Geisterbahn

Dienstag, 29. Juli 2008 – Dreizehnuhrzwanzig, sechsundzwanzigkommaneun. Alles nass. Zieht sich zu. Windig.

Am Sonntag zum ersten Mal die 200-Kilometer-Marke geknackt:

Kahl am Main – Hörstein – Rückersbach – Oberafferbach – Johannesberg – Breunsberg – Wenighösbach – Hösbach – Bahnhof – Waldaschaff – Rothenbuch – Bischbornerhof – Neuhütten – Krommenthal – Partenstein – Lohr – Rodenbach – Neustadt – Rothenfels – Hafenlohr – Windheim – Lichtenau – Rohrbrunn – Krausenbach – Hundsrück – Wildensee – Eschau – Schippach – Elsenfeld – Obernburg – Wirtschaftsweg parallel zum langen Handtuch – Großostheim – Schafheim – Babenhausen – Dudenhofen – Jügesheim – Hainhausen – Rembrücken – Heusenstamm – Offenbach – Goetheturm – Frankfurt.

Am Abend erschöpft, wund, glücklich. 213 Kilometer. Danke, Eule!

Heute vor einem Jahr ist Michel Serrault gestorben. 
 


Samstag, 26. Juli 2008 – Zwölfuhrdreiunddreißig, einunddreißigkommazwei Grad. Stechend. Weißblau.

Wieder zurück.

Und gleich ein solcher Krampf: Gestern ruft mich Jürgen an, dass ich am Abend ja wohl erst noch meine Lesung hinter mich bringen müsse, bevor wir gemeinsam den Geburtstag von S. feiern können. – Wie, welche Lesung? Ich habe heute keine Lesung! erwidere ich. – Aber ja, sagt Jürgen, in der Rundschau sei es doch groß angekündigt mit Bild und Extratext: “Krimi-Leseecke in der ‘schönsten Kirche der Stadt’ – Hauptkommissar Marthaler ermittelt! Matthias Altenburg (Jan Seghers) in der Alten Nikolaikirche.” – Nein, sage ich, da müsse ein Irrtum vorliegen. – Was es denn da misszuverstehen gebe, fragt Jürgen.  
Einen Moment lang wird mir heiß und kalt, weil ich befürchte, tatsächliche einen Termin verschwitzt zu haben. Also rufe ich unter der angegebenen Telefonnummer der Kirchengemeinde an. Kaum habe ich meinen Namen gesagt, erklingt am anderen Ende das schuldbewusst-nervöse Kichern eines Herrn Dingsbums. – Was denn da passiert sei, will ich wissen. – Ja, man richte in der Sommerzeit hier im Gotteshaus so kleine Leseecken ein, da würden dann die Bücher eines Autors zum Schmökern für die Besucher bereit stehen. – Aber, sage ich, jetzt ist Ihre kleine Leseecke groß in der Rundschau angekündigt und alle denken, ich würde am Abend dort lesen. – Tja, sagt Herr Dingsbums, den Text habe Herr Soundso formuliert, welchen man vor seinem Abflug in die Rocky Mountains noch darauf hingewiesen habe, dass seine Zeilen durchaus falsch verstanden werden könnten. Herr Soundso habe allerdings mit Bedacht einen solchen Lockvogeltext schreiben wollen, um ein paar mehr Leute in die Kirche zu bekommen. –Also keine Lesung? frage ich. – Nein, keine Lesung! sagt Herr Dingsbums. 
Ich bin erleichtert, mich nicht getäuscht zu haben, bleibe freundlich, lege auf. 
Die Wut kriecht langsam heran … Was fällt denen ein, meinen Namen so zu missbrauchen, mein Publikum zu verprellen, die Presse an der Nase herumzuführen? Alles auf meine Kosten! Ich taumle … Eigentlich bodenlos! Widerlich! Schamlos! … Rocky Mountains, pah! … Komme mir benutzt und beschmutzt vor. Aber solche Sachen nehmen zu … ich merke es … dauernd  zerrt irgendwer … ob ich nicht hierhin und dorthin, einfach auf ein Gläschen, ein Häppchen … man beruft sich auf alte Freundschaften … die Übernachtung werde auch bezahlt … man will mich abkochen … hier ein Foto, da ein kleiner Text, nur ein paar Worte, schnelles Statement, ein kleines Zitat, man lege schließlich Wert auf mein Urteil … verlogenes Pack … ja, natürlich, immer soll man Sonderpreise … die Katholiken zahlen wenigstens ordentlich … Aber bald werde ich dicht machen, kein Telefon mehr, keine Mails, keine Post, nicht mehr an die Tür gehen, wenn es klingelt, Rolläden runter … nirgends mehr hingehen … Stattdessen untertauchen, ich weiß nicht, wohin, nach Paris vielleicht oder irgendwo in den Spessart, irgend so ein billiges, heruntergekommenes Landschlößchen, Wasser aus dem Brunnen, … kein Namensschild an dem zerfallnen Törchen … nur das MacBook dabei, sonst nichts … weg!   
Am Abend dann, auf der Geburtstagsfeier von S. sitzt schräg gegenüber eine Frau; wir kennen uns vom Sehen. Sie habe, sagt sie, gerade einen Anruf ihrer Schwester erhalten, die von Hanau nach Frankfurt gefahren sei, um eine Lesung mit mir in der Alten Nikolaikirche zu besuchen und die nun, da sie gehört habe, ich würde stattdessen hier feiern, doch ziemlich erbost sei – wie die anderen, die dort jetzt vor der Tür …

Verdammt, ich will zurück in den Urlaub!

Todestag hat die Schriftstellerin Jutta Hecker. (Zuletzt von ihr erschienen: “Altenburg: Die Geschichte eines Hauses”).