Geisterbahn

Mittwoch, 28. März 2012 – Neunuhrfünfzig, zehnkommazwei. Seit Tagen schön. Blau mit Wolkenfetzen.

Gebeten, eine kleine Kolumne zu verfassen, sagte ich ja, schrieb sie und nannte sie “Stiller Sturm”. Als Wochen später das Magazin erschien, fanden sich dort mein Name und mein Foto, aber irrtümlicherweise der Text eines anderen Autors. Deshalb jetzt hier:

Ums Bett stapeln sich Bücher. Wie von selbst. Wie immer. Einschlafbücher, Aufwachbücher. Momentan: mal wieder die alltagswuchtigen Tagebücher John Cheevers, Max Frischs traumwandlerisch modernes „Montauk“, Adornos Poesiealbum der „Minima Moralia“, „The Drop“ von Michael Connelly. Und die gerade mit Vergnügen beendete kecke „Jane Eyre“ der Pfarrerstochter Charlotte Brontë.
Ist noch zu früh fürs Bett, also erst noch ein wenig Fernsehen. Aber überall nur Simulation, nur Bildmüll, Wortmüll, Kopfmüll. Hängen bleibe ich schließlich, als ein alter Mann, einst Mitglied der kambodschanischen Roten Khmer, vorführt, wie er seinen Gegnern mit einem Messer die Kehlen durchtrennt hat. Oft seien es so viele Kehlen gewesen, dass ihm die Hände geschmerzt hätten, dann habe er stattdessen zur Abwechslung in den Nacken gestochen. Aber schon die demonstrative Betroffenheitsmiene der anschließenden Moderatorin lässt mich wieder abrutschen. Fernseher aus!
Stattdessen gerate ich – fast unversehens – auf youtube an ein Gespräch, das Günter Gaus für die ARD im Jahr 2001 in der JVA Bruchsal mit dem ehemaligen RAF-Mann Christian Klar geführt hat. Der sitzt zu diesem Zeitpunkt seit 19 Jahren im Gefängnis. Klar ist kein Verblendeter, kein Spinner, kein Fanatiker. Stattdessen erleben wir einen zutiefst versehrten, aber keineswegs zerstörten politischen Menschen. Seinem Gesicht ist anzusehen, was er gemacht und was man mit ihm gemacht hat. Diese 50 Minuten sind ein stiller Sturm. Man sieht und hört das. Man erschrickt. Und wird es nie wieder vergessen.
Was bleibt? Ein Fernsehabend, der keiner wurde. Und die Erinnerung daran, was Fernsehen einmal konnte. Zurück zu den Büchern!

Tot ist Maria Augusta Trapp, Autorin von “Die Trapp-Familie. Vom Kloster zum Erfolg”, eines der Bücher, die in Opas Regal neben den Buddenbrooks, dem Archipel Gulag und Doktor Schiwago standen.

Mittwoch, 21. März 2012 – Vieruhrzweiundfünfzig, einskommasechs. Dunkel. Schon die Autobahn, schon die Vögel. Schluss mit der Entgeisterung.

Am Sonntag Saisoneröffnung in Niederdorfelden. Achtzig Kilometer durch den kalten Regen. Mit dreißig hausgemachten Bratwürsten als Beute nach Hause.

Montag: Kai Degenhardt im Club Voltaire. Ein Ort, als habe man die frühen siebziger Jahre plastiniert. Und so ist auch das Publikum: jauchzt und feixt, wenn die eigene Gesinnung durch ein Zauberwort des Künstlers gestreichelt wird. Gruselig.
Erich Schaffner erzählt, er sehe sich, seit er in Wolfgang Spielvogels Theaterstück “Buback” die Titelrolle spiele, den Attacken des in Frankfurt lebenden ehemaligen RAF-Mannes Günter Sonnenberg ausgesetzt, dessen Entourage einen Tisch weiter … Was für Geschichten, was für ein Land …
Und diese Frau, die mich so voller Verachtung, so ganz und gar hasserfüllt ansieht, wie es mir eigentlich noch nie widerfahren ist. Regelrecht zerfressen muss sie sein, die Dame, inwendig.
Als Atilla und ich schließlich mit unseren Mountainbikes durch die nächtliche Stadt brettern – jawohl: brettern – stellt uns im Oeder Weg doch prompt ein Streifenwagen, weil wir nicht Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten … nein, weil wir angeblich eine rote Ampel undsoweiter …

Dienstag, ins Frühbeet gesät: glatte Petersilie, Thai-Basilikum, Pimpinelle, großröhriger Schnittlauch, Knoblauch-Schnittlauch, rote Asia-Rauke, Rucola, Kerbel, Sauerampfer, Estragon, Tetra-Dill.

In seiner Kolumne wundert sich Jan Fleischhauer über die Zustimmung, die der neue Präsident bei SPD und Grünen findet: “Mit Joachim Gauck haben sie den konservativsten Bundespräsidenten gewählt, den Deutschland je hatte. Was das linke Lager heute als Sieg feiert, wird dort morgen schon als gewaltiger Irrtum gelten.”
Und zum ersten Mal finde ich mich in der misslichen Lage, Fleischhauer Recht geben zu müssen.

Im “Grünen Heinrich” gefunden: “Papierblumenfrühling”.

Passt: Todestag des “Kräuterpfarrers” Hermann-Josef Weidinger.

Dienstag, 13. März 2012 – Neunuhrfünfundzwanzig, sechskommaeins. Und … wo ist sie jetzt, die Sonne?

Wenn einem als Erwachsener ein anderer Erwachsener ein Märchen erzählt – wie Jörg neulich mir das von der “Klugen Else” -, dann wird man das unter die seltenen Momente der Gnade verbuchen dürfen.

Erinnerung: Wie Wolfgang Deichsel einmal in den Verlag kam, unterm Arm eine Kiste toter Frösche, deren plattgefahrene Kadaver er von der Straße aufgelesen hatte. Er wollte sie fotografiert haben – als Anschauungsmaterial für eine “Theorie des Platten”.

Max Reger, heißt es, habe Kritiken seiner Arbeit mit Vorliebe auf dem Klo gelesen. Mit folgenden Worten wandte er sich von dort aus an einen Rezensenten, der ihn verrissen hatte: “Ich sitze hier im kleinsten Raum und habe ihre Kritik vor mir. Gleich werde ich sie hinter mir haben.”

Durch mit André Müllers Buch über seine Begegnungen und Gespräche mit Peter Hacks. So klug Hacks war, so starrsinnig war er auch, so sehr fixiert auf seine Gegner. Seine eigene Haltung ließ er sich von diesen insofern diktieren, dass er immer die am weitesten entfernte Position suchte. Was auch eine Form der Anpassung ist und einem Klassiker, der er partout sein wollte, dann doch nicht recht angemessen.
Seine Opposition reichte bis zur Wahl der Grabstätte. Keinesfalls mochte er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt werden, wo Hegel, Brecht, später Heiner Müller und Marcuse begraben wurden. Hacks: “Die Vereinigung der Konterrevolutionäre ist nun vollständig.”

Todestag von Kieslowski.

Dienstag, 6. März 2012 – Fünfzehnuhrsechsundfünfzig, zehnkommaacht. Schönster Tag des Jahres. Frühstück mit Katja Sämann im “Margarete”, Schlenker durch die Stadt und die halbe Welt läuft uns übern Weg.

Gestern Geisterbahn im Literaturhaus, dort das Gespräch zweier Damen:
“Isch geh gern zu so Dischderlesunge. In Bernem machese so was aach alsemo.”
“Ja, wann isch e Buch les, brauch isch net emo de Fännseher.”
“Isch iwwerleesch grad, ob isch mer gleisch e Buch kaaf.”
“Des braachsde ned, isch hab die all dehaam, die kannste von mir krieje.”
“Isch maan doch des neue.”
“Awwer 25 Euro sinn net wenisch.”
“Ja, awwer da könnt isch heut e Unnäschrift krieje.”
“Ach so. Ei waaste was, wenn de des willst, do deil mers uns halt. Isch
geb die Hälft dezu, un dadefier deff ischs zuerst lese. Un wenn ischs
fertisch hab, geb isch dirs und da haste dei Unnäschrift.”
“Ei ja, so kenne mers mache.”
(Protokoll Brigitte P.)

James Bowie ist tot. Der mit dem Messer.

Freitag, 2. März 2012 – Zehnuhrsechsundfünfzig, sechskommavier. Verhangen. Nach dem Aufwachen ein bisschen im Pepys gelesen. Auf Diät. Keine Kohlenhydrate, kein Fett. Nichts. Schon wieder März.

In der Braubachstraße hat das “Margarete” eröffnet, zwei lang gestreckte Räume, vorne Glas, hinten Glas – vielleicht das schönste Aquarium der Stadt. Eine Kantine, in der man überall hinschauen mag: Holz, Beton, Stoff und diese wunderhübschen Lampen. Das Essen – ja, was soll man sagen, ohne in das Gastro-Jubel-Gestammel eines Gourmetdeppen zu verfallen? Ein süßer Foies Gras mit einem Streifen Mohn, Fisch mit Schweineschnauze, geräuchertes Dessert. Und das soll schmecken? Tja, wenn es doch so ist. “Echt lecker”, sagt jemand am Nebentisch, “aber ob die Portionen immer so klein sein werden?” Und Charlotte bemerkt, dass ihr die zunehmende Ausbreitung der Edelfressen nicht ganz geheuer sei. Wo ja nun auch wieder was dran ist.
Die Eröffnungsfische schwimmen so rum. Designer. Funktionäre. Fotografen. Lieferanten. Gastronomen. Politik. Kultur.
Die Kollegin F. beklagt, dass der Dichter M. sich ihr gegenüber in letzter Zeit recht spröde zeige, da er sich offensichtlich “den Anderen” zugewandt habe. Zum ersten Mal begreife ich, dass es selbst in der winzigen literarischen Szene dieser Stadt Fraktionen gibt. Bin froh, es bislang nicht bemerkt zu haben und nehme mir vor, es auch künftig nicht bemerken zu wollen.
No, no, no, I do not fit. No, no, no, I’m no part of it!

Heute vor vier Jahren starb im Alter von 41 Jahren der großartige Gitarrist und Sänger Jeff Healey an den Folgen eines bösartigen Netzhauttumors, der ihn schon als einjähriges Kind hatte erblinden lassen.