Geisterbahn

Montag, 28. September 2009 – Elfuhrneunundzwanzig, achtzehnkommafünf Grad – immerhin. Bedeckt.

Am Freitag Lesung im Radisson Blu. Frau P., eine ungemein quirlige Mittsiebzigerin, erzählt, dass sie gerade von einer Veranstaltung im Römer komme, wo Walter Wallmann zum Ehrenbürger Frankfurts gekürt worden sei. Ein Streichquartett habe Beethoven gespielt und die OB dazu geschunkelt. Und der neue Schweizer Generalkonsul – der wirklich genau aussieht wie Harpo Marx – berichtet, dass er mit seiner Frau in der Ginnheimer Villa wohne, die sich Martin Elsässer 1925/26 gebaut hat. Wieder daheim rufe ich mir das Bild auf den Schirm: Was für ein wunderschöner Klinkerbau!

Samstag am Vormittag zum Flughafen. Die Lufthansa-Maschine nach Budapest trägt den Namen “Bamberg”. Frau G. und ihr Fahrer holen mich ab. Kurz ins Corvin-Hotel, kurz zu Fuß ins Goethe-Institut, dann eine Stunde frei, über die Donau und an den Heilwasserbrunnen vor das alte Hotel Gellert gehockt, dann zurück, Essen mit Hakan Nesser (Schweden), Leena Letholainen (Finnland), Indrek Hargla (Estland), Gretelise Holm (Dänemark) und Mariusz Czubaj (Polen), dann Podiumsdiskussion, dann Lesung, dann Interview mit einer über die Zustände in ihrem Land zu Recht depressiv gewordenen Hörfunkjournalistin, dann viel zu lauter Jazz und ein finnischer Student, der mir auf englisch ins Ohr brüllt, dann rasch ins Hotel, dann von einem fürchterlichen, endlosen Alptraum aufgewacht, wieder eingeschlafen, wieder aufgewacht durch das ferne Schreien einer Frau und die bellende Stimme eines Mannes, dann aufgestanden, dann diese acht strunzdummen Westfälinnen im Frühstücksraum, die unentwegt über die Preise ihrer kürzlich erstandenen Schmuckstücke und über ihre Verdauung reden, ohne zu wissen, dass ich sie verstehe, was ihnen gewiss egal gewesen wäre, dann wieder zum Flughafen und unterwegs überall die Schilder westlicher Geschäftsketten: Saturn Hansa, Media Markt, Rossmann, dm, Lidl …, dann 150 Japaner, die vor mir am Lufthansa-Schalter anstehen und wie ich auf ihr Check-In warten …

… dann eine kurze, schnelle, glückliche Runde auf dem Scapin …

… dann Bundestagswahlen. Aber nein, darüber kein Wort!

Das gibts doch nicht, oder: Todestag von Harpo Marx.

Montag, 21. Septemberg 2009 – Vieruhrdreiundvierzig, sechzehnkommafünf. Wach seit vier, wie gewünscht. Dunkel.

Gestern Morgen auf Einladung des Blindenbundes das Konzert im HR-Sendesaal mit Andrei Gavrilov. Eine Auswahl der Nocturnes von Chopin und Prokofjews Kalviersonate Nr. 8 B-Dur op. 84.
Macht großen Spaß. Lustig, dass Gavrilov nach jedem Nocturne einen Applaus herausfordert. Überhaupt ist er gestisch und mimisch sehr geschickt. Chargiert nicht, aber will doch dauernd Reflex, Kontakt. Nur zwischendurch, als er uns irgendwas über Totalitarismus erzählen will, wird es grauslig krude. Aber muss ja nicht reden können, muss ja nicht denken können …

Nachmittags dann – wie schon vorgestern – auf Schauplatzsuche. Selbst die Orte der kleinen Szenen muss ich noch gesehen haben, um sie schreiben zu können.
Im Mainbogen am Schultheisweiher – plötzlich rumpelt ein großer Reisebus über den engen, für Autos gesperrten Weg und macht bei den letzten Badegästen, die hier am Strand liegen, schon als solcher Sensation. Dann: Zehn Bräute klettern heraus, steigen mit ihren Brautkleidern und in Gummistiefeln  zu den Schwänen ins Wasser … und … na ja: werden fotografiert. Was auch sonst?

Abends zehn Minuten Tatort, nicht auszuhalten. Lieber früh ins Bett, lieber früh aufstehen …

Ach so, ja: Habe Krabbés “Das goldene Ei” wieder gelesen. Unglaublich gut geschrieben. Aber was für eine himmelschreiend ärgerliche Geschichte. Wirklich verabscheuungswürdig!

Am 21. September 1904 starb Chief Joseph, Häuptling der Nez Percé – wie es heißt “an gebrochenem Herzen”.

Dienstag, 15. September 2009 – Siebenuhrdreiundfünfzig, elfkommadrei. Zum ersten Mal Heizung. Himmel grau.

Liegt es an der eigenen Müdigkeit, dass mir die anderen so übermäßig munter vorkommen?
Herl, der mir frischgeschoren und -geduscht vor der Stalburg begegnet und leuchtet vor Stolz auf sein neues, altes Theater.
Braun, der schon drinnen am Tisch sitzt, der ein Jahr voller Stente und Ballonkatheder hinter sich hat und nun, wieder auf den Beinen, strotzt vor Tatendrang.
Und Jamal, der von Frankfurt aus den Osten Berlins nicht einfach scheu erkundet, sondern forsch in Besitz nimmt. (“Bei mir um die Ecke …”)

Auf dem Scapin durchs Umland fahrend, fällt mir ein Plakat der “Linken” auf: “Reichtum für alle”. Als wäre diese Losung in ihrer gedankenlosen Anspielung auf Ludwig Erhards “Wohlstand für alle” nicht schon dusselig genug, folgt ein paar Meter weiter ein anderes Plakat derselben Partei: “Reichtum besteuern”. Freilich, so stellt man sich selbst ein Bein.
Und auf der anderen Straßenseite, überlebensgroß: Oskar Lafontaine und das Wort “Gerechtigkeit”.
Ja, was denn nun? Als wüssten sie nicht selbst, dass es in einer gerechten Welt vielleicht ein Auskommen, keinesfalls aber “Reichtum für alle” geben würde.

Heute vor 65 Jahren wurde die jüdische Widerstandskämpferin Mala Zimetbaum in Auschwitz ermordet. Ein Tod, wie man ihn sich selbst an diesem Ort grausamer kaum vorstellen kann.

Samstag, 12. September 2009 – Dreiuhrsechsundvierzig, dreizehnkomma- eins. Wach seit zehn vor drei. Schon jetzt schreit die Autobahn. Aber die Mauer wird gebaut … stand schon in der Zeitung.

“Sehr geehrter Dr. Altenburg, ich bin Jahrgang 1959 und Bankkaufmann von Beruf. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit Mahatma Gandhi. Interessant finde ich seine 7 Sünden der Geselllschaft! … Es interessiert mich, sehr geehrter Herr Dr. Altenburg, ob Sie sich mit Mahatma Gandhi beschäftigt haben? Wenn ich unsere heutige Gesellschaft ansehe, so wäre es doch ein Ausweg, sich an die sieben Punkte zu halten. Es wäre jeder einzelnen Gruppe doch nicht zuviel abverlangt …” Undsoweiter.

Fast täglich, wenn ich auf der Homburger Landstraße einkaufe, sehe ich in der Nähe des Supermarktes diese große junge Frau.
Groß? Jung?
Na ja, sie ist sicher über ein Meter neunzig, sicher kaum älter als dreißig Jahre. Ich weiß nicht, was sie hat, sie kann kaum laufen. Bewegt sich schaukelnd ein paar Meter, dann bleibt sie wieder stehen. Jeder Schritt scheint ihr unendliche Mühe zu bereiten. Sie hat einen starken Bartwuchs.
Und, was ist mit ihr?
Alle schauen sie verstohlen an. Sie schaut niemanden an. Aber neulich habe ich gesehen, wie sie in der Scheibe eines Autos ihr Spiegelbild betrachtet hat. Sie sieht aus, als müsse sie alle Last der Welt tragen. Sie hat ein so fürchterlich trauriges, ein so schrecklich verlorenes Gesicht.
Und?
Nichts und. Keine Pointe. Nur das.

Erster Todestag von David Foster Wallace. Sein dickes Ding liegt hinter mir … unberührt … Keine Zeit …



Dienstag, 8. September 2009 – Vieruhrundvier, elfkommaacht Grad. Endlich wieder früh wach. Laut draußen.

Im neuen “Spiegel” ein Essay von Matussek: “Es reicht! Von einem, der aus Versehen links wurde”. Erstaunlich wacker. Kann es denn sein, dass einer bis zu den Haarspitzen in dieser verschissenen Branche steckt und trotzdem dazu lernt? Oder ist M. auch diesmal wieder nur dem – nun halt gewendeten – Zeitgeist zu Diensten?
Ich erinnere mich noch meiner Verachtung, als sein Deutschland-Buch erschien – just in dem Moment, als während der Fußballweltmeisterschaft der neue Patriotismus zur Staatsräson ausgerufen wurde und mir hier auf der Ignatz-Bubis-Brücke die johlenden Fans entgegenkamen – in Deutschland-Flaggen gewickelt und die Arme zum Hitlergruß in die Höhe gerissen.

Roger Willemsen in seinem kleinen “Zeit”-Video: “Wir haben eine Meinungsfreiheit, die meistens für Dinge in Anspruch genommen wird, für die man keine Meinungsfreiheit braucht.”

Schuhe, Fahrrad, Grill, Klavier, jetzt ist aber mal wieder Schluss mit Kaufen – “Jaja-Papa-is-ja-gut!”

Heute vor dreißig Jahren fand die Pariser Polizei die Leiche Jean Sebergs in ihrem Wagen.

Freitag, 4. September 2009 – Sechsuhrfünfzig, dreizehnkommasieben. Soll wieder wärmer werden …

Am völlig vermoosten Grab von Beltz gewesen. Es sollte auch hier, wie in der Anfangsszene von Almodovars “Volver” zu sehen, den schönen Brauch geben, dass die Witwen an einem bestimmten Tag des Jahres auf den Friedhof gehen, um die Grabsteine ihrer verstorbenen Männer zu schrubben.

Wenn jemand stirbt und beerdigt wird – wie dieser Tage Manfred Schiedermair -, den man kannte, aber nicht sehr gut kannte, ist er einem plötzlich näher als er es zu Lebzeiten je war.

Gelernt: Es gibt Feiglinge, die sich nicht einmal trauen, feige zu sein.

Aus einem Interview, das “Konkret” 1994 mit Ignatz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, führte:
Konkret: Sie haben gesagt, die Regierung stelle Ihnen drei Leibwächter, weil sie Angst davor hat, was das Ausland sagen würde, wenn Ihnen etwas passiert.
Bubis: Unterschätzen Sie nicht den Export, auf den Deutschland angewiesen ist und um den es fürchten würde.

Interessantes Fundstück; von diesem Bekenntnis hatte ich nie gehört: “Wir deutschen Kommunisten erklären, daß auch wir uns schuldig fühlen” heißt es in einem Aufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 1945. Aber wen interessiert das eigentlich alles noch …

Todestag von Simenon und von dem guten Richard Hey.