Geisterbahn

Dienstag, 31. August 2010 – Sechsuhrvier, neunkommasechs. Fast noch dunkel. Im Osten so ein rötlicher Streifen am Himmel. Ganz hübsch.

Gestern Abend in voller Länge und mit offenem Mund die Übertragung von Kochs Abschiedsfeier auf Schloss Biebrich geschaut. Fackeln, Märsche, Uniformen. Ein wahnsinnig unseriös aussehender Strolch des Kasseler Heeresmusikkorps singt Lieder von Udo Jürgens, der ebenfalls im Publikum sitzt, und – wie man hört – seit Jahren mit den Kochs befreundet ist. Schauderhaft ist das alles, gespenstisch und unglaublich halbseiden. Und was für ein kulturelles Signal …
Und das Hessenfernsehen entblödet sich nicht, diesen Mummenschanz zu übertragen. Als Zeugin dafür, was für ein guter Kerl der Verabschiedete sei, lässt man Ann Kathrin Linsenhoff ins Mikrofon stammeln … Sklavenjournalismus.

Gerade sehe ich, dass Ann Kathrin Linsenhoff 1960 geboren ist. Sehen wir denn alle schon so alt aus?

N.: “Merkst du es auch, wie schon jetzt an Kochs Heiligsprechung gearbeitet wird. In Kürze werden all seine Skandale vergessen sein und keiner will je was gegen ihn gesagt haben.”

Der neue Ministerpräsident, heißt es, werde selten in der Öffentlichkeit angetroffen, ohne dass er vorher etwas getrunken habe.

Durch mit dem Simenon.

Aber jetzt, um sechsuhrachtunddreißig, ist es bereits hell.

Lady Di ist tot.

Montag, 30. August 2010 – Siebenuhrfünfunddreißig, neunkommavier. Gestern Abend um Viertel vor acht eingeschlafen, heute Morgen um Viertel vor sechs durch den Regen aufgewacht. Herrlich!

Gestern auf dem alten Bonameser Flugplatz, der inzwischen zum sonntäglichen Tummelplatz für die jungen und mittelalten Frankfurter Akademikerfamilien geworden ist.
“Guck Mal”, sagt A., “da ist unser nächster Innenminister”.
Tatsächlich steht dort der Staatssekretär R. mit seiner Familie.
“Ich muss ihn kurz begrüßen”, sagt A. Und als er nach zehn Minuten wiederkommt: “Heute Abend wird entschieden, ob R. ins neue Kabinett kommt, aber sicher weiß er es noch immer nicht. Soll ich ihn Dir vorstellen?”
Ich zögere kurz, dann sage ich nein. Man lernt einander in dieser Stadt sowieso meist früher kennen, als einem lieb ist.
Dann sagt mir A., wen ich nun aber wirklich und unbedingt alles kennen lernen müsee …

Lektüre: Simenons “Der Mann mit dem kleinen Hund” – Hatte das Buch vor dreißig Jahren gelesen und vollkommen vergessen, wie unglaublich gut dieser Roman erzählt ist. “Wenn Simenon nichts anderes geschrieben hätte, er hätte das Seine getan”, schrieb Alfred Andersch.

Würde ich unverhofft diesem Sarrazin gegenüber stehen, ich würde wohl zum Lama werden. Mehr noch zu verachten ist allerdings der Verlag, der auf den erwartbaren Erfolg mit dem Buch dieses Schurken spekuliert hat.

Vor fünfundsiebzig Jahren starb Henri Barbusse.

Dienstag, 24. August 2010 – Fünfuhrfünfundzwanzig, achtzehnkommavier. Scheißregen. Trotz Baldrian seit halbdrei wach.

Von Alf die Lösung per Mail:
…wenn du es noch nicht gefunden  hast.: Das T.S.Eliot-Zitat ist aus dem Gedicht “The Hollow Man”, das mit dem Joseph-Conrad-Zitat “Mistah Kurtz – he dead” (s.a. Apocalypse Now) beginnt und mit den Zeilen endet:
This is the way the world ends
Not with a bang but a whimper.

Gestern Morgen wiederwillig ins Alte Café Schneider. Ich warte und warte. Vergeblich. Blättere die Vogue durch, dann die Tageszeitungen. Alles voll mit Schlingensief, der ja zum Schluss ein wenig Ähnlichkeit hatte mit Ahmadinedschad. Dass er ein Provokateur gewesen sei, der von allen geliebt werden wollte, hört und liest man allerorten. Freilich, danach sahen seine Provokationen dann auch aus. Die erlösungshungrigen Feuilletonisten lagen ihm zu Füßen; in ihm fand das handzahme Muckertum seine Projektionsfläche. Und jetzt heißt es, dass so einer eigentlich gar nicht sterben dürfe, jedenfalls nicht wirklich …
Dann im Regen über die Zeil zum Parkhaus, wütend und vollkommen durchnässt nach Hause.

In Manila stürmt die Polizei einen Bus, in dem ein ehemaliger Kollege fünfzehn Geiseln gefangen hält. Auf ntv und N24 wird live übertragen. So kann man die Stümperei der Spezialkräfte in Echtzeit miterleben. Und dazu noch das haltlose Gequatsche der deutschen Fernsehleute. Sie wissen nicht mehr, sehen nicht mehr, hören nicht mehr als die Zuschauer, dürfen aber keinesfalls schweigen.

Fashion TV wird nur noch über Satellit ausgestrahlt. Thank you for watching. Aber jetzt habe ich ja den World Fashion Channel gefunden. Der kommt über Kabel, ist genauso doof, aber mir kann nichts mehr passieren.

Abends im Fernsehen – wieder alles voll mit Schlingensief.
Ich: Ich kann es nicht mehr sehen.
Sie: Ist ja bald vorbei. Vorerst jedenfalls.
Ich: Wie? Vorerst? Mach mir keine Angst!

Erst jetzt sehe ich, dass während unseres Urlaubs Luis Corvalán und Willem Breuker gestorben sind. Und Brigitte Schwaiger – ihre Leiche wurde in einem Nebenarm der Donau gefunden.

Dienstag, 17. August 2010 – Elfuhrsechsunddreißig, sechzehnkomma- neun. (Aber erst Mal musste ich das Kabel des Außenthermometers reparieren. Wach seit fünf. Regen, Wolken.

Heute Morgen im Netz unterwegs: Resistance /Maquis / Jean Moulin / Anna Marly, Le Chant des Partisans / Lucie Aubrac / Und zum ersten Mal von Otto Kühne gelesen, der 2700 Kämpfer des Mouvement Ouvriers International in der Provence anführte.

Im Autoradio gerade ein Stück aus der Feuerwerksmusik unter Gardiner gehört. Grässlich! Man möchte ihm Beine machen.

Französische Notizen:
Grenzgebiet Saarbrücken / Forbach – Schmuggler, Wilderer? / Gravelotte / Verdun, Toter Mann, die Forts / Valmy, Moulin / Epernay / Ölvorkommen – Pumpen? / Im Hotel, ziemlich herunter gekommen, eine Vakuum-Toilettenspülung von Electrolux, die einen solchen Lärm verursacht, ein so lautes saugendes Geräusch … / Aber ein wunderschöner alter, riesiger Speisesaal und erstaunlich gutes Essen.
Dann in der Bretagne, eine Woche am schönsten Ort der Welt, am Rande eines Dorfes, eine Lichtung am Bach, Trauerweiden, zehn Kilometer nördlich von Lanvollon / Fahrt nach Treguir – die schöne Kathedrale, das Grab von St. Yves, der brasilianische Priester am Eingang, die plaudernden Kirchenbesucher, gute, vitale Stimmung – Kreuzgang.
Die Islandfischer – “Mur des desparus” in Ploubazlanec.
Die Ortsnamen klingen hier zum Teil, als sei man in Vietnam.
Die Landschaft vollständig anders als gedacht: alles noch im satten Grün – jetzt, Ende Juli – Täler, Höhenzüge, Ausblicke, mehr Allgäu als schroffe, karstig-flache Heide. Ein versunkenes Hochgebirge.
Plage Bonaparte – dort sind die von den Deutschen abgeschossenen Piloten der alliierten Kampfflugzeuge von der Bevölkerung versteckt und nach England verfrachtet worden. Verirre mich zwischen den Höfen, zwei freundliche, ältere Herren, der eine bietet mir an, mit seinem Wagen vor mir her zu fahren.
Menschenleer die Orte, das Vespapärchen, die Hunde hinter den Gattern, ab und zu ein Bauer, ein sabbernder Mann, der dich anstarrt. Nur die Alten und Versehrten bleiben da. Überall an den Häusern die Schilder: “A vendre”.
Es fehlt vollständig das Erotische, das Bukolische des Mittelmeers. Hier herrschen das Kruzifix und der Friesennerz.
Toter Baum, von Efeu überwuchert, simuliert Leben.
Die winzigen Frösche am Leff. Tausende. Regnet es schon wieder? Nein, das sind die Wasserläufer. Wenn sie sich bewegen, sieht es aus, als würden Tropfen ins Wasser fallen.
You drink Whisky with me, fordert mich der Mann aus seinem SUV heraus auf, den ich angehalten habe, um nach dem Weg zu fragen.
Vierzehnachtzehn, dieser Krieg hat überall im Land so tiefe Spuren hinterlassen, dass sie noch heute sichtbar sind.
Die Hunde werfen sich gegen die Gatter.
Mitten im Nichts: Ein Ehrenmal, davor langstielige Rosen, Kränze. Gedacht wird der Ortsgruppe des Maquis von Plésidy.
Roscoff – am Hafen, viele Touristen, aber wieder: gutes Essen. Auf dem Vorspeisenteller: Pétonche (Queen scalopps)???
Als wir morgens abfahren wollen: Der Autofahrer auf dem Parkplatz des Hotels, hinter dem Steuer sitzend und mit einem weichen rosafarbenen Staubwedel ausdauernd die Armaturen seines Wagens entstaubend. Das Wunder: Die Frau an seiner Seite stirbt nicht vor Lachen.
Les Calvaires / Die exaltierten Skulpturen in den Kirchen / Das grauenhafte Denkmal für die Frauen von Pont l’Abbé. Nur Demut, Trauer, Depression. Die Knechtung durch die Kirche hat offensichtlich jedes andere Selbstbild unmöglich gemacht.
Überall diese Hohlwege, warum? Die Plastikplanen über den bepflanzten Böschungen – warum?
Ein „Künstlerdorf“ – Das Todesurteil für jeden Ort.
Ausstellung in Quimper: Meijer de Haan – Gaugin – Max Jacob, Boudoin. Interessant, die lokalen Ränder der Moderne.
McDonalds am Point Ronde vor Pont l’Abbé.
Connellys “Brass Verdict” – Grauenhaftes Buch, schlechte Dramaturgie, schwache Charakterzeichnungen. Aber eine schöne Formulierung: “To sell burnt matches”.
Süleyman: Er war schmal, braun und gelenkig. Manchmal schlief er mit Männern, öfter mit Frauen und manchmal Monate lang mit gar niemandem. Er verlangte nicht danach, aber wenn ihm jemand Geld geben wollte, nahm er es an. Ein Otter. Ein Wesen zwischen Wasser und Land. Er hatte keine Vorlieben, was ihn umso mehr befähigte, auf die seiner Partnerinnen einzugehen. Er mochte es, andere zufrieden zu machen oder wenigstens ruhig. Alle wollten mit ihm schlafen, aber keine wäre auch nur auf die Idee gekommen, deshalb ihren Mann zu verlassen. Er schaut Fashion-TV.
Nantes. Wie angenehm, nach all der bretonisch-katholischen Enge, hier ein wenig urbanen Freigeist zu spüren. Die Bombardierung. Das Edikt. Sklavenhandel. Gemäldesammlung. Jules-Verne-Museum. Die Viertel. Die Modegeschäfte … Sonia Rykiel. Und dann kommen wir doch tatsächlich am Nespresso-Magazin vorbei!
Gibt es eigentlich einen Wikipedia-Download?
Hotel de la Gare – Diese verlogene alte Hexe, die ihre Louisidors zählt. Ihr Mann, kaum das Kinn zum Gruß hebend. Die freundlich-verhuschten Zimmermädchen, die sich unter der Knute der Hexe zu ducken scheinen. Der schmierige, wieselige Kellner – alles wie aus einem Balzac-Roman.
Wie heißt das Mädchen aus Hemingways „For whom the bell rings“?
Camping “Le Gurp”, vor knapp dreißig Jahren war ich zweimal hier – Und … man glaubt’s nicht: Auch hier war Kevin gerade wieder. Um ein Haar, hätten wir ihn auch dieses Jahr wieder zufällig getroffen. Halb Südhessen, heißt es, sei hier versammelt, jedenfalls das Frankfurter Nordend.
John Lescroart
Sind das Maulbeerbäume?
Amerikanisches Buch über Zeichentrickserien – Porky Pig, Duffy Duck …
Weiter nach Chinon.
Cotes du Rhone Village, Croix des Alliances, Super U / Col de Serre (Carrefour), Beziers / Croix des Sablons, Haut Medoc, (bei Monsieur getrunken) / Carpaccio Monsieur: marinierte Champignons, roter Pfeffer, Parmesan, wenig Pflücksalat, Schnittlauch, Dressing (ev. mit Redoro, Limette, Schuss Armagnac)
Im Nivernais: Käse (Accolay): Chambertin (!), L’Eclat / Amuse Gueule (Accolay): Kalter Lachs mit Estragon, leichte Mayonnaise / Geflügelgelee mit Estragon (gebratene, geschnittene Hähnchenteile)
Journalistin hat im Hotel unter falschem Namen eingecheckt (Name einer Freundin, mit der sie immer verwechselt wurde und deren Ausweis sie sich geben lässt).
Süliman schaut „F“ – Fashion TV
Schnecken mit Champignons (ev. Pfifferlinge) und Kräuterbutter in Teig frittiert (Nems), wahrscheinlich Reisblätter.
Für daheim: Görlitz Brief / Judy wg. Nele Neuhaus / Geschenke / Norrington-Film, Kleiber-Kassette / Garmin – Oder gute Karten im Netz, die Höhenmeter ausweisen – gibt es das für Frankreich? / Neuen Michelin-Restaurantführer kaufen / Schnürsenkel / Uhrenarmband. Und die Roeckl-Handschuhe sind nach nicht einmal tausend Kilometern völlig durchlöchert.
Süliman hat ev. eine Saison als Schleusenwärter am Canal Nivernais gearbeitet „Die Geliebte des Schleusenwärters“.
Man muss sich nicht alles trauen. Man muss dem König widersprechen, aber man muss nicht nackt über die Straße laufen.
In Souille, einem winzigen Weiler, durch den wir mit den Rädern kommen, haben die Deutschen am 9. und 10. Juli 1944 acht Männer des örtlichen Maquis erschossen.
Rauf nach Vezelay. Schon der Aufstieg zu Kathedrale läßt einen fast kriechen. Aber gut. Viele Pilger. Eine junge Nonne, andächtig vor dem Heiligen Franziskus. Junge Musiker, die proben. Alles hell, keine bunten Fenster. Danach kurz am Dreisterne-Restaurant L’Espérance in St-Père haltgemacht und auf die Speisekarte geschaut. Unangenehm, wie Marc Meneau seinen Namen ausstellt. Die Preise: obszön.
Dann nach Luzy, Vereinigung der Köche der Region: Les-toques-nivernaises.com
„Die Katze erwacht“ N. Friday … Oliven zu essen / “Schlichtes Herz” / Truffaut „Zwei Engländerinnen“
Psalm 5: Ihre Kehle ist ein offenes Grab, aalglatt ist ihre Zunge.
Irmtraud Morgner: Trobadora Beatriz. Hält das noch?
TS Eliot: Nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern geht die Welt zugrunde (Genaues Zitat suchen!)
Ins Elsaß / KZ Struthof, Natzweiler – größer als ich dachte. Viele französisches Besucher / Dambach / Fahrt mit den Rädern in den Pfälzer Wald. Wunderbar, das Hirschtal / Die wievielte Reifenpanne ist das jetzt in diesen drei Wochen? Wenn ich richtig rechne: die sechzehnte!
Das Reh auf der Uferstraße in der Bretagne. / Der Fuchs in der Nähe eines Bauernhofes im Burgund / (Dieser lässige, federnde Gang der Füchse). Wie schön die Charollais-Rinder sind, die zu Hunderten auf den Weiden liegen. Und dann in diesem elsässischen Dorf ein Pfau auf der Straße.

Todestag von da Ponte.