat! Aber ist nicht da, kein Anrufbeantworter. Wenn man in dieser blöden Kiste schon mal was sieht, was einem gefällt, und dann beim Abspann auch noch merkt, dass man den kennt, der es gemacht hat …

  Und unbedingt dran denken, dass Hettche am 15.Februar in Frankfurt liest!  

  Und, was gibt’s Neues? Nichts! Außer vielleicht, dass man das Wort “neu” mal verbieten sollte. Oder? Ach, ich weiß nicht.

  Heute vor 61 Jahren hat die Rote Armee Auschwitz-Birkenau befreit. 

  Endlich, Mozart hat Geburtstag. Dann kann ja jetzt mal wieder Ruhe einkehren. Und so viele Tote: Schadow, Verdi, Isaak Babel, Erich Kleiber, Erich Heckel, Louis de Funès, Friedrich Gulda.

Donnerstag, 26.1.2006 – Fünfuhrachtundzwanzig. Minus nullkommaacht. Und wieder ist alles weiß.

  Aufgewacht und als Erstes gedacht: Ich muss ja aufstehen, ich muss ja Geisterbahn weiterschreiben.

  Traum. Laufe durch das dunkle, nächtliche Berlin. Kirchen, Schlösser, alte Rathäuser, alles prunkvoll erleuchtet. Auf einer Böschung zwischen Bürgersteig und Straße drei, vier uniformierte russische Soldaten mit Fellmützen. Sie rennen hin und her. Dazwischen auf dem Boden nervöses Gehusche. Näher kommend erkennt man: Sie jagen Kaninchen auf die Fahrbahn, treten mit ihren Stiefeln nach ihnen, oder fangen die Tiere und schleudern sie in Richtung Straße. Immer wieder bleiben Passanten stehen und beschimpfen die Russen. Die aber kümmern sich nicht darum; sie handeln ja im Auftrag. Einer der Männer wirft sich zu Boden, schnappt sich ein zappelndes Bündel, steht auf und ruft nun irritiert nach seinen Kameraden. Was er auf dem Arm hält, ist ein kleiner, weißer Hund. Der Mann berät sich kurz mit den anderen, dann setzt er mit mitleidvoller Geste das verschüchterte Hundchen am Wegrand ab. Dort hockt es nun und leuchtet in der Dunkelheit.

 Zweiter Traum: Stehe vor einer moosgrünen Wand. Eine bis dahin unsichtbareTapetentür öffnet sich, und heraus tritt eine bleiche, nackte Frau … Sonst nichts.

   Tot sind Lucky Luciano und Bruno Gröning, dessen markiges Porträt vor zwanzig, dreißig Jahren immer wieder auf den Traktaten seiner Anhänger abgebildet war.

Mittwoch, 25.1.2006 – Minus dreikommaneun. Acht Stunden geschlafen. Na also, geht doch.

  Endlich, es ist gefunden. Das Zitat des Pianisten Brad Mehldau stand in der gestrigen taz: “Wir leben ja nicht gerade in einer revolutionären Phase, wir konsumieren, schaffen aber keine Identität, das meine ich sehr selbstkritisch.” Danke Leporello.

  Aber gibt ja auch ermunternde Meldungen, zum Beispiel diese: “Der deutschen Eiche geht es so schlecht wie nie.” Und was macht der deutsche Schäferhund?

  Gerade auf der Straße ein alter Mann, dessen Unterlippe so weit herabhing, dass der Ausdruck Schlappmaul eine ganz wörtliche Bedeutung bekam.

  Eben kommt folgende Mail: “Sehr geehrter Herr Altenburg, ‘Und jetzt sind wir mit dem Quartett zu Ende.Und also sehn wir betroffen der Vorhang zu! Bitte!’ Vier Jahre, nachdem Marcel Reich-Ranicki mit diesen Worten die letzte reguläre Sendung des Literarischen Quartetts beendete, erscheinen alle Folgen der beliebten Literatursendung als Buch. In drei Bänden im Schuber und auf insgesamt 1.952 Seiten werden die Dialoge der drei Literaturkritiker und ihrer wechselnden Gäste selbst zu Literatur.” Als hätten wir nicht gerade erst gehört, wie es um unsere Wälder steht.

  Kurz hintereinander die Anrufe von Jürgen, von Philipp und von Michael – und schon steigt dieRaumtemperatur ein wenig. Dass man nicht am Ende noch allein vor die kalten Hunde …

  Jürgen erzählt, er habe im “Spiegel” etwas über den Pianisten Lang Lang gelesen. Wir lästern: Ja, über wen auch sonst, wenn die schonmal was über Musik bringen …  Christiane: “Der Spiegel würde über einen unbekannten Pianisten nur dann etwas schreiben, wenn der keine Hände hat.”

  Tom Koenigs, der schon lange nicht mehr hier im Tengelmann war, hat Geburtstag. Todestag von Lucas Cranach d.J. und von Al Capone.

   

Dienstag, 24. Januar 2006  Vieruhreinunddreißig, minus 6,4°.

  Was soll das eigentlich sein, das „subversive Potential“ des Kriminalromans? Es ist allenthalben so selbstverständlich davon die Rede, als sei es dem Genre eingeboren. Und jedes Mal werde ich nervös, wenn ich die flinke Formulierung höre.

  Aber wann ist ein Krimi eigentlich subversiv? Reicht es schon, wenn der Täter am Ende  entkommt? Oder wenn „die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischt“ werden, womöglich: „auf verstörende Weise“?  Oder muss darüber hinaus formal gefuchtelt werden mit den Neuerungen desvorigen Jahrtausends: mit Perspektivwechseln, Zeitsprüngen und so weiter? Oder ist das „subversive Potential“  sowieso nur eine wohlfeile Floskel? Eine Kategorie, die man halt gerne einsetzt, weil sie seit dreißig Jahren zum nie mehr hinterfragten Repertoire des „aufgeklärten“ und  „kritischen“ (was für Worte … mein Gott) Denkens gehört.  
  Auch „noir“ und „hard-boiled“ sind  zwei dermaßen zur Pose verkommene Schreibhaltungen, dass sie mehr dem augenzwinkernden Einverständnis mit dem  Markt dienen als dazu, noch irgendetwas Interessantes in Gang zu setzen. Es ist halt immer wieder diese unselige Hemingway-Tradition: ein  verkrampft-lakonisches Großmaul, das sich kurz darauf im Katzenjammer als zynischer Loser gefällt. Das aber immer um Zuwendung bettelt, um Applaus für die eigene Denkfaulheit.
 Und sich im besten Fall irgendwann eine Kugel durch den Kopf gehen lässt. 

  Aber sogar mit seinem Selbstmord am 2.Juli 1961 hat Hemingway dem genialen Céline, der einen Tag zuvor in Meudon gestorben war, noch die Show gestohlen, heißt: die Aufmerksamkeit möglicher Leser entzogen.

  Schöner Titel für einen Text über Ostkunst: “Pathos und Blässe”.

  Wie sagt der Fusselbart am Nachbartisch: “Ich bin halt ein alter Jazzer” – Uaaaah, Himmel, hilf!

  Geburtstag hat der Krimi-Autor E.T.A. Hoffmann. Auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde heute vor siebzehn Jahren dann doch noch: der Womanizer Ted Bundy.

(40137)

 

Montag, 23.1.2006 – Zweiuhrsiebenunddreißig. Mit Herzklopfen aufgewacht, Von der angekündigten Kälte sind gerade mal -5,4° hier angekommen.

  Noch vor dem Morgengrauen zwei, drei Stunden in Simenons Tagebüchern und den Intimen Memoiren geblättert. Aber das ist ja alles gar nicht auszuhalten, dieser Wortschwall, diese Traurigkeit.

  Geburtstag hat Edouard Manet. Gestorben: Doré, Munch, Bonnard, Beuys, Dalí.

 

Sonntag, 22. Januar 2006 – Aus dem Gästebuch ist versehentlich mitsamt den Spam-Texten der Eintrag einer Katharina … gelöscht worden. Schade, denn es ging eine gute, kleine Unruhe davon aus.

  “Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes” – das Ende gleicht der Auflösung in den “Derricks”. Die unglaubwürdigen Motive des Täters sollen dem Leser durch seitenlange Erklärungen einsichtig gemacht werden. Aber die letzte halbe Seite, als Maigret der Hinrichtung des Mörders beiwohnt, ist einfach großartig.

  Die Verfilmung von “Mitsommermord” in einer Aufzeichnung gesehen. Viele unruhige Mätzchen. Viel stummes, bedeutungsschweres Geglotze des Hauptdarstellers. Reichlich Postkartenästhetik. Ein paar gute Bilder, aber nichts, was einen wirklich fesseln würde. Ohne dramaturgische Not hat man auf viele gelungene Elemente des Romans verzichtet.

  Zwölfter Todestag von Jean-Louis Barrault.

 

Samstag, 21. Januar 2006 – Gesternabend auf Einladung von Lothar Ruske in einer Privatwohnung in der Bockenheimer Landstraße: Literarischer Salon. Zwölf Euro. Es ist schon voll. Es fehlen noch Stühle. Ich erkenne Eldad, Kathrin Fischer, später Jochen Nix, der im November auch mit durch Kassel gezogen ist. Vorne steht ein Tisch mit Büchern. Dahinter sitzen Lothar und der Krimi-Herausgeber Thomas Wörtche. Sie unterhalten sich. Wörtche ist ein global player. Er kommt zu nichts mehr, sagt er. Er kauft Manuskripte aus aller Welt. Aber nur die “guten”. Oder die “wunderbaren”. Die “schlechten” und die “grottenschlechten” überläßt er den anderen. ThomasWörtche ist gegen eine Geschlechterquote bei der Veröffentlichung von Krimis. Izzo habe gut “gefunzt”, sagt er. Eine “wunderbare” Autorin hat man ihm aber auch schon “abgekauft” – für “viel, für sehr viel Geld”. Aber er hat schon wieder andere “am Haken”. Vor einer Veranstaltungißt Thomas Wörtche grundsätzlich nichts. Deshalb bekommt er jetzt eine Mahlzeit zubereitet, die er vor unser aller Augen verspeist. Ich habe auch Hunger. Die Bretzeln sind alle. Gibt aber noch von dem leckeren Rotwein. In kleiner Runde unterhalten wir uns über Armin Meiwes und das schwere Schicksal, ein Kannibale zu sein. Auch Jochen Nix ist hungrig. Er braucht jetzt dringend einen großen Brocken Fleisch. Thomas Wörtche muß morgen schon wieder einen Vortrag halten. Er muß früh aufstehen. Er muß nach Iserlohn.

  Ich merke, wie sich mein Blick verändert hat, seit ich wieder ein wenig zeichne und male. An der Ampel, an der Supermarktkasse, in der U-Bahn starre ich den Leuten in die Gesichter, schaue auf die Verteilung von Licht und Schatten, beobachte, wie sich die Mundwinkel und die Augenform ändern, wenn jemand lächelt, folge den Linien der Wangenknochen, versuche mir zu merken, wie sich das aufgesteckte Haar vor dem Schaufenster abzeichnet.

  Heute beim Frühstück die Sonate für Violine und Klavier mit der Opus-Bezeichnung: “F.A.E.” (Frei aber einsam).

  Gerade lese ich in den Alligatorpapieren, dass die Ergebnisse des Krimi-Wettbewebes, den das Deutsche Filmmuseum veranstaltet hatte, bereits veröffentlicht sind. Seltsam, dass man als Juror aus der Presse erfahren muss, wer die Gewinner sind.

  Am Nachmittag zwei Stunden im Regen mit dem Rennrad durch die Wetterau.

  Todestag von Matthias Claudius, Lenin, Franz Jung.

 

Freitag, 20.Januar 2006 – Geburtstag von Fellini und David Lynch. Gestorben ist Samuel Colt, der 1836 den ersten Revolver herstellte.

Donnerstag, 19. Januar 2006 – Gesternabend Jahresempfang des Kulturforums der Sozialdemokratie in der Ausstellungshalle Schulstraße 1a. Herr Emmerling begrüßt. Ich ducke mich. Herr Wentz spricht. Und spreizt sich. Man lächelt. Es gibt Brot und Käse und Wein. Ein kleiner Hund mit braunweißem Fell ist da, an den halten sich meine Augen. Er wimmert, er mag es auch nicht. Halbzehn. Schnell wieder weg über den eisernen Steg. Schön ist die Stadt, so dunkel, schön nass, schön tot. Viele Lichter.

  Heutemorgen endlich entdecke ich das kunstnet. Vielleicht ist hier – unter den Unbefugten, den Amateuren – einer dabei, den wir im Partisanenforum gerne hätten. Schaue mir im Schnelldurchlauf 1609 Bilder an. Das meiste Augenschrott, Kopfschrott. Aber ja, doch, ein paar sind dabei, die was zu sagen, was zu zeigen haben.

  Hadere in den letzten Tagen wieder mit Rainalds “ABFALL FÜR ALLE”. Und frage mich, was das Buch manchmal so trostlos macht. Vielleicht ist es die Abwesenheit jeder Natur und jeder Vergangenheit. Immer nur Stadt, immer nur jetzt, jetzt. Und wenn die Gegenwartsmaschine kein Futter kriegt, läuft sie leer. Andererseits: Wer sagt denn, das Kunst trösten muß? Dann ist es eben trostlos.

  Geburtstag hat Edgar Allan Poe, von dem manche glauben, er habe den Kriminalroman erfunden. Gestorben sind Hoffmann von Fallersleben und Wolfgang Staudte.

 

Mittwoch, 18. Januar 2006 – Fünf Uhr, 3,4° Celsius.

  Eine Stunde Trainer. Dabei Boccherinis Cello-Sonaten. Und im Kopf die Liste für das Partisanen-Forum. Listen machen eigentlich immer Spaß. Nichts davor, nichts dahinter, nur ein Name oder ein Titel, aber gleich ist ein Raum da. Deswegen sind Vergleiche eben auch immer hilfreich.  Der malt in der Art von Edvard Munch; die hat ein Timbre wie die Knef; sein Stil ähnelt dem von Heiner Müller, aha, ja, dann ist schon mal mehr da als nichts, hat man gleich eine Vorstellung. Kann man ja korrigieren, wenn sie falsch ist.  

  Weißt du was, du gehst mir unglaublich auf die Nerven! – Und? Jetzt? Wie weiter? Meinst du vielleicht, ich geh mir nicht auf die Nerven. Ich geh mir selber doch am allermeisten auf die Nerven.

  Jean-Patrick Nazon und Thor Hushovd haben Geburtstag. Gestorben sind Rudyard Kipling und Max Reimann.

 

Dienstag, 17.Januar 2006 – Wieder ein schönes Fundstück im großen Auktionshaus: “GIGANTISCHES Aktbild auf schwarzem Samt! Richtig edel!”

  Manchmal hätte ich Lust, hier irgendwas hinzuschreiben, was alle, ich meine: restlos alle, dermaßen aufbringt, dass das Gästebuch vollgepostet wird mit Beschimpfungen. Nur, damit mal was zuckt. Damit mal was in Gang kommt. Nur, damit sie mal rauskommen aus ihren “Mal-gucken-was-er-heute-so-geschrieben-hat-Löchern”.

  Andererseits sind gezielte Provokationen einfach bloß fade. Es gibt einen großen Knall. Dann verzieht sich der Rauch, man sieht in die Gesichter, und alle grinsen sich an.

  Aber hoffentlich hat das hier bald mal ein Ende. Dieses Gewarte, Gehocke, Gedruckse. Diese Kälte und der Schnee.

  Was hat mir denn gefallen an dem Gespräch mit Rauschenberg? Vielleicht, dass er sich selbst dauernd in Frage stellt. Man denkt so: ah jetzt verliert er sich in einer Attitüde, jetzt macht er auf Gute-Laune-Künstler. Aber eine Sekunde später sagt er schon: “andererseits …”  – und hat sich selbst wieder ein Bein gestellt. Und schon ist man ein Stück weiter.

  Vielleicht sind das ja die Formen, die noch ein bißchen Beweglichkeit zulassen oder erst erzeugen: Tagebuch, Interview, Gespräch, Internetforen. Wie es mich dagegen inzwischen langweilt, einen “Artikel” zu lesen. Oder gar zu schreiben.

  Heute ist mal niemand tot. Oder alle. Oder ich hab bloß schlechte Laune.

 

Montag, 16. Januar 2006  Von J. kommt die Einladung, an einem geheimen, elitären Netzforum teilzunehmen. Bin skeptisch. Sollte man sich nicht dem Volk aussetzen, um hinterher zu wissen, warum einen fröstelt? Und: Störgeräusche waren mir eigentlich immer willkommen. Fürchte, das Ganze wird zu gespreizt, zu closed, zu undurchlässig. Und damit weniger spaßig.

  Kleiner Glücksstern: Das Interview mit Robert Rauschenberg in der “Zeit” von voriger Woche. Wie heiter, wie beweglich dieser alte Mann ist, wie begierig auf die Wirklichkeit. Und scheinbar unbestechlich. Er hat schon recht: Beuys ist das depressive Gegenteil von ihm.

  Erster Todestag von Charlie Bell. Als Fünfzehnjähriger fing er in einer australischen Filiale von McDonalds zu arbeiten an und stieg auf bis zum Chef der Schnellrestaurant-Kette. Er starb mit 44 Jahren. Woran? Am amerikanischen Traum? Oder hat er was Falsches gegessen?

 

Sonntag, 15. Januar 2006 – Morgens nach Usingen. Auf HR2 Rossinis erste Sonate für Streicher. Lesung im Forum. Alle Plätze belegt. Alles freundlich. Alles gut. Signieren. Wieder zurück.

  Muss daran denken, was Annette gestern in der Pause gesagt hat: “Werd bloß nicht süchtig! Fang bloß nicht an, Kunst zu sammeln!” Sie erzählt, dass sie einen Bekannten hat, der all sein Geld für Gemälde ausgegeben und nun “tausende Schinken” im Keller stehen habe. – Aber ich schaue heute bereits zum zweiten Mal auf den Markt.

  Todestag von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

 

14. Januar 2006 – Nachtrag: Gestern auf der Fahrt nach Seckbach im Autoradio von Jakob Klein die 5.Cellosonate G-dur op.4 mit Goltz, Perl und Santana. Und die Information, dass Donizetti manche seiner Sinfonien in anderthalb Stunden komponiert habe. Gelobt sei HR 2!

  Wir proben ein letztes Mal. Dann durch die Wetterau und den Vogelsberg nach Lauterbach. Reichlich frische Holzkreuze am Straßenrand. Wir spinnen rum, dass wir vielleicht doch eine Gruppe gründen: die “Partisanen der Schönheit”. Die Zentralstation ist ein winziger ehemaliger Bahnhof, mitten in der verschneiten Pampa. Und wir mit Sommerreifen. Keiner da? Nee. Also alles wieder zum Auto schleppen. Und in eine öde riesige Dorfkneipe, wo man die Fremden beäugt. Dann aber Lesung, schöner “Abend Glück”, dann noch signieren. – Als Sie letztes Jahr hier waren, haben Sie mir so was Nettes reingeschrieben, erinnern Sie sich noch? – Ja, also mmhh, ehrlich gesagt … – Rückfahrt über die Autobahn. Wir sind beide kaputt; Ati wird krank. Um halbzwei zu Hause. Ein großes Paket im Flur. Es ist der “Hammermann”.

  Heute dann immer um das Bild herumgeschlichen. Bin erleichtert. Wer auch immer dieser K.B. gewesen ist, der es gemalt hat, es ist auf jeden Fall keine Nachahmung, sondern wirklich “Neue Sachlichkeit”.

  Sie haben noch 41 Mails in Ihrem Postfach. Na prima, vielen Dank!

  Als ich Paula die Geschichte von dem Künstler erzähle, der sich das Glied eines Fingers abgeschnitten hat, um bekannter zu werden, sagt sie: “Lieber bin ich so bekannt wie eine Wurst, aber dafür gesund.”

  Abends im Schauspiel, Frankfurter Positionen. Das Ensemble Modern mit zwei Uraufführungen. Stefan hat Karten reserviert. Immer mehr wird er zum wichtigsten Kulturvermittler der Stadt. Francesco Antonioni: “Codice Ovvio” – erinnert mich an eine Britten-Oper. Jean-Paul Dessy: “O Clock” – große Klangspannung, macht Spaß, nur die Naturgeräusche sind billig. Begeisterung beim Publikum. Aber Ingo, dessen Kameraleute den Abend aufgenommen haben, erzählt, er habe einen Mann von den Donaueschinger Musiktagen getroffen und gefragt, wie es ihm gefallen habe: Diese Musik sei “kriminell”, habe der Mann gesagt. Wohl, weil sie ihm zu konventionell war. Hinterher Premierenfeier. Findet im Foyer statt, weil nebenan im Bar-Raum die Automatik eines der riesigen Fenster kaputt ist – es geht ständig auf und zu und eisige Luft zieht durchs Haus.  Um Mitternacht, als plötzlich Happy-Birthday-Gesänge aus zwei Richtungen kommen, drehe ich ab. Taxi. Bett.

  Heute vor einem Jahr wurde Rudolph Mooshammer ermordet. Bei einem Erdbeben in Kingston auf Jamaika starben vor 99 Jahren 1600 Menschen.

 

13. Januar 2006 – Freitag. Vieruhrsechsunddreißig. Heute Abend Auftritt mit “Ein kleiner Abend Glück” in Lauterbach. Bin schon ganz zappelig vor Freude. Die Arbeit mit Atilla an diesem Programm gehört mit Abstand zu den schönsten Erfahrungen. Neben dem Rausch, den ich mit RB erlebte, als wir “Tage und Nächte” schrieben.

  Was ist das eigentlich, wenn wir schreiben, malen, singen, Gitarre spielen, auf der Bühne stehen, proben, filmen, tanzen? Arbeit, Kunst? Schon die Frage hat was Schiefes: Was sind Sie von Beruf, wenn man fragen darf? Oder auf den Parties: Und du, was machstn du so? Ich mach so Buchstaben aneinanander reihen, ich mach so Farbe aufs Papier bringen. Rumwerken halt, den ganzen Tag. Jedesmal krieg ich einen steifen Nacken, wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt. Schriftsteller, Dichter, Autor. Klingt alles falsch. Ich mach halt so.

  Egal, weitermachen.

  Ich mache: Ein Mond für Ida Kerkovius.

  Und? An was arbeiten Sie gerade? 

  Tot ist Joyce.

 

12. Januar 2006  Im Dunkeln taste ich nach dem winzigen Wecker, drücke auf den Knopf für das Lichtchen: 3:47 Uhr. Was mache ich jetzt mit dem neuen Auster? Nee. Ich schaff’s nicht. Schaff’ es ja noch nicht mal, ihn zu lesen.

  Öffne die Nachrichtenseite des HR. Großes Foto von Armin Meiwes, dessen Revisionsprozeß heute vor dem Landgericht beginnt. Auch hier nennt man ihn den “Kannibalen von Rothenburg”. Auf einem der Bilder sieht man sein schönes Fachwerkhaus in Wüstefeld. Wann war ich da?  Im September 2003.

  Nehme mir drei Bände der Ernst-Fischer-Ausgabe mit an die Badewanne. Und stoße prompt auf dies: “Der Avantgardismus von heute ist das letzte Aufgebot dessen, was einst der Vortrupp war. Dadaismus war Herausforderung der Bürgerwelt. Pop-Art, sein gesittetes Enkelkind, wirbt um gelangweilte Konsumenten. Sie bietet die Hülse ohne Sprengstoff feil. Dada war der Aufschrei: So gehts nicht mehr! Pop-Art ist das Grinsen: Es geht auch so!”

  Ich meine, eh man noch anfinge, sich mit seinen Freunden über Roy Lichtenstein zu streiten.

  Und nun, am Schreibtisch sitzend, das noch hinterher: “In der Tat haben die Künste viele, wechselnde, einander nicht selten widersprechende Funktionen. Nur eines müssen sie stets: den Menschen unterhalten. Eines dürfen sie nie: ihn langweilen.”

  1976 ist Agatha Christie gestorben und ein Jahr später Henri-Georges Clouzot, der den “Lohn der Angst” verfilmt hat. Gleich mal schauen, wo eigentlich die schöne alte Ostausgabe des Buches ist.

 

11.Januar 2006  Danilo Hondo, der gestern zu einer zweijährigen Sperre wegen Dopingvergehen verurteilt wurde, erklärt gerade auf seiner Homepage: “Ich werde diesen unfairen Kampf nicht aufgeben.” Lustige Formulierung.

  Morgens mit dem Rad zum HR. Ganz langsam, alles verschneit. Ich wappne mich schon auf einen Kampf mit dem Pförtner. Aber diesmal ist es ein anderer, sehr freundlicher: Frau Titzka holt Sie gleich ab! Ich warte inmitten von dreißig asiatischen Kindern, die den Sender besichtigen. Sieht alles ein bißchen ostzonig aus hier drin. Gespräch mit Martina Regel. Sie hasst es, sagt sie, über Bücher zu sprechen, die sie nicht gelesen hat. Pfefferminztee, sagt sie, soll man nur trinken, wenn man krank ist.  – Was, schon vorbei? – Ja, das war doch fast eine Viertelstunde, gesendet werden eh nur drei Minuten. – Ach so. – Sollen wir Sie noch rausbringen? – Nee, ich find mich schon zurecht.  – Und verlaufe mich heillos in den verlassenen Gängen.

  K. ruft an. Will wissen, ob ich den neuen Roman von Auster bespreche. Weiß nicht, hab noch nicht mal reingeschaut.

  Den restlichen Tag an dem Wortwechsel mit Dieter Paul Rudolph fürs Krimijahrbuch gearbeitet, macht Spaß, wird auch gut. Nachmittags ist Ati kurz da, ein bißchen krank. Abends mit J. und C. im Burga. Als wir rauskommen, regnet es, und die Straße ist mit einer glänzenden Eisschicht überzogen. Blitzeis. Klingt ein bißchen wie Blitzkrieg. 

  Hermann Schumann, Werkzeugmacher aus Sachsen, Schüler von Rosa Luxemburg, Lehrer von Max Hoelz, wird am 11.1.1945 in Dresden hingerichtet.

Dienstag, 10.Januar 2006  Versinke immer tiefer in den Bilderwelten. Wie immer nach einer langenSchreibphase, reagiere ich mit Überdruß auf alle Worte. Und werde um so gieriger auf Farben, Formen, Bilder. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich jetzt ein halbes Jahr lang durch die europäischen Museen streunen und nur noch schauen. Und immer mehr sind es die ersten drei Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, die mich interessieren. Dabei dachte ich schon vor zwanzig Jahren, dass ich das alles längst hinter mir hätte. Jetzt kommt es mir vor, als sei man nie wirklich über das hinausgekommen, was damals entstanden ist.

  Gestorben sind Dashiell Hammett und der große Georg Forster.

 

Sonntag, 8. Januar 2006 – Um sechs aufgewacht. Gleich den Markt angeschaut. Alles noch gut. Am Abend ist Auktionsende, nervös. Badewanne, ein bißchen in dem Christian-Schad-Band von Schirmer und Mosel geblättert. Kaffee, Brezel, Waage. Uff.

 Der Hinterreifen, den ich gestern erst aufgepumpt hatte, hat Luft verloren, schnell noch Schlauch wechseln. Dann in die Winterklamotten. Immerhin 4,3°. Bin 6635 Kilometer im letzten Jahr mit dem Schwarzen gefahren. Heute wird die neue Saison eröffnet.

  Was für ein gelungener Tag. Eine dreistündige Ausfahrt mir der “Lokomotive Rotes Ritzel” durch die Wetterau. Dann mit Ati ganz im Gleichklang geprobt. Und abends das Gemälde “Snob mit Vorschlaghammer” bekommen.

  Juan Marsé hat Geburtstag, und Kurt Schwitters ist tot.

 

Samstag, 7.Januar 2006 – Gestern Abend habe ich mich durch die Manuskripte des “Kommissarinnen”-Wettbewerbs des Deutschen Filmmuseums gequält. Schwöre mir, nie wieder in eine Jury zu gehen.  

  Danach die Simenon-Biografie ausgelesen. Zuletzt war er ein reicher, einsamer, unglücklicher Mann. 10.000 Frauen habe er gehabt, hat er in einem Interview behauptet, ein Millionenpublikum hat ihn verehrt, aber seine Mutter hat ihn immer zurückgewiesen, und seine geliebte Tochter Marie-Jo hat sich das Leben genommen.

  Hübsch ist das Denkmal Simenons in seiner Heimatstadt Lüttich. Der lebensgroße Autor aus Bronze sitzt auf einer Bank, den rechten Arm auf der Rückenlehne ausgestreckt. Er läd dazu ein, sich neben ihn zu setzen. Und sich fotografieren zu lassen.

  Dann: “Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes”. Schon klasse, wie Simenon am Ende des vierten Kapitels über sieben Seiten hinweg das “Coupole” beschreibt, ohne dass es irgendetwas mit der Handlung zu tun hätte. Erst im letzten Satz taucht plötzlich der gesuchte flüchtige Häftling vor der Tür des Restaurants auf.

  Fahre nach Wiesbaden, um in der Galerie Draheim das kleine Landschaftsbild von Carl Grünwald zu kaufen. Aber es ist noch kleiner als ich annahm. Und blasser als auf der Homepage. Dafür ist es mir dann doch zu teuer. 

  Nachmittags mit Atilla geprobt: “Ein kleiner Abend Glück”.

  Abends dann im Fernsehen den Hildegard-Knef-Abend, aber leider zu spät eingeschaltet, so dass ich den Dokumentarfilm über ihre frühen Jahre verpasse, stattdessen das Interview mit dem eitel-verspannten Matthias Walden, gegen den die von Krankheit gezeichnete Knef wirkt wie das Lebenselbst. Auch sie war ja ganz Twenties.

  Gerade sehe ich, dass heute der dritte Todestag von Helmut Zenker ist, der den unsterblichen Major Kottan erfunden hat. Zenker, von dem ich nicht einmal wusste, dass er tot ist, liegt in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof. Ich hätte ihn voriges Jahr, als wir dort waren, gerne besucht.

 

Donnerstag, 5.Januar 2006 – Gestern Abend den “Torpedokäfer” gelesen, Lutz Schulenburgs Buch über Franz Jung. Es scheint Menschen zu geben, deren Leben – egal, was dabei herauskommt –  ein einziger Selbstversuch ist. Fritz war auch so jemand. Rainald Goetz vielleicht.

  Eine Stunde Rollentrainer. Wieder Mendelssohns Quartette. 

  Todestag von Julius Leber. Der Sozialdemokrat Leber war der Verbindungsmann zwischen dem linken Widerstand und der Gruppe um Stauffenberg. Für die Zeit nach Hitler war er als Innenminister vorgesehen. Während eines Treffens am 4.Juli mit der kommunistischen Zelle um Anton Saefkow werden die Teilnehmer von einem Spitzel verraten. Saefkow und Genossen werden noch am selben Tag verhaftet. Leber einen Tag später. Er wird am 5.Januar 1945 in Plötzensee hingerichtet. “Die Angehörigen der Hingerichteten müssen eine ‘Kostenrechnung’ bezahlen. Die Staatsanwaltschaft fordert für jeden Hafttag in Plötzensee 1,50 Reichsmark, für die Hinrichtung 300 Reichsmark und für das Porto zur Übersendung der ‘Kostenrechnung’ 12 Pfennige.”

  Ein Teil der Hinrichtungen, die zuletzt an 12 Fleischerhaken stattfanden, wurde auf Anweisung Hitlers gefilmt. Er wollte sie hängen sehen “wie Schlachtvieh”.

Mittwoch, 4. Januar 2006  Gestern kurz vor zwölf im Autoradio auf HR2 ein schönes Stück gehört. Jetzt finde ich heraus, was es war:  Schubert: Fantasie für Violine und Klavier C-Dur D 934 (Yuuko Shiokawa / András Schiff). Bestimmt ein Schlager, aber ich kannte ihn nicht

  Eineinhalb Stunden auf dem Trainer. Dabei gehört: die beiden ersten Streichquartette von Mendelssohn, mehrmals die Canzonetta. Und nebenbei in den alten verstaubten Franz-Jung-Büchern rumgestöbert. Muss ja etwas zu bedeuten haben, dass mich gerade eben wieder alles interessiert, was in den Zwanziger Jahren entstanden ist.

  Anruf eines freundlichen Sozialdemokraten. Ob ich gemeinsam mit Michael Herl an einer Podiumsdiskussion zum Thema “Heimat im Frankfurter Nordend” teilnehmen möchte. Ich sage zu, komme aber, kaum habe ich aufgelegt, ins Grübeln. Muss es denn gleich wieder “Heimat” sein? Hätte nicht fürs Erste auch “Zuhause” genügt? Als würden wir nicht dafür schon von Vielen beneidet.

  Heute vor 46 Jahren ist der Facel Vega des Verlegers Michel Gallimard auf der Straße zwischen Sens und Paris gegen eine Platane geprallt. Albert Camus, der sich ebenfalls in dem Fahrzeug befand, war sofort tot. Camus’ Aktentasche mit dem Manuskript von “Le premier homme” fand man wenig später im matschigen Boden in der Nähe der Unfallstelle.

 

Dienstag, 3. Januar 2006  Morgens im Park. Mist, die Sehnen schreien. Nach zwanzig Minuten aufgegeben. Dann halbe Stunde Trainer.

  Am Sachsenhäuser Mainufer. Schon wieder so ein sonniger Tag. Die Stadt strahlt. Und ist mir – wie immer im Winter – viel näher als im Sommer. Endlich die große Bracht-Ausstellung im Museum Giersch gesehen. Was für eine Überraschung. Zuerst denke ich an Manet, Courbet, Corot. Dann wird er expressiver, nähert sich den Impressionisten, abstrahiert. Auch ein paar heroische Strolchereien, aber das meiste ist von großartig gekonnter Hinwendung. Kein einziges Porträt. 

  Dann Lesecafé, Einkauf, nach Hause, Mails, Kochen etc. 

  Todestag des ehemaligen Reichskanzlers Josef Wirth (“Der Feind steht rechts!”). 

 (86)

 

Montag, 2. Januar 2006 – Bei ebay folgendes Angebot gefunden: “Deutscher Soldat (2.WK) mit Apfelschimmel – Sehr schönes, interessantes und ausdruckstarkes Ölgemälde aus den späten 30 ziger Jahren. Es zeigt einen jungen Mann in seiner feschen Uniform während seines vermutlich ersten Heimaturlaubs nach der Grundausbildung, aber noch ohne Beförderungssymbolen.

An seiner Seite sein lieber alter Freund, der gesattelte Apfelschimmel. Man sieht beiden die Wiedersehensfreude an.”

  Über Nacht ist die Welt wieder ohne Schnee. Die Sonne scheint, über sechs Grad. Es geht bergauf.

  Heute vor 46 Jahren starb Fausto Coppi an Malaria.