Geisterbahn

Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Roman

Samstag, 30. Juni 2007 – Siebenuhrachtunddreißig, fünfzehnkommasechs. Nerv, schon wieder dicke Regenwolken. Wind. Was ist denn jetzt mit Sommer?

Aufgewacht und sofort dem lieben Gott gedankt, dass ich nicht in Berlin lebe.

A. über St.: “Eigentlich ist er sehr charmant, tut aber alles dafür, dass man es nicht merkt.”

“Mit spitzer Feder der Welt einen Spiegel vorhalten, das schafft nicht jeder”. Aber eine solche Vollidioten-Dumpfbacken-Formulierung zu benutzen, schaffte gestern Abend locker und mit links der Nussknacker unter den Kulturzeit-Moderatoren: Dieter Moor – der damit doch eigentlich seine Schuldigkeit getan haben könnte.

Am 30. Juni 1984 starb Lillian Hellman.

Mittwoch, 27. Juni 2007 – Fünfuhreins, zwölfkommavier. Dämmerung, Vögel, Wolken. Siebenschläfer.

“Schuh-City – Wir liefern euch ne heisse Sohle für ganz wenig Kohle. Angesagte Herren innen Leder- Sneaker.
Starten Sie athletisch und top-modern in die nächste Session.
Worauf blickt die attraktive Damenwelt nach Händen und Hintern als nächstes beim Mann? Natürlich auf die Schuhe. Und wenn Sie dann an Ihren Füßen diese topmodischen Herren-Sneaker tragend dann klappt’s auch mit der Nachbarin, mit der Chefsekretärin oder mit den heißesten Strandnixen und Discoqueens.
Was auch in Ihrem Kleiderschrank hängen mag – Franzenjeans, 3/4-Hose, lässige Business-Anzüge oder trendige Stoffhosen – das alles können Sie rausziehen und zu Costa kombinieren. Vor allem in der angesagten Farbe schwarz.”

Und biker-meli hat anzubieten: “Adolf Hittlerportait Gemälde”.

Am 27. Juni 2001 starb nach einer misslungenen Herztransplantation der Napola-Schüler, Designer, Hofbäcker, ehemalige Ehemann von Daphne Wagner und Erika Pluhar, Freund von Oskar Werner, Qualtinger, Hundertwasser … und sechsfache Mörder Udo Proksch (auf dem Foto links; mit Friedensreich Hundertwasser und Hans Neuffer).

Montag, 25. Juni 2007 – Vieruhrzweiundvierzig. Fast noch dunkel. Neunzehnkommazwei. Rasch in die Galeere!

Eine Hütte im Wald, verwahrlost. Im Eingang liegen zwei schlafende Knaben. Weil ich ihren Anblick nicht ertrage, bedecke ich sie mit Laub – als seien sie schon tot. Und weiß sofort, dass ich etwas Unrechtes tue. Dann nähert sich ein Motorengeräusch. Ich beeile mich, unter meinen Wagen zu kriechen. Aber dann steigt schon jemand aus einem dunklen VW-Golf, und ich höre Annika meinen Namen rufen. Mit Herzklopfen aufgewacht.

Tot ist E. T. A. Hoffmann.

Sonntag, 23. Juni 2007 – Sechsuhrdreißig, fünfzehnkommasieben

Gestern Abend Wim Wenders’ alten “Chambre 666”. Na, er sagt es ja selbst; der Film war eine Schnapsidee. Interessanter dann sein Gespräch mit Roger Willemsen, das als Bonus mit auf der DVD ist.

Kurz in “Wetten, dass …”. Dort Dieter Bohlen und sein Zögling Mark Medlock. Zwei Minuten genügen, in mir einen solchen Ekel hervorzurufen, dass ich mich frage, warum es im ZDF keine Kontrollgremien gibt, die verhindern, dass man als Zuschauer mit Kreaturen behelligt wird, bei deren Anblick man sich schämt, zur selben Gattung zu gehören … Schnell wieder an die Arbeit!

Nee, wirklich, da muß sich die Menschenwelt nicht wundern, wenn man nichts mit ihr zu tun haben will, sondern lieber eine Ameise am Strand von Mauritius wäre.

Am 24. Juni 1943 starb im mexikanischen Exil an Herzversagen Otto Rühle. Am gleichen Tag nahm sich seine Frau Alice Rühle-Gerstel das Leben. Weiterlesen … !

Freitag, 22. Juni 2007 – Fünfuhrdreißig, sechzehnkommaeins. Halb und halb.

Am Mittwoch im Autoradio ein Doppelkopf mit dem Psychiater Klaus Dörner. Er erzählt, dass die Euthanasie von der Elite der deutschen Ärzteschaft gegen den anfänglichen Widerstand führender Nazis durchgesetzt worden sei. Man habe – in der Tradition der Aufklärung – das Recht auf selbstbestimmtes Sterben auch für jene gewährleisten wollen, die nicht mehr hätten selbst bestimmen können. Und auch Auschwitz sieht Dörner nicht als Zivilisationsbruch, sondern als einen Höhepunkt der Moderne. Dort seien die Prinzipien Industrialisierung und maximale Produktivität auf das Töten angewandt worden.

Über die documenta. Fridericianum. Ziemlich leer. Wenige Besucher. Leere Wände. Dasselbe wie vor dreißig Jahren. Oder? Nein, diesmal ist alles anders, wie immer. Videomuff. Fotocollagen. Teppiche aus aller Welt. Behauptungen, Beliebigkeiten, Bluff. Dazwischen ein Hauch von Wirklichkeit. Der Zeitgeist fordert eine “neue Politisierung” der Kunst, also bedient man den Bedarf mit leeren Gesten. Politisch? Mein Gott, politisch waren auch die Nazis. Wenn der Mut nicht weiter reicht, als bloß bis ‘irgendwie politisch’ … Viele ratlose Gesichter, die plötzlich zu Leben erwachen, als das Unwetter mit Donner und Blitz über Kassel hereinbricht, Hagel auf den documenta-Pavillon trommelt, das Dach an vielen Stellen undicht wird, schließlich einknickt. Und der Himmel zeigt, was er von der Schau hält. Eimer, Gerenne, Besen, Tücher, hilft nix.

Bettenhausen. Zigeunerlager. Schrottplätze. Noch schnell bei T-Gut eine Ananas für Papa. Bin ja ganz durchgeschwitzt. Richtung Salzmann, alte Textilfabrik. Schimmel, mit Rucksack und Kamera, steht schon da, lächelt mir entgegen. Hast immer noch denselben Gang, sagt er und zeigt, wie ich gehe – breit, rollend. Schöne, versonnene halbe Stunde auf dem Mäuerchen der Tankstelle mit Radeberger und Clausthaler. Und Stefan brieft mich noch, erzählt, dass jetzt die Kreativität und Flexibilität der freien Künstler allen Beschäftigten abverlangt werde, andernfalls man so frei sei, sich von ihnen zu trennen. 200 Jahre Prekariat des Berufskünstlertums als Modell für den Sozialabbau.
Alter Sitzungssaal des Vorstands. Gründerzeitprotz. Lerne endlich Dirk Schwarze kennen, dessen Artikel ich als Jugendlicher immer gelesen habe. Was für für ein nobler, interessanter Herr. Und wie wach, vorsichtig, kenntnisreich er durch den Abend führt … Guter Rotwein. Wo war der noch her? Herault …

Tot ist Susette Gontard.

Donnerstag, 21. Juni 2007 – Dreizehnuhrachtundvierzig, zweiundzwanzigkommaein Grad. Regen, Gewitter, Regen.

Wenn die Mädchen rote Schuhe tragen und sie sagen “Hallo boys”
Wenn die Schule viel zu lange dauert und die Herzen schlagen heiß
Wenn die Mädchen rote Schuhe tragen und der Westwind küsst ihr Haar
Wenn der Ventilator leise summt in der Acapulco-Bar
Dann ist der Sommer da
Dann ist der Sommer da
Und er bleibt das ganze Jahr
Funny van Dannen

Heute vor 17 Jahren starben bei einem Erdbeben im Iran 50.000 Menschen.

Mittwoch, 20. Juni 2007 – Neunuhreinunddreißig, fünfundzwanzigkommdrei Grad. Blau mit Wölkchen.

Heute Morgen schon vor Sonnenaufgang wieder am Schreibtisch, um mich auf die abendliche Veranstaltung zum Thema “Arbeiten als Künstler” vorzubereiten. Es ist halbfünf, und ich lese, gezwungenermaßen, in Paul Lafargues “Recht auf Faulheit” – vollkommen absurd.

“Dumm sein und Arbeit haben, das ist Glück.” – Gottfried Benn

“Wir leben in einem Zeitalter der Überarbeitung und der Unterbildung, in einem Zeitalter, in dem die Menschen so fleißig sind, dass sie verdummen.” – Oscar Wilde

Am 20. Juni 1945 stirbt in seinem Exil in Beverly Hills der Schrifsteller Bruno Frank.

Dienstag, 19. Juni 2007 – Achtuhrachtzehn, neunzehnkommavier. Immer mal wieder Regen.

Verdammt, wenn der Tag schon so beginnt … Da gab es drei Reflex von da Costa – quasi vor der Haustür und quasi geschenkt – und ich lasse mich mitten in der Nacht überbieten.

Vier Meldungen vom selben Tag:
– Neunzehnjährige in München erhängte sich offenbar selbst.
– Drama auf Intensivstation: 17-Jähriger will 76-jährigen Rentner töten.
– Polizei erschießt 19-jährigen Amokfahrer nach Verfolgungsjagd in Speyer.
– Deutsche Jugendliche besser als ihr Ruf.

Am 19. Juni 1953 wurden Ethel und Julius Rosenberg auf dem elektrischen Stuhl im Staatsgefängnis Sing Sing hingerichtet.

Montag, 18. Juni 2007 – Vieruhreinunddreißig, zwanzigkommanull. Noch dunkel, schon Vögel. Regnet’s?

Kleine mühsame Runde. Viel Sonntagsverkehr. Russen: plündern die Kirschbäume auf dem Lohrberg. Ich: helfe mit. Erdbeerfelder: abgeräumt. Klatschmohn: verblüht. Eichhörnchen: plattgefahren. Taube: zerfleddert. Hase: Augen ausgepickt.

An vier Tagen hintereinander ruft jedesmal ein anderer Mitarbeiter des T-Com-Callcenters an, um mir eine gute Nachricht zu überbringen, dass ich nämlich jetzt für noch weniger Geld den noch besseren Call & Surf Comfort Plus Tarif haben kann. Jedes Mal erkläre ich geduldig, dass ich im Moment keine Zeit habe, darüber nachzudenken, aber gerne am Ende des Sommers auf das Angebot zurückkommen werde. Sie wissen alles über mich, sie kennen meine Telefonnummer, sie wissen, wie ich heiße, sie kennen meine Adresse, sie haben meine Telefonrechnung vorliegen. Warum, um Himmels Willen, wissen sie dann nicht, dass sie selbst schon drei Mal hier angerufen haben?

Tot ist der Radrennfahrer André Leducq, der in den Jahren 1930 und 1932 die Tour de France gewann. Bei seinem zweiten Sieg erreichte er das Ziel mit 24:03 Minuten Vorsprung vor dem zweitplatzierten Kurt Stöpel.

Samstag, 16. Juni 2007 – Fünfuhrneunundfünfzig, fünfzehnkommasechs. Schön. Frisch.

Schwäbische Sparsamkeit: Der Besitzer einer Erdbeerplantage aus Donau-Ries ist untergetaucht. Er soll mehr als hundert rumänische Schwarzarbeiter als Erntehelfer eingesetzt und ihnen zum Teil Stundenlöhne von 1,20 Euro gezahlt haben. Aufgeflogen ist der Fall, weil einige der illegal Beschäftigten aus Hunger bei Anwohnern um Essen gebettelt hatten.

Die tägliche Arbeitszeit nähert sich der Sechzehnstundengrenze. Die Verwahrlosung nimmt zu.

Todestag von Nicholas Ray.

Freitag, 15. Juni 2007 – Fünfuhrdreißig, zwanzig Grad. Wolken.

Dummdumm des Tages: “Rosina Wachtmeister ist durch ihre lebensfrohen, ansteckend optimistischen und künstlerischen Arbeiten in aller Welt bekannt. Sie malt und zeichnet, sie erschafft Skulpturen, sie gestaltet, illustriert und schreibt Bücher. Goebel und Rosina Wachtmeister präsentieren in einer einzigartigen Interpretation ihrer Kunst die Serie: Rosinas Sternenwelt. Alle Sternzeichenkatzen mit echten Swarovski Steinen. Sie finden diese Serie in unserem Shop.”

Heute vor zwei Jahren starb der italienische Radrennfahrer Alessio Galletti. Während eines Rennens stieg er an einem Berg in der Nähe von Oviedo vom Rad, fiel um und war tot.

Donnerstag, 14. Juni 2007 – Fünfuhrdreiundzwanzig, neunzehnkommaacht. Regen in der Luft.

Bei ebay stand dieser Tage ein Reiterbild zum Verkauf, das angeblich von Max Liebermann stammt. In den ersten 24 Stunden wurden € 195 geboten. Dann sprang der Preis am 12.06.07 um 16:56:38 auf € 1.000.000.
Signiert ist das Bild nur auf der Rückseite. Und der Verkäufer gibt zu bedenken: “… könnte auch ein Signaturstempel sein!?” Kurz sorgte das Gebot im Forum des Auktionshauses für Aufregung. Dann waren gestern Nachmittag sowohl das Angebot als auch der Verkäufer verschwunden.

Zwölfter Todestag von Rory Gallagher.

Mittwoch, 13. Juni 2007 – Sechsuhrnullnull, siebzehnkommaacht. Grau. Wolken. Regenschwer.

“I am convinced there is only one way to eliminate these grave evils, namely through the establishment of a socialist economy, accompanied by an educational system which would be oriented toward social goals. In such an economy, the means of production are owned by society itself and are utilized in a planned fashion.”
Albert Einstein

Am 13. Juni 1913 starb in Aix-les-Bains der Schrifsteller, Journalist und Politiker Henri Rochefort, der heute vor allem wegen der Porträts bekannt ist, die Edouard Manet und Gustave Courbet von ihm gemalt haben. Rochefort spielte eine aktive Rolle in der Pariser Commune, wurde nach Neukaledonien deportiert, konnte fliehen, entwickelte sich später zum Nationalisten und Antisemiten und war einer der entschiedensten Gegner von Alfred Dreyfus. amazon.de meldet: “Die Suche nach ‘Henri Rochefort’ in Bücher erbrachte keine Treffer.”

Dienstag, 12. Juni 2007 – Fünfuhrsiebenundvierzig, einundzwanzigkommazwei. Himmel regenschwer.

Isst du noch oder kotzt du schon?
“IKEA bittet alle Kunden, die Gläser mit mariniertem Hering gekauft haben, die das Etikett IKEA FOOD tragen und mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum 13.02.2008 oder früher versehen sind, diese in ihr IKEA Einrichtungshaus zurückzubringen. Sie bekommen den Kaufpreis erstattet.”

Den Deutschen geht es endlich wieder besser. Wem also geht es dann jetzt schlechter? Ich will nicht, dass es mir besser geht. Ich will, dass es denen, denen es schlechter geht als mir, besser geht. Das würde mich beruhigen.

In der “Welt” ein Text über literarische Gruppen. Geschrieben hat ihn Burkhard Spinnen, der immer und überall mitreden, aber am Ende nie etwas gesagt haben will. Wenn man ihm wohlgesonnen ist, darf man ihn eine brillante Null nennen.

Dazu passend ein Wort von Karl Kraus, der heute Todestag hat:”Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen.”

Montag, 11. Juni 2007 – Fünfuhrsechsundfünfzig, neunzehnkommaein Grad. Grau.

Für den Film:
Raul und die Liebe zur Fußballstatistik.
Auf der Höhe von Kalbach: Blick übers Feld auf die Skyline. Davor die aufgerissene Senke mit den gähnenden Öffnungen dreier riesiger Rohre, die dennoch, auf diese Entfernung, winzig aussehen.
Auf der Eschersheimer Landstraße, stadtauswärts rechte Seite, rechts neben der Shell-Tankstalle: eine wunderbar bunte Wand. Sensationell, wie im Vorspann von Tarantinos Jackie Brown.
Ein Kopf, sonst nichts. Taucht unter, taucht nach viel zu langer Zeit wieder auf – jetzt sind die Haare nass.

Wenn es so würde wie in dem hinreißenden “Prinzessinnenbad”, wäre alles erreicht.

Tot sind John Wayne und Enrico Berlinguer.

Freitag, 8. Juni 2007 – Achtuhrfünfzehn, zweiundzwanzigkommasieben. Windstill. Blau.

Durch die Stadt. Sachsenhausen, Großer Hasenpfad, Südbahnhof, Mainufer, Schauspielhaus – Ich dachte, dieses widerliche, verachtenswerte, abgrundtiefhässliche Eurosymbol vor der EZB sei längst abgerissen.
Dann Römerberg, ein großer Freiluftfronleichnamsgottesdienst, verkleidete Katholiken, Fahnenträger, Ordensschwestern mit Camcordern, Taubstumme, ein Mädchen ohne Schneidezähne, im weißen Kleid, mit weißer Schleife im Haar, mit einem weißen Schuh, der linke Fuß ist verletzt und nackt, hüpft einbeinig über den Platz.

Abends noch eine versonnene Stunde im Park, auf der Wiese, auf dem Rücken, unter einer Platane, mit Wein. Tauben, Hubschrauber, ein Tai-Chi-Mädchen. Bis es dunkel wird.

Schon wieder so ein Anruf: “Sagen Sie, sind Sie der, der unter Pseudonym … Entschuldigen Sie die indiskrete Frage, aber gab es für den Anwalt ein Vorbild … welchen Garten haben Sie denn da gemeint … und das Hotel, gibt es das wirklich … in derselben Bibliothek hab ich fünf Jahre lang gearbeitet … warum wohnen Sie denn nicht in Sachsenhausen … werden Tereza und Marthaler denn irgendwann mal heiraten … wissen Sie eigentlich, dass jemand mit genau demselben Namen in unserer Straße … macht es Ihnen was aus, wenn ich Ihre Nummer einer Freundin weitergebe; die hat nämlich alle ihrer Bücher … Danke für das nette Gespräch.”

Guter Vorsatz: Ich will nicht mehr freundlich sein. Und endlich eine Geheimnummer beantragen.

Ernst Busch ist tot. Günter Amendt hat Geburtstag.

Donnerstag, 7. Juni 2007 – Siebenuhrsieben, zwanzigkommazwei Grad. Schön. Frisch.

Heute vor einem Jahr starb die Schauspielerin und Sängerin Eleonore Zetzsche.

Mittwoch, 6. Juni 2007 – Achtuhrsieben, siebbzehnkommasieben. Wird wieder schön.

Gestern Mail vom Verlag. Holger Weinert will am Abend ein Live-Interview für das hessenjournal zum “Fall Trixi”. Aber ich weiß nichts über den Fall Trixi und bin nicht in der Stadt, sondern …

… auf dem Main, auf der MS Franconia, dem 1. Seligenstädter Literaturschiff, wo ich zusammen mit Silke Scheuermann lese.

“Seligenstadt – Lustvoll Shoppen, Genussvoll Schlemmen”

“Vom Feinsten – Spezialitäten – Genießen + Schenken – ALLES MUSS RAUS”

“Strandgut – Schmuck & Meer”

“Madelaine Princessa-M – La Vie, La Mode”

Noch nie habe ich so viele Menschen auf so engem Raum so viel Eis essen sehen wie hier zwischen Mainufer und Freihofplatz.

Das Boot ist voll, vierhundertfünfzig Leute, alles nett, alles gut. Am Ende vollkommen perforiert. Die Kraft lässt nach. Und das Gehör auch.

Tot ist William Clark Quantrill, Anführer der Quantrill’s Raiders – The bloodiest man in American history.

Dienstag, 5. Juni 2007 – Sechsuhrsiebenundzwanzig, achtzehnkommanull Grad.

Die Kulturzeit-Sendung aus Heiligendamm – ein Eiertanz der Anstaltsinsassen. Wie man so gründlich den Zugang zu diesem Thema verpatzen kann. Die falschen Fragen, die falschen Bilder, der falsche Ton. Immer vor Ort und immer daneben.

Quote of the day: “Als Krimiautor müsstest du mal ‘ne Weile zu mir in die Allerheiligenstraße ziehen. Wenn ich an all die Selbstmorde in meinem Haus denke … Ist halt ‘ne unheimlich lebendige Gegend.”

Tot ist William Sydney Porter, Verkäufer, Cowboy, Bankangestellter, Apothekengehilfe, Gefängnisinsasse und unter dem Namen O.Henry als Schriftsteller bekannt.

Montag, 4. Juni 2007 – Achtuhrneunzehn, achtzehnkommavier. Blau.

Freitag ab nachmittags im Verlag, Autorenstiftung, dann lange über die Zukunft der Filmautoren AG. Am Ende eine kleine Eruption.

Samstag Literaturhaus, Gesellschafterversammlung. Demokratie macht halt doch Spaß. Guter Tag. Dann mit Nina und Rainer über den FILM – beide sind dabei. Freude. Wie oft werde ich das jetzt alles noch erzählen müssen?
Abends Preisverleihung an Harald Bergmann für “Brinkmanns Zorn”. Guter Typ. Und Jochen hält eine Laudatio, die so angemessen, so unprätentiös, so gerecht und erhellend ist, dass sie einen kleinen Glücksschub auslöst. Später mit Eckhard Rohde und seiner Schwester, mit Kerstin Specht und lange mit Kristof Magnusson. Viel Wein. Spät heim.

Sonntag kleine Runde. Auf dem Frankfurter Berg kommt mir Ralf entgegen – mit salzigem Gesicht.

Auf der Bank am Petterweiler Friedhof. Klack, klack, klack, klack, klack. Unsichtbar das Geräusch sich nähernder Absätze auf dem Asphalt. Ein kleiner, weißer Hund kreuzt das Bild. Dann eine junge Frau, untersetzt, straff, frisch, blaues Kostüm. Wendet mir im Gehen kurz den Blick zu, “Hallo”, und – klack, klack, klack, entfernt sich wieder.

Abends Film über den jungen Geiger Sokolov – unerträglich eitel. So jemand kann ein Virtuose werden; Kunst entsteht so nicht.

Erste Reaktion nach den Auseinandersetzungen in Rostock: Manchmal tut es eben weh. Nur Lichterketten und Brot für die Welt werden die Not nicht wenden. Aber gleichzeitig gilt auch Degenhardts: “Lasst nicht die roten Hähne flattern, ehe der Habicht schreit”.

Weil ich mit der Verlinkung dieser Trouvaille keinesfalls bis zu seinem Todestag warten kann, ist Heiner Müller schon heute mal tot.

Freitag, 1. Juni 2007 – Vieruhrvierundfünfzig, vierzehnkommaneun. Dämmerig, Vögel.

Den ganzen Tag geht mir wieder die Helga-Matura-Geschichte im Kopf rum. Aber es gibt nichts über sie im Netz, fast nichts. Nur immer wieder dieses Bild, das Gerhard Richter gemalt hat: Die Matura mit ihrem Verlobten – Rainer Gutherz, hieß der. Wahrscheinlich nach einem Foto gemalt. Wo sind denn die alten gebundenen Stern-Hefte von 1966, die ich irgendwann mal für viel Geld gekauft habe, wo die Geschichten über sie drin waren, über den Mord? Wahrscheinlich im Keller. Und wo ist Peter Kupers Hamlet? Jetzt geht das Gesuche wieder los. Das kann doch nicht wahr sein. Wie oft hab ich das Buch jetzt eigentlich gekauft? Und erst jetzt kommt mir in den Sinn, dass der Kuper natürlich dabei sein muss in unserem Film. Also fang ich an zu schauen, ob ich was rausfinde – Adresse, Telefonnummer … Nee. Selbst die Umkreis-Suche bringt nichts. Einmal Kuper in Gelnhausen, das ist alles. Aber es gibt ja diesen taz-Blog von Jörg Schröder und Barbara Kalender. Ah, tatsächlich, die haben auch eine Kommentar-Maske. Also frage ich: Lebt der Kuper noch? Wo? Adresse? Wäre nett, vielen Dank … Kurz darauf kommt eine Mail. Ja, der lebt immer noch in Frankfurt. Nicht weit von mir. Mit Telefonnummer. Und dann finde ich auch seinen Hamlet und lese darin, bis ich einschlafe. Und jetzt schon wieder seit zwei Uhr …

Vierundzwanzigster Todestag von Anna Seghers.