Geisterbahn

 

Dienstag, 30. September 2008 –Siebenuhrachtundzwanzig, siebenkommaacht. Schlierig der Himmel, rötlich. 

Nicht vergessen werden soll auch die herzzerreißend komische Szene aus Klapischs “Paris”-Film – als der alternde Geschichtsprofessor vor seiner Studentin zu Wilson Pickett’s “Land of a Thousand Dances” tanzt. (Auch merken: Die Tanzszene aus “Der Mann der Friseuse”).

Ein paar Fragen habe sie da schon noch, sagt die Dame nach der Lesung. Erst als hinter ihr die Schlange jener, die einen Namenszug des Autors wünschen, zu lang wird, entschuldigt sie sich: “Ich will hier nicht die ganzen Leute aufhalten.” – “Wollen Sie eben doch, Frau Wichtig!”, sagt ein paar Meter weiter ein Mann, der ebenfalls um eine Signatur ansteht. Um ihn herum erstaunte Blicke. Er bleibt gelassen: “Glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage, ich war mit dieser Dame lange genug verheiratet.”

Mit Jürgen auf die A661, über die Saalburg nach Usingen. Eine Baracke im Hinterhof. Und das soll jetzt die berühmte Firma Bike-Colours sein? Ein Betrieb, der Fahrradrahmen mittels Pulverbeschichtung lackiert und der in der gesamten Republik empfohlen wird? Der Inhaber ist ein stiller, freundlicher Typ. Und eigentlich weiß man auf Anhieb, dass man hier nichts falsch machen kann.
Dann aber doch noch über die A5 und Ludwig-Landmann-Straße zurück nach Praunheim, wo Lacky-Lack seine Werkstatt hat. Klar, sagt der Chef, Fahrradrahmen sind zwar nicht mein Alltagsgeschäft, aber wir Lackierer stecken alles in den Ofen, was reinpasst.

Aus dem Verlag kommt ein Paket mit den Neuübersetzungen der Sjöwall/Wahlöö-Krimis – zehn Bände. Jubele innerlich, bin gespannt …

Lektüre: Peter Robinsons “Blood at the Root”. 

Heute vor 42 Jahren starb 34-jährig die Schauspielerin Sabine Thalbach.

 

Donnerstag, 25. September 2008 –Elfuhrsechzehn, dreizehnkommadrei. Bedeckt. Die Autobahn macht ihre Sachen.

Aus dem Mitteilungsblatt des Bundesverbandes der Industrie: “… das kapitalistische System, diese komplexe, großartige, freiheitsverbürgende Errungenschaft der Menschheitsgeschichte …”

Aus dem Goldenen Blatt: “Die Frage nach dem Wunder des Königtums ist fast so tiefsinnig und unausdeutbar wie die Frage nach Gott.”

Nein, beide Zitate stammen aus dem als “liberal” geltenden Feuilleton der Süddeutschen Zeitung – das erste (von Gustav Seibt) aus der Ausgabe vom Dienstag, das zweite (von Ijoma Mangold) aus der heutigen. Nein, man muss ihnen nicht befehlen, was sie zu schreiben haben, sie sind längst – wie Piwitt sagen würde – zu ihren “eigenen Hintermännern” geworden.  

Tot ist die afghanische Lehrerin und Frauenrechtlerin Safia Hama Dschan. Heute vor zwei Jahren wurde sie in Kandahar mit vier Schüssen in den Kopf getötet. Augenzeugen haben berichtet, dass drei Minuten lang ununterbrochen auf das Auto der Frau geschossen wurde. Die beiden Täter, die auf ihr Opfer gewartet hatten, konnten auf einem Motorrad entkommen. 

 

Montag, 22. September 2008 –Fünfuhrfünfunddreißig, neunkommasechs Grad. Dunkel.

Noch ein Film von Christopher Nupen: “Who was Jacqueline du Pré?”. Die Cellistin war hinreißend, spontan, fröhlich und – wie man hört – auf ihrem Instrument genial. Niemand, der etwas anderes sagte. Dass sie offensichtlich auch so umwerfend arglos war, lässt die Männer, die sie umkreisten – Pinchas Zukerman, Itzhak Perlman, Zubin Mehta und allen voran Daniel Barenboim – wie Vampire wirken. Nicht anders als uns, die wir mit offenem Mund und flackerndem Blick noch gebannt auf ihr Filmbild starren. Und ausgesaugt hatte die Welt sie am Ende ja auch wirklich, als sie 1987 nach vierzehn Jahren Krankheit an multipler Sklerose starb.

Samstag doch noch erstaunlich sonnig. Schnelles Ründchen durch die Wetterau. Abends zur Hauptwache: Cédric Klapischs “So ist Paris”. Spielt zum Teil in der Nähe der Place Nadaud, derselbe Blick auf die Stadt, den wir immer von unserem Hotel haben. Was für ein wunderbar ernster, komischer, unangestrengter Film. Die Figuren begegnen sich, tun dies oder das mit einander – oder eben auch nicht – und gehen wieder ihrer Wege. Nichts wird erklärt, nicht muss begründet werden. So ist das Leben. Lässig. Traurig. Schön. Sollte es in Deutschland einen Produzenten geben, der hier gerne einmal einen ähnlichen Film drehen möchte – er soll sich melden, das Drehbuch dafür gibt es schon: Es heißt “Tage und Nächte”.

Gestern morgen in den Rheingau zum Literaturfestival. Wir sind zu früh, also schnell noch einen Abstecher nach Winkel, wo die Günderrode an der Mauer des Kirchhofs begraben liegt. Knips, knips, knips. Dann nach Hattenheim ins schöne alte Weingut der Familie Ress: Boehnke, Naomi, Matthias, Marie-Fee … Wir tun unsere Arbeit, mit Spaß, das Publikum ist freundlich, später noch ein halbes Stündchen in den Garten – sonntäglich, versonnen, sonnig.

P., wie ein müdes Kälbchen, gähnt, streckt sich, schläft auf der Rückbank des Autos ein.  

Um 15 Uhr sind wir zurück, schnell in die Radklamotten und die Runde vom Vortag  wiederholt.

Mihail Sebastians Tagebücher 1935-1944 sind gekommen. Der Antrieb des Mountain Bike ist wiederhergestellt. Race King und Latexschläche sind bestellt. Pinarello-Sticker sind bestellt. Plattformpedale bestellt. Neue, gebrauchte Laufräder bestellt …

A: Bitte, tu mir einen Gefallen, lies Mankells “Chinesen” nicht!
B: Aber wieso denn, ich denke, du magst das Buch?
A: Naja. 
B: Was nun?
A: Aber du wirst es jedenfalls hassen. Und dich fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe, überhaupt ein gutes Haar an diesem Roman zu lassen.
B: So schlimm?
A: (nickt)
B: Trotzdem ist irgendwas dran …?
A: (nickt wieder)

Heute vor einem Jahr ist Marcel Marceau gestorben.

 


Donnerstag, 18. September 2008 –Elfuhrvier, elfkommanull. Bedeckt. 

M: “Langsam beginne ich, mich an die eigene Niedertracht zu gewöhnen.”

Maschinenwelt: C. erzählt, dass bei den gerade zu Ende gegangenen Paralympics ein Läufer, dessen eines Bein amputiert wurde, dagegen protestiert habe, in der gleichen Klasse starten zu müssen wie ein doppelseitig amputierter Konkurrent: Dieser sei mit seinen beiden Prothesen klar im Vorteil.

Die Parteigänger der Wahrheit können irren, können lügen und zu Verbrechern werden. Die Wahrheit selbst ist nicht zu diskreditieren.

Die Kritiker tun das Erwartbare, sie halten Mankell seine zahllosen Fehler vor und verreißen nahezu unisono den “Chinesen”. Wie kommt’s nur, dass man das Buch trotzdem gerne liest. Vielleicht, weil Mankell – wie ungelenk und schematisch auch immer – interessante Geschichten von interessanten, manchmal ganz und gar durchschnittlichen Menschen erzählt. Man merkt eben, dass er sich selbst für beide interessiert – für die Geschichten und für seine Figuren. Und er steht bei einer Welt im Wort, die er sich besser vorstellen kann als sie ist. Über welchen der momentan schreibenden Kollegen kann man das schon sagen?

Jimi Hendrix ist tot. 

 

Montag, 15. September 2008 –Elfuhrachtzehn, zehnkommaacht. Bedeckt. Seit drei Uhr wach. Da waren es knapp über fünf Grad. Zum ersten Mal Heizung.

Freitag gegen 15 Uhr auf die Autobahn. Prasselnder Dauerregen. Bei Würzburg Stau, fast anderthalb Stunden Stillstand. Abends in Konradsreuth, eine portugiesische Pension, großes Treffen, alle da, schön. Müde, Bett, noch ein paar Seiten in Mankells “Chinesen”, bis die Augen zufallen, und um halbsechs gleich weiter. 
Aufstehen, Brötchen holen, die aber Semmeln heißen und nicht mal halb so viel kosten wie in Frankfurt. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Ins Auto, um kurz nach Bayreuth zu fahren, aber was ist los, der Wagen muckt, stottert, zieht nicht. Motorhaube auf, zwei Zündkabel sind zerrissen. Nein, zerbissen, sagt der Mechaniker, der eine Stunde später kommt, vom Marder, das erleben wir hier jeden Tag, hundertzwanzig Euro. Man solle, rät er, zur Abwehr ein Büschel Roßhaar in einen Damenstrumpf packen und das Ganze auf den Motorblock legen.
Für Bayreuth ist es zu spät, also nach Hof, der Kältepunkt der Republik, bißchen durch die Stadt, durch die Sonne. Die Männer sind tätowiert, haben Ringe in den Ohren, ziemlich prollig, viele leere Häuser, leere Läden. An einer Pizzeria eine Gedenktafel: “Hier wohnte seit 1925 Ewald Klein, geb. 24.2.1899 in Marxgrün, gest. 25.5.1942 in Dachau als Opfer seiner politischen Überzeugung”. An diesem kurzen Text stimmen wohl nur die Daten. Wenn so verschämt von “politischer Überzeugung” gesprochen wird, kann es sich bei Ewald Klein nur um einen Kommunisten gehandelt haben. Und sicher ist er nicht das Opfer seiner Überzeugung geworden, sondern der Nazis. Und gestorben wird er wohl kaum sein; er ist gewiss, sonst gäbe es diese Tafel nicht, in Dachau ermordet worden. “Selbst Schuld”, sagt die Tafel. Erinnerungsvermeidungsgedenken, wie sonst soll man das nennen.
Dann die Hochzeit in der Baptistenkirche. Ein Auftrieb junger Menschen, wieder viele Ringe in den Männerohren, Westen, Bärte, lange Haare, gerne zottelig. Seltsam closed, eine ganz und gar geschlossene Kultur. Ein junger Mann, Laienprediger, redet lange, sagt häufig “ich” und sonst nichts, lächelt dafür oft und feucht. Unheimlich, fast hochmütig, diese gedankenfreie Heilsgewißheit. Und fast schon diabolisch die zur Schau getragene Harmlosigkeit. “Und jetzt seid ganz arch gesechnet!” Himmel, hilf!
Wieder auf die Autobahn, und nun doch noch schnell den Abstecher nach Bayreuth, einmal das Festspielhaus umrundet, fotografiert, die Wagnerbüste im Park. Außer uns ist niemand da, noch nicht einmal ein paar Japaner, aber dann kommt ein tätowiertes Paar und führt an der Leine: tatsächlich einen deutschen Schäferhund. 
Bloß weg hier …

Und zur Begrüßung in Frankfurt noch von der Autobahn aus die Lichter des Riesenrades auf der Dippemess.

Sonntag zum Kulturtag in den HR. Vor dem Glasfoyer taucht Thea Dorn auf mit ihrem netten Vater. Sie erzählt, dass sie eigentlich Wagner-Sängerin habe werden wollen, aber keine Stirnhöhle habe … Und: dass sie für Arte einen Film drehen wolle, ob ich Lust hätte, mitzumachen. Gemeinsam mit ihr, Cohn-Bendit und Sloterdijk soll ich mit dem Rad auf den Mont Ventoux fahren. Gott, was für eine irrwitzige Vorstellung … Aber verlockend. Dann auf die Bühne, halbe Stunde über Krimis, Radfahren undsoweiter. Und um 14 Uhr das Ganze noch mal … Schwer k.o. 

Bloß froh, dass mir Jörg Müsse den neuen Mankell noch mal ans Herz gelegt hat. Sonst hätte ich mich von der politisch motivierten Kritik in der SZ wirklich abhalten lassen, ihn zu lesen. 

Vor fünf Jahren starb in Paris Sergio Ortega. Venceremos!


Dienstag, 9. September 2008
 – Vieruhrvierunddreißig, zehnkommaacht. Schon wieder seit gut einer Stunde wach. 

Gestern morgen um kurz vor acht zum Nibelungenplatz und vor dem Lädchen auf Gipetto gewartet. Mit den Mountainbikes quer durch die Stadt, Ginnheim, Römerstadt, Niederursel, Oberursel. Und dann der Aufstieg auf den Altkönig. Der Berg hängt in den Wolken, unten glitzert die Ebene in der Sonne. Alles ein bißchen nazi hier oben, jedenfalls schwer deutsch-romantisch, wagnerisch, grimmisch. Auf dieser Anhöhe hat sich vor bald zehn Jahren Uwe Gruhle in den Schnee gesetzt, hat sich die Schuhe ausgezogen, Schnaps getrunken, Schlaftabletten genommen und auf das Ende gewartet. 
Und was machen wir hier? Gipetto hat auf einer seiner Touren die toten Wurzeln zweier Eichen entdeckt, die wir nun unbedingt auf den Gepäckträgern nach unten transportieren müssen, wobei uns die jungen Mütter auf den Bügersteigen mit geblähten Nüstern ansehen, als hätten wir … Was? Als hätten wir tote Wurzeln auf den Gepäckträgern. 

Am Nachmittag, beim Versuch, die schon angemahnte Umsatzsteuervoranmeldung auf den Weg zu bringen, schieße ich mein Windows ab, das mir Ati auf den Mac gespielt hatte … Jetzt muss ich ihn wieder aufscheuchen, behelligen, alarmieren …  

Man könnte ins Grübeln kommen über die beiden Meldungen, heute Morgen auf dem Titelblatt der “Süddeutschen Zeitung”:

“Überraschende Zustimmung für den designierten SPD-Chef – Wirtschaft setzt auf Müntefering”

“Weltweiter Kurssprung an den Börsen – Die Anleger haben erleichtert reagiert auf die Verstaatlichung der US-Hypothekenbanken ….”

Tot ist Jacques Lacan. Gesagt haben soll er diesen schönen Satz: “Das Ich ist die Geisteskrankheit der westlichen Welt”. 

Und gerade sehe ich, heute hätte Cesare Pavese hundertsten Geburtstag. Gleich in den Keller und die schöne Volk-und-Welt-Ausgabe seiner Tagebücher geholt: “Das Handwerk des Lebens”.