Geisterbahn

Donnerstag, 30. September 2010 – Siebenuhreinundfünfzig, achtkomma- neun. Grau.

Dienstag im Sprühregen Richtung U-Bahn, Lutz fährt mit dem Rad an mir vorüber, ohne mich zu erkennen. Dann kommt mir ein Schwarzer entgegen, offensichtlich betrunken; schon von Weitem hört man ihn krakeelen. Als ich an ihm vorbei gehe, lächelt er, hebt die Arme und macht mit beiden Händen das Victory-Zeichen: “Yes, we can!” ruft er.

Im Flugzeug ein wenig in Connellys “Angels Flight” gelesen, ein wenig gedämmert. Mit dem Taxi von Schwechat in die Wiener Innenstadt. Der Fahrer schenkt mir eine Führung: die Gasometer, die Donau-Auen, der Prater, das Hundertwasser-Haus, der Ring, die Staatsoper. Ob er ein gebürtiger Wiener sei, frage ich, so gut wie er sich auskenne. “In Wien kommt jeder von irgendwo”, sagt er. Er sei in den Siebzigern aus Jugoslawien zugereist: “Aber ja, ich bin ein Wiener; ich liebe diese Stadt”.

“Das Triest” in der Wiedner Hauptstraße. Draußen Regen, Sturm. Die Hotel-Depression setzt sofort ein. Lege mich aufs Bett. Fernseher an. Vier Folgen von “The Simpsons”. Und trinke eine halbe Flasche ekligen, völlig überteuerten Zweigelt, der auf der Minibar gestanden hat und deshalb viel zu warm ist.

Zu Fuß in der Dunkelheit über den Ring. Hofburg, Kunsthistorisches Museum, Volksgarten, Parlament. Eine riesige, fettige Käsekrainer mit Senf und Ketchup im Laufen. Spontane Übelkeit. Burgtheater, Universität, nach links in die Schottengasse, die kurz darauf zur Währinger Straße wird. Votivkirche. Um zwanzig Uhr vor dem “Café Weimar”. Ich gehe rein. Drei stämmige, kleine Männer und eine stämmige, kleine Frau stehen im Eingang. Sie haben keinen Platz mehr bekommen, bitten aber um Autogramme in ihre kleinen, stämmigen Sedez-Bücher. Die Kellner grantelnd, allerdings völlig uncharmant. – “Dafür werden sie bezahlt”, wird mir erklärt. Der St. Laurent ist gut. Während ich lese – immer wieder Tonprobleme, Störungen, das Mikrofon eines Aufnahmegerätes wird auf mein Pult gestellt, ein Techniker baut eine riesige Fernsehkamera vor mir auf, die Kellner wuseln durch die Reihen. Dann zu Fuß in die Innenstadt, Stephansdom, Domgasse, “Café Fidelio” im Mozart-Haus, aber plötzlich weiß ich nicht mehr, was ich dort eigentlich soll, mache kehrt und trabe durch die Nacht zurück ins Hotel.

Zu aufgekratzt, um zu schlafen. Fernsehen. Der NDR sendet einen albernen, selbstverliebten Dokumentarfilm von Richard David Precht: “Lenin kam nur bis Lüdenscheid”. Da pisst einer in die Asche seiner Herkunft. Das einzig Schöne sind die alten Songs von Degenhardt.

Am nächsten Morgen blanker Himmel. Sitze in der Sonne und trinke einen doppelten Espresso macchiato. Dann in die Albertina. Was für eine Offenbarung, trotz des allzu schlichten Titels: “Picasso – Frieden und Freiheit”. Viele der ausgestellten Bilder habe ich nicht einmal als Reproduktionen gekannt. Am schönsten eine kleinformatige Variante auf Manets “Frühstück im Freien” von 1960. Ausgerechnet dieses Werk ist nicht im Katalog abgebildet. Aber: Eine der besten Ausstellungen, die ich je gesehen habe.

Simone Signoret ist tot.

Montag, 27. September 2010 – Zehnuhrachtundvierzig, siebzehnkomma- fünf. Bedeckt. Dead like a rock. Aber auch so geschlafen.

Freitag im Ostpol in Offenbach, Samstag mit Miro und Heiner auf Schloss Johannisberg, gestern im Historischen Rathaus von Pfungstadt. Morgen nach Wien.

Zum Beispiel: Die Dame dort im roten Kostüm mit den goldenen Knöpfen, rote Stewardessenpumps mit goldenen Schnallen, eine Frisur, bei der ich unwillkürlich das Wort “onduliert” denken muss, ohne genau zu wissen, was das eigentlich heißt. In der Hand hält sie ein Glas mit bestem Rieslingsekt und … hat doch tatsächlich den kleinen Finger abgespreizt. Wir werden so aufeinander zu gespült, müssen also irgendwas miteinander machen, wenigstens: reden. Binnen fünf Minuten habe ich ihre Geschichte am Hals: gelernte Apothekerin, dann zwei Kinder, inzwischen erwachsen, jetzt ein Cockerspaniel, der Cocky heiße, derweil aber so dement sei, dass er oft die Vorderpfote hebe, wenn er pinkeln müsse. Ihr Mann – ja, dort drüben der schmale, blasse Herr -, Jurist in irgendeinem Landesministerium. Als sei es ein Naturgesetz, kommen wir wenig später auf Sarrazin zu sprechen. Wo der Recht habe, müsse man ihm auch Recht geben, sagt sie. Sie und ihr Mann nämlich, müsse ich wissen, hätten zahlreiche jüdische Freunde, Geschäftsleute, Künstler, viele Musiker darunter, auch international bekannte. “Und … glauben Sie mir, ich erkenne den Juden am Aussehen”. Ich nun, statt angemessen zu reagieren, ihr nämlich umgehend eine aufs Maul zu hauen, bin zu verdutzt, wohl auch zu feige und hebe lediglich die Brauen. “Und dann”, sagt sie, “die Überfremdung – ist doch ein Fakt, oder?” Zugeben allerdings müsse sie, dass die Ausländer die deutsche Gastronomie in den letzten vierzig Jahren massiv bereichert hätten. Ihr Mann und sie – zum Beispiel – würden immer in der Frankfurter Kleinmarkthalle einkaufen. Herrlich, die exotischen Düfte dort und wie üppig das alles drapiert sei. Dabei schaut sich mich so treuherzig an, dass ich nur nicken kann. “Tja”, sagt sie, “Gewürze präsentieren, dass kann der Orientale.”

F. ist gutwillig, aber dumm wie ein Stück Brot. Sie weiß es und tut alles dafür, dass man das nicht merkt. Was zwangsläufig dazu führt, dass niemand es übersehen kann.

Durch Jürgen wieder zur Ernst-Jünger-Lektüre gekommen. Und gleich schüttelt es mich. In Paul Noacks Biografie die interessante Information, dass “In Stahlgewittern” nicht etwa sofort nach Erscheinen in den zwanziger Jahren ein Bestseller gewesen ist, sondern erst durch die Nazis nach deren Machtergreifung dazu gemacht wurde.

Hans Grimm (“Volk ohne Raum”) ist tot.

Donnerstag, 23. September 2010 – Sechsuhrzweiundfünfzig, neunkommaneun. Über der Autobahn: rötlich der Himmel. Wacklig, fiebrig ich.

Erinnerungs-Flash: Plötzlich steht mir Franz Christoph vor Augen, an den ich lange nicht mehr gedacht habe. “Ich bin der Krüppel, der den Bundespräsidenten zwei Mal geschlagen hat”, so hat er sich vorgestellt, damals, Ende der achtziger Jahre im “Café Rowohlt”, wie das Laumer in der Bockenheimer Landstraße während der Buchmesse immer hieß. Aber erst einmal hat er seine Krücke auf unseren Tisch geknallt, weil ihm irgendwas nicht passte, was einer von uns erzählt hat. Wie er sich dann nachts schimpfend, lachend, weinend und volltrunken die Treppen in der Martin-Luther-Straße bis in unsere Wohnung hochgeschleppt hat, dort nicht mehr aufhören wollte zu schimpfen, zu lachen, zu trinken, zu weinen … Eine Zumutung war dieser Mann, ein Brüllaffe. Und ein unglaublich guter Typ. Er kam aus der Oberpfalz, aus Furth im Wald. Wo auch Sissi Perlinger herkommt. Ob die beiden einander kannten? Tot ist er seit vierzehn Jahren.

Heute vor 37 Jahren starb Pablo Neruda. Sieben Tage nachdem Victor Jara und elf Tage nachdem Salvador Allende umgebracht wurde.

Montag, 20. September 2010 – Sechsuhrzwölf, achtkommaneun. Finster. Seit kurz nach vier wach. Stechmücke.

Da ist er wieder, der schwarze Winterhund, der in den nächsten Monaten in meinem Hinterkopf scharren wird. – “Jetzt schon? Ist doch erst September.” – Ja, aber ich spür ihn schon; er ist schon da.

Letzte Woche diese seltsam berührende, unendlich langsame, schlafwandelnde Leierkasten-Version von “Am Grunde der Moldau” auf youtube entdeckt. Es singt ein Mädchen namens Jaida. Geht mir nicht mehr aus dem Sinn, dieses aufgeklärte Lullaby.

Wenn die Pharmaindustrie und die privaten Krankenkassen über den Gesundheitsminister sagen, Philipp Rösler mache “einen guten Job”, dann heißt das: Er tut so, als würde er sie attackieren, während er gleichzeitig zäh ihre Interessen vertritt, dies aber öffentlich genauso lächelnd wie ausdauernd dementiert. So geschehen gestern in “Berlin direkt”. Dass der ZDF-Mann Thomas Walde im Interview keine Sekunde locker ließ, war immerhin eine angenehme Überraschung.

Max Slevogt ist tot.

Mittwoch, 15. September 2010 – Zehnuhrneununddreißig, neunzehnkommanull. “Böser, böser Regen!”

Die IG Metall warnt das Verteidigungsministerium vor Rüstungskürzungen. Es stünden zigtausende Arbeitsplätze auf dem Spiel. Warum fordern die Gewerkschaften eigentlich nicht gleich den totalen Krieg?

Gestern muntere Runde im Literaturhaus. Die Frage, die offenblieb: Ist ein vormodernes Erzählen nach der Moderne noch möglich? Scheint jedenfalls so.
Von Herrn Hückstädt der Hinweis auf Eberhards Scheuer in Bad Soden.

Und? Die Nacktschnecken? – In Frieden verschieden!

Tot ist auch: Wolfgang Abendroth.

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Jan Seghers

und das

Heine Quartett

Was aber ist die Liebe?

Uraufführung
19. November 2010, 19.30 Uhr

Buchhandlung Schutt
(Antiquariat im Hinterhof)
Arnsburger Str. 76
Frankfurt (Bornheim)
Eintritt: € 10,–
Telefon: 069 / 43 51 73

Neunzig Minuten Literatur und Musik
Mit Texten von Villon, Heine, Flaubert …
Mit Musik von Purcell, Mozart, Schubert …

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Donnerstag, 9. September 2010 – Zehnuhrsieben, fünfzehnkommadrei. Suppe.

Jetzt ist Schluss mit dem Gemetzel, jetzt wird Schneckenkorn gekauft. – “Dann nimm aber Ferramol von Neudorff!” – Mach ich! – “Hat von Öko-Test ein ‘Sehr gut’ bekommen. Da verhungern die Schnecken ökologisch einwandfrei!”

Zu den Auseinandersetzungen um den Stuttgarter Hauptbahnhof meldet FAZ-online: “Viele Schwaben glauben: Was groß ist, ist unnötig”. Wo sie Recht haben …

Weil Hettche sich verletzt hat: Lesen, lesen, lesen … Bis nächsten Dienstag 1300 Seiten. Mosebach, Franzen, Kracht, Potente.

Toulouse-Lautrec ist tot.

Montag, 6. September 2010 – Achtuhrachtundvierzig, achtzehnkomma- sieben Grad. Geschlafen? Very good! Wenn das Wetter doch das ganze Jahr so wäre.

Wie jeden Morgen dieser Tage noch in der Dämmerung auf Schneckenjagd gegangen.

Nachdem sich Thilo Sarrazin zur Stimme der dröhnenden Mehrheit gemacht hat, springt ihm sein Volks- und Parteigenosse Klaus von Dohnanyi in der Süddeutschen Zeitung zur Seite: “Der öffentliche Reflex erinnert an die beschämende Behandlung von Martin Walser, als sich 1998 nach seiner Rede zwar die Paulskirche zu Ovationen erhob, doch dieselbe, die Zivilcourage ständig beweihräuchernde Gesellschaft, war nicht mehr zu hören, als Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, gegen den Schriftsteller seinen Bannfluch ‘geistiger Brandstifter’ ausgestoßen hatte.”
Mal abgesehen vom miserablen Deutsch – So sollen wir es also verstehen: Nicht das ehemalige NSDAP-Mitglied Martin Walser ist der Täter, sondern der Jude Ignatz Bubis.
“Deutschland, die verfolgende Unschuld” (Karl Kraus)

Interessant dazu auch eine Geschichte, die Günter Amendt erzählt. Nachdem er 1978 Bob Dylan auf seiner Europatournee begleitet hatte, begegnete er zufällig Martin Walser in den Redaktionsräumen der Zeitschrift konkret: “Er, der seine Worte besonders behutsam, nach meinem Geschmack behäbig zu setzen pflegt, fragte mich, von meinen Beobachtungen und Betrachtungen zu Dylans 78er-Tour offenbar gelangweilt, plötzlich nicht ohne einen aggressiven Unterton, was eigentlich an diesem ‘herumzigeunernden Israeliten’ Besonderes wäre.”

Von seiner Partei, der SPD, wo er seit vierzig Jahren Mitglied sei, sagt der nette Herr K., erwarte er nichts Gutes mehr. Zumal nicht mehr jetzt, da sich in der Online-Community Wer-kennt-wen eine Gruppe Sozialdemokraten aus seiner Heimat zusammen gefunden habe, die öffentlich verkünde: “Wenn Sarrazin gehen muss, gehen wir!”

Heute vor achtunddreißig Jahren wurden auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck neun israelische Sportler von ihren palästinensischen Geiselnehmern ermor- det.