Geisterbahn

Dienstag, 30. Dezember 2008 – Zehnuhrvierunddreißig, minus vierkommaeins. Sonnig. 

Heinrich Pommerenke, der am längsten einsitzende deutsche Häftling, ist im Gefängniskrankenhaus der Festung Hohenasperg nach 49 Jahren Haft gestorben. Der frühere baden-württembergische Justizminister Thomas Schäuble hatte seine Entlassung verhindert. In Hornberg, wo Pommerenke im Hotel “Bären” als Tellerwäscher arbeitete, hatte der mehrfache Mörder vor seiner Verhaftung im Jahr 1959 mit den Schäuble-Brüdern Fußball gespielt. 

In Südchina ist ein Fahrradfahrer ums Leben gekommen, weil er von einem Mann erschlagen wurde, der sich aus dem 35. Stockwerk eines Hochhauses gestürzt hat, wo er zuvor 12 Stunden auf dem Balkon gestanden hatte.  

Todestag von Sonny Liston und Heiner Müller. 
Montag, 29. Dezember 2008 – Dreizehnuhrvierzehn, nullkommadrei Grad. Heute morgen waren es minus sechskommafünf. Jetzt sonnig. Gut geschlafen.

Gestern kalte, strahlende, windige Runde mit dem Mountainbike an der Nidda entlang bis irgendwo hinter Karben. Zurück über Alt-Dortelweil, Dottenfelder Hof, Gronau, Rendel, Niederdorfelden, Hohe Straße. Gepeitscht. Drei Stunden unterwegs. Die Füße krampfen. Windhunde in Wintermänteln. Viele Läufer, Walker, Spaziergänger, Krähen, Raben, vereiste Pfützen, braune Blätter, vermooste Stämme.

Abends die Offenbarung: “Place de la République” aus der amerikanischen DVD-Edition “The Documentaries of Louis Malle”. Die französische Fassung mit englischen Untertiteln. Was für ein Film! Von der ersten Minute an ein Vergnügen. Malle hat sich ein paar Tage lang mit einem kleinen Team an die Place de la République gestellt, Leute gefilmt und sie reden lassen. Über ihre Herkunft, ihr Glück und Unglück, ihre Krankheiten und Hoffnungen. Sie lachen, grübeln, zögern, kokettieren, entziehen sich und kommen wieder zurück, um doch noch etwas zu sagen. Eine Comédie Humaine in 95 Minuten, für die man die Spielfilmproduktion eines ganzen Jahrzehnts getrost auf der Rolle lassen kann.  

Damit es nicht verloren geht: Zwei Rindersteaks in sehr kleine Streifen schneiden, scharf anbraten. Kurz bevor das Fleisch gar ist, zerdrückten Knoblauch dazu. Beiseite stellen. Zwei rote Zwiebeln halbieren und in feine Halbringe schneiden, eine Handvoll Zuckerschoten in Streifen schneiden, zwei bis drei Lauchzwiebeln in Streifen schneiden, einen oder zwei Chicorée entstrunken und in Streifen schneiden, von einer frischen roten oder grünen Chilischote sehr feine Ringe schneiden (Menge nach Belieben). Alles mit dem Fleisch vermischen und würzen mit: Fischsauce, Grapefruitsaft, Limettensaft, Teriyaki und eventuell einem milden Chutney oder Orangenmarmelade. Nochmals vermischen, kalt stellen, durchziehen lassen. Vor dem Servieren eine Handvoll Sprossen zum Salat geben und unterheben. Auf vier Teller verteilen und jede Portion mit ein paar leicht zerstoßenen Cashews und etwas zerkleinerter Minze bestreuen. 

Dazu vielleicht einen Faugères Extremus des Jahrgangs 2005 von Les vignerons les crus Faugères?
 
Heute vor zwölf Jahren starb Daniel Mayer, eines der führenden Mitglieder der Résistance. 
Sonntag, 28. Dezember 2008 – Achtuhrneunzehn, minus dreikommafünf. Fast hell. Wach seit fünf. 

Vorgestern zwei Mal mit dem Rad draußen. Abends Konzert in St. Katharinen mit Martin Lücker (Orgel) und Simon Gruppe (Trompete), danach im zweiten Anlauf “All the President’s Men”. Gestern Gotan Project, dann Kleibers Aufnahme von Beethovens Sechster, sehr liedhaft, dann den Tour-de-France-Film von Louis Malle und noch seine lange Dokumentation über das Citroen-Werk. Und weiter in Broken Shore. 

Im neuen “konkret” sprechen Gremliza und Svenna Triebler mit Karl-Heinz Dellwo, der auf die Frage “Warum will Christian Klar, warum wollen Sie sich nicht entschuldigen?” antwortet: “Weil der bewaffnete Kampf auch eine plausible Antwort in der Nachkriegsgesellschaft war.” War er? Weist nicht alles (zumal die Biografien der RAF-Leute) darauf hin, dass diese Einschätzung von Anfang an so dumm wie hybrisch war und einen nicht unmaßgeblichen Anteil am Niedergang der westdeutschen Linken hatte? Aber “konkret”, statt nachzufragen, setzt den Satz aufs Titelblatt.   

Neujahrsvorsätze eines Todgeweihten: 1. Wieder mit dem Rauchen anfangen. 2. Viel Alkohol trinken. 3. Das Konto bis an die Grenze überziehen und alles Geld ausgeben.

Tot ist der Hotelier, Waschsalonbetreiber und Sänger Rudi Schuricke. 

 

Freitag, 26. Dezember 2008 –Sechsuhrvierundvierzig, minus zweikommaeins. Dunkel. 

Nach dieser Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten hätte man Lust, eine Demonstration zu organisieren, vor seinen Amtssitz zu ziehen und ihn kollektiv auszulachen. 

Gestern Schlenker mit dem Wagen über Steinwand, Kleinsassen nach Danzwiesen an der Milseburg, dabei die dreißig Jahre alte Tonkassette mit einem Farantouri-Konzert und den Brecht-Liedern von Sylvia Anders wieder gehört – seit dreißig Jahren zum ersten Mal.  

Die Deutsche Polizeigewerkschaft fordert nach dem Attentat auf den Passauer Polizeichef von Bund und Ländern 500 Kriminalbeamte, die sich mit der Jagd auf Exremisten im Internet beschäftigen – denn die bestehenden Staatsschutzbeamten in den Polizeibehörden könnten “nicht auch noch im Internet ermitteln”. Aber wo denn dann? fragt man sich. Was tun die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und der Staatsschutzabteilungen denn überhaupt, wenn nicht dort ermitteln, wo die Kommunikation der Welt inzwischen stattfindet? Der Verfassungsschutz geht von 200 gewaltbereiten sogenannten “Autonomen Nationalisten” aus. Es gibt 16 Landesämter für Verfassungschutz mit tausenden Mitarbeitern, es gibt das Bundesamt für Verfassungsschutz mit 2500 Mitarbeitern. Und es gibt die Staatsschutzabteilungen der Kriminalpolizei. Da wird man doch ein paar Leute abstellen können, die in der Lage sind, die Handvoll Foren im Netz zu überwachen, in denen die rechte Klientel ihre Gesinnung verbreitet und zu Straftaten aufruft. Ein kursorischer Blick über die Leserkommentare des rechtsradikalen Störtebeker-Netzes bringt so viele justitiable Äußerungen zutage, dass es weiterer Ermittlungen gar nicht bedürfte, um hier strafverfolgend einzugreifen. 

Todestag des großen Hubbuch. Und immer noch nicht in Schloss Gochsheim im Kraichtal gewesen, um dort mal seine Sachen anzuschauen. 

Sonntag, 21. Dezember 2008 – Fünfuhrachtundzwanzig, sechskommanull. 

Peter “Hamlet” Kuper ist tot. Dieser Tage rief Werner Ost an und erzählte , dass Kuper bereits vor drei Wochen gestorben sei. Christian scheint es auch nicht gewußt zu haben … Am Krebs, in einem Darmstädter Krankenhaus, mit 71 Jahren … 
Von einem Freund gebeten, sich mit mir über seine Beziehung zu Helga Matura zu unterhalten – in den Ermittlungsakten nach ihrer Ermordung wurde er immerhin als Spur Nummer 1 geführt – soll er gesagt haben: “Wenn über eine olle Sache mal endlich Gras jewachsen ist, kommt sicher so’n Kamel jeloofen, das alles wieder runterfrisst.” 
Und wo ist er beerdigt worden? 

Seit Tagen, seit dem Attentat von Passau immer wieder auf den Seiten und in den Foren der autonomen Nazis unterwegs, wo man schneller als durch die Agenturen darüber informiert wird, was die Polizei gerade tut. Die Mischung aus dreister Offenheit und verschlagener Vorsicht, mit der diese Leute ihre Gesinnung hier dartun, bringt einen eigenen, ganz und gar diabolischen Ton hervor. Der Vorsitzende der rechtsextremen DVU wird beispielsweise als “Bücherjude” bezeichnet … 

Gestern mit Elsa und Jörg auf dem Ruppertshainer Berg, Blaufichten schlagen. Seltsame Stimmung hier oben in den wolkenverhangenen Wäldern des Taunus, nass, neblig, schrundige Schneereste, das Wasser tropft von den Nadeln der Bäume, alles braun, grün, grau, schwarz. 

Abends dann bei Atilla letzte Fummeleien an den Aufnahmen und am Booklet von “Ein kleiner Abend Glück”. Und jetzt? Sind wir glücklich? Fertig? Scheint so, oder! 

Und … wie weiter? Suchen wir uns ein neues Glück?

Lektüre: Peter Temples “The Broken Shore”. Die Stimmung erinnert stark an McCarthys frühe Bücher, das Land, die Wiesen, die Hunde, die Pfützen. Allerdings wirkt der allzu eifrige Einsatz des Gapping auch gleich wieder maniriert. 

“Sachen schreibst du hier manchmal …”

Lion Feuchtwanger ist seit 50 Jahren tot. 
 

Mittwoch, 17. Dezember 2008 –Vierzehnuhrsieben, zweikommanull. Grau.

Am Grab eines Massenmörders – Bei den Recherchen zur “Partitur” war ich auf den Namen Horst Schumann gestoßen. Vor ein paar Tagen hatte ich das städtische Grünflächenamt um Auskunft über die Lage von Schumanns Grab gebeten. Heute Morgen kam die Antwort: Er wurde auf dem Bornheimer Friedhof beerdigt, keine 600 Meter Luftlinie von unserem Haus entfernt. 
Schuman, 1906 in Halle als Sohn eines Arztes geboren, trat 1930 in die NSDAP ein. Nach seinem Medizinstudium war er Gutachter des Erbgesundheitsgerichtes in Halle und wirkte an Zwangssterilisierungen nach dem “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” mit. Anfang 1940 leitete er die Vergasung von 1.239 körperlich und geistig Behinderten in der Tötungsanstalt Grafeneck, wurde dann nach Sonnenstein/Pirna versetzt, wo er für den Mord an 13.720 Patienten und über 1.000 Häftlingen verantwortlich war. Er selektierte in Auschwitz, Buchenwald, Flossenbürg, Groß-Rosen, Mauthausen, Neuengamme und Niederhagen. In Auschwitz führte er Versuche zur “kostengünstigen und zeitsparenden” Massensterilisation mittels Röntgenstrahlen durch. Kaum eines seiner Opfer überlebte.
Nach dem Krieg war er Sportarzt in Diensten der Stadt Gladbeck und eröffnete dort 1949 mithilfe eines “Flüchtlingskredits” eine eigene Praxis. Als er 1951 enttarnt wurde, gelang ihm aufgrund der zögerlichen Ermittlungen die Flucht. Er arbeitete drei Jahre als Schiffsarzt und gelangte von Japan über Ägypten in den Sudan. Als man 1959 seine Spur wieder fand, setzte er sich nach Ghana ab, stand dort unter dem persönlichen Schutz des Staatspräsidenten Kwame Nkrumah und konnte erst nach dessen Sturz 1966 festgenommen werden. Am 17. November 1966 wurde er in Butzbach in Untersuchungshaft genommen. Im September 1970 begann vor dem Landgericht Frankfurt der Prozess, der aber 1971 wieder eingestellt wurde, weil zahlreiche seiner Kollegen dem Angeklagten in zweifelhaften Gutachten bescheinigt hatten, dass er wegen seines hohen Blutdrucks verhandlungsunfähig sei. Schumann wurde aus der Haft entlassen. Er starb 1983 in Frankfurt-Seckbach. Obwohl ihm sein akademischer Grad bereits 1961 aberkannt worden war, steht auf seinem Grab: Dr. med. Horst Schumann.

Heute vor 16 Jahren starb der österreichische Schriftsteller und Philosoph Günther Anders (“Die Antiquiertheit des Menschen”).


Dienstag, 16.12.2008
 – Sechzehnuhrdreiunddreißig, einskommaacht. Fast dunkel.

Von Alex aus Ludwigshafen eine hübsche Trouvaille: Zwei Fotos einer unbekannten englischen Zeitfahrerin auf ihrem “Waller Flying Gate”.

Beethoven hat Geburtstag. 

 

Samstag, 13.12.2008 – Achtuhreinundzwanzig, nullkommasechs Grad. Bedeckt.

Gestern in der “Heute”-Sendung die Nachricht, dass die New Yorker Polizei den ehemaligen Chef der Technologiebörse Nasdaq festgenommen habe, der im Verdacht stehe, 50 Milliarden Dollar verzockt zu haben. 50 Milliarden Dollar! Und die Meldung dauerte höchstens eine halbe Minute.

Die Erfahrung hat Recht, bevor sie von der Erkenntnis Recht bekommt: Tacitus aß vor dem Zubettgehen gerne eine Schüssel Salat, weil er danach besonders gut schlafen könne. Heute weiß man, dass im grünen Salat ein opiumähnlicher Stoff enthalten ist, der die Nerven beruhigt.

Endlich Peter Temples “The Broken Shore” bestellt. Bin super gespannt und kann es kaum abwarten. Nur, dass Ekkehard Knörer dem Buch “elegante Starre” vorwirft, trübt die Vorfreude ein wenig. Und dass Lars Schafft von einem “Krimi für Männer” spricht … 

Lektüre: Jo Nesbo, Der Schneemann. Naja. Immerhin bleibe ich dran und bin fast durch. Viel zu eng gestrickt, das Ganze. Wer soll das alles glauben? Und warum muss eigentlich in so vielen neueren Kriminalromanen der Sex aus jeder Pore dunsten? Brrrh, dass man am Ende noch keusch werden möchte … Aber, wie man aus dem Buchhandel hört, die Leserinnen verlangen es … 

Tot ist Friedrich Hebbel, dessen Gedicht “Winterlandschaft” mich jedes Mal erschauern lässt, wenn wir es in “Ein kleiner Abend Glück” vortragen.  

 

Dienstag, 9. Dezember 2008 – Sechzehnuhrsieben, dreikommazwei. Schon fast wieder dunkel.

Irgendwas läuft verquer in dieser deutschen Krimiszene – es herrscht so ein mokanter Ton, so eine dauernde Bereitschaft, zuzuschnappen, so ein alles grundierendes hämisch-konkurrentes Verhalten, oft verhohlen, verborgen hinter einer flachen Ironie, so eine naseweise Schlaumeierei, eine lauernde Verteidigungsstellung, diese reflexhafte Erdmännchenhaltung, als müsse man immer und immer beweisen, dass man sich nicht mit einem Kulturgut minderer Güte beschäftige. Es wird gezackert und gegiftet, ohne dass man den Eindruck hätte, es ginge auch nur einmal um das Bemühen, zu einer neuen Erkenntnis zu gelangen, stattdessen immer nur um: Selbstpositionierungen. Und ich ahne schon, dass auch auf diesen Eintrag wieder … Na ja, gurrt ungerührt die Taube auf dem Geländer der Dachterrasse, na ja …

Aber wäre es nicht interessant, die Frage zu beantworten, warum man plötzlich umgeben ist von intelligenten Menschen, die allesamt den Büchern Stieg Larssons erlegen sind – mithin einem Erzähler, der so offensichtlich alle Fehler macht, die ein Autor nicht machen sollte, dessen Bücher wohl nie lektoriert wurden, der die Grundregeln der Spannungsdramaturgie, der Glaubwürdigkeit, des Realismus über hunderte Seiten missachtet und der dennoch im Handumdrehen weltweit eine Gemeinde von Millionen Lesern gefunden hat? Freilich, sollte ich der Einzige sein, den die Antwort interessiert, wird ein entspanntes Gespräch darüber auf absehbare Zeit wohl nur als Monolog denkbar sein.  

Tot ist Viktor Agartz. 

Montag, 8. Dezember 2008 – Vierzehnuhrsieben, vierkommasieben Grad. Grau. 

Sie wollen und können es nicht begreifen, dass Kriminalromane nach anderen Gesetzen funktionieren als die avancierte Literatur. Gestern noch schlug ich Uwe L. vor, während des nächsten Krimifestivals mal eine Diskussion zum Thema “Stieg Larsson und seine Geringschätzung durch die Kritik” zu veranstalten, schon liefert Dieter Paul Rudolph im Titelmagazin das Futter dafür. So reflexartig wie genussvoll und erwartbar greift er die offensichtlichen literarischen Schwächen des Schweden an und merkt nicht, dass er mit seiner wohlfeilen Polemik mal wieder unter der Latte durchspringt. Andererseits: Will ich mich wirklich so tief in das Thema verbeißen, bis ich mir auch den letzten Vertreter der Branche zum Gegner gemacht habe …?

“Fernsehen braucht bewegte Bilder” – Wenn sich dieser Leitsatz aus den deutschen Anstalten mit einer gehörigen Portion Dummheit paart, dann entsteht so etwas wie der Schostakowitsch-Film, der am Samstag auf 3sat lief. Weil man offensichtlich nicht genügend bewegte Bilder hatte, musste man sich solche fabrizieren. Also ließ man den eitlen Müller-Stahl ein ums andere Mal betroffen in die Kamera glotzen, schnitzte sich Schostakowitsch und Stalin (ohne Witz:) als Marionettenfiguren, ließ diese steif und bedeutungsschwer durchs Bild hampeln und führte den hundertsten Aufguss jenes Rührstücks auf, das den Titel trägt: “Das Genie und die Bestie”. Heraus kam: Nichts!  
Himmel aber auch, was für ein Menschenbild, was für ein Geschichtsbild, was für eine Kapitulation vor allem, was den Namen Kulturjournalismus verdient gehabt hätte …    

Todestag hat Otto Kühne, der im Zentralmassiv eine Gruppe von 2700 Kämpfern der Résistance leitete und maßgeblich an der Befreiung der Departements Gard, Ardèche und Lozère beteiligt war. 

 

Freitag, 5. Dezember 2008 – Zwölfuhrsiebenundvierzig, siebenkommasieben. Bedeckt. Wird mal wieder nicht warm in der Bude. Werde nicht wach heute. Angeschlagen.

Vorgestern haben wir Renate Chotjewitz zu Grabe getragen. Sie ist, wie es heißt, einfach vom Rad gefallen und war tot. Was für eine unglaublich klägliche Veranstaltung das war an diesem nassen, verschneeregneten Tag in der kalten, monumentalen Trauerhalle mit ihrem Jugendstil-Tand. Eine verhärmte Pfarrerin – und sie war noch die Beste – hat ein paar dürre Worte gesprochen. Als gemeinsames Lied sollte die deutsche Fassung des alten Pete-Seger-Songs gesungen werden: “Sag mir, wo die Blumen sind”, was der Mehrzahl der Anwesenden so peinlich gewesen zu sein scheint, dass nur ein jämmerliches Brummen zu hören war. Nur ein alter, dicker Jude, der neben mir saß, mühte sich redlich. Naiv und rührend zugleich war das. Irgend eine wackere Literaturvereinstante haspelte noch ein paar wirre, unverständliche Worte, dann war das Ganze schon wieder vorbei. Die Söhne, offensichtlich einander entfremdet, wussten nicht sich zu verhalten, lagen sich am Sarg für ein paar Sekunden steif in den Armen, bevor sie das Weite suchten. Und der ewig dröhnende Pit, ihr Exmann, um den doch all ihr Schmerz bis zum Schluss kreiste, war nur in Form eines fetten Kranzes anwesend. Aussetzen wollte er sich dem wohl nicht, sich lumpen lassen freilich auch nicht. 
Eine Trauerfeier, so verhuscht-verzweifelt wie dieses ganze Leben – zum Gruseln. Eine dreiviertel Stunde später saß ich bereits wieder zu Hause im Warmen. 

Abends dann in trauter Runde in der Wallnuß, Sachsenhausen, Wallstraße. Der überaus freundliche und kluge David U. hat zum Gänse-Essen eingeladen. Bin immer erstaunt, was er alles weiß und kennt. Ob er mich, fragt er ganz ohne Arg, auf einen Fehler in der “Partitur des Todes” hinweisen dürfe. Aber klar, gerne. Der junge Türke, der auf seinem Boot an der Untermainbrücke angeschossen wird und über Bord geht, habe nie und nimmer auf die Insel getrieben werden können, denn die liege flussaufwärts, mithin … Das freilich ist ein so dicker Fehler, dass ich zum ersten Mal laut lachen muss an diesem traurigen Tag. 

Mozart ist tot. 


Dienstag, 2. Dezember 2008 – Fünfuhrvierunddreißig, zweikommavier. Seit einer Stunde wach. Es schneit.

Samstag um elf in die Alte Oper. Im Mozartsaal “Mein Lieblingsstück”. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Commerzbank, Martin Kohlhaussen, stellt im Gespräch mit Professor Lücker sich und Bachs “Italienisches Konzert” in F-Dur vor. Anschließend – als Publikumsgast – Hannelore Limberg mit Brahms “Liebesliederwalzern”. Dass nicht Wissenschaftler, sondern Unbefugte über ein Musikstück sprechen, das ihnen am Herzen liegt, ist eine schöne Idee. Irritierend allerdings, dass so gar nicht die Rede ist von den jungen Musikern, die immerhin die Mühe sich gemacht haben, die Stücke einzustudieren, die hier ihren Hut auf die Straße werfen und ihre Köpfe hinhalten.  

Am Nachmittag mit dem Pinarello eine kalte, sonnige Runde – größer als geplant, kraftvoller als erwartet. 

Sonntag um elf mit dem Mountainbike an die alte Bonameser Brücke. Warte eine Viertelstunde auf Gipetto, dann fahre ich los. Anfangs spitzer Schnee, nur selten bricht die Sonne durch die Wolken. Immer an der Nidda entlang, die riesigen Hallen der Mineralwasserfabriken in Bad Vilbel, später ein Schloss, eine alte Getreidemühle, Jogger, Walker und immer in der Nähe der Ortschaften Gruppen von Spaziergängern und die ewigen Hundehalter. Druckvoll bis Florstadt. Auf dem Rückweg noch einmal nach Wickstadt, dieses kleine, mittelalterliche Kaff, wo ich vor Jahren mal mit Therese für die Hessen-Reportage war. Dort kurz wieder auf den alten Friedhof, dann im selben Tempo zurück. In den Wiesen zwischen Gronau und Dortelweil ein später Augenlohn: zwei Weißstörche und ein Graureiher. Am Ende das Rad und sein Fahrer: vollkommen verschlammt. 

Den ganzen Abend mit Atilla am Booklet für “Ein kleiner Abend Glück” gearbeitet. Konzentriert, effektiv und sofort wieder, wie immer, wenn es mit diesem Projekt zu tun hat: glücklich. Wie schön das wird … 
Hugo mit Mandarine auf der Stirn. Charlotte, die die Augen verdreht. Wir mampfen Falafel vom “Aroma”, dem besten Imbiss der Stadt. Und trinken von dem sagenhaften Grappa, den wir damals, bei unserem Auftritt in der “Freitagsküche”, geschenkt bekommen haben.

Gestern in der ARD eine Dokumentation über die Entführung und den Mord an Jakob von Metzler. Was für eine Gestalt dieser Gäfgen aber auch ist, wie verkommen. Ganz und gar selfish – wie so viele Mörder. Die mangelnde Entwicklung von Empathie ist wahrscheinlich einer der gröbsten Erziehungsfehler. 
Der damalige stellvertretende Polizeipräsident Wolfgang Daschner hatte Gäfgen unmittelbare körperliche Gewalt androhen lassen, wenn er den Aufenthalt seines Opfers nicht offenbare. Diese “Androhung von Folter” hatte später zu einem Prozess gegen Daschner geführt, bei dem dieser mit einer Verwarnung bestraft wurde. Ein Urteil, das von vielen Juristen als skandalös milde, von Metzlers Familie und deren Vertrauten aber als enttäuschend hart kommentiert wurde, da man sich einen Freispruch erhofft hatte. Der “Mut Daschners” habe seine Vorbildfunktion durch die Bestrafung verloren. Mutig aber wäre Daschner nur dann gewesen, wenn er alle Strafen und disziplinarischen Maßnahmen (bis hin zur Entlassung aus dem Polizeidienst) klaglos hingenommen und gesagt hätte: “Und trotzdem würde ich in einer solchen Situation immer wieder so handeln.” Stattdessen aber sei er, den man anschließend nach Wiesbaden befördert hatte, im Jahr 2008 resigniert in den Ruhestand gegangen, wie es in dem Film heißt.

Endlich das Buch über Albert Fish beendet – gruselig. Kurz in Nesbos “Schneemann” reingelesen, wieder beiseite gelegt, stattdessen: “Zodiac”. 

Heute vor drei Jahren wurde Kenneth Boyd als eintausendster Todeskandidat nach Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA hingerichtet. Er war ein schwer traumatisierter Vietnamveteran, galt als geistig behindert, war geständig und reumütig.