Geisterbahn

Montag, 24. September 2012 – Neunuhrdreiundvierzig, dreizehnkomma- acht. Regen. Und das nach diesem wonnigen Wochenende in der alten Mühle von Freienhagen.

Auf der Rückfahrt gestern im Autoradio ein Zitat von Nestroy: “Wenn alle Stricke reißen, hänge ich mich auf. Aber erst dann.”

Und heute in Ernst Johanns alter Monografie drei Sätze aus einem Brief Georg Büchners an seinen Freund August Stöber: “Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen.”

Achter Todestag von Francoise Sagan.

Dienstag, 18. September 2012 – Fünfuhrneununddreißig, zehnkommadrei. Dunkel. Sterne.

Morgens jetzt ein kalter Hauch. An den Rändern die letzten Wegwarten.
Und Goldruten, das Gold schon verblassend.
Grauhaarige Sonntagsfrauen mit ihren grauhaarigen Sonntagshunden.
Die Felder leer, die Erde wird gewendet.
Auf der Uferwiese noch ein Mädchen im Bikini. Das Gesicht der sinkenden Sonne zugewandt, die Augen geschlossen.
Ein Ruderboot zieht vorbei. Dann ein Lastkahn.
Man hört schon die Raben.

Der Kollege M. am Telefon: „Wenn das doch ginge: In Ruhe gelassen werden, ohne aus der Welt zu fallen. Nichts gefragt werden und trotzdem nicht ganz ungefragt sein.“

Was für eine Entdeckung: „Die Regenschirme von Cherbourg“ von Jacques Demy. Und am Sonntag mal wieder: „So sind die Tage und der Mond“.

Seit einem Jahr ist Kurt Sanderling tot. Immerhin Anlass, das lange Gespräch nachzulesen, das er 2007 mit der “Jüdischen Zeitung” geführt hat.

Mittwoch, 5. September 2012 – Elfuhrneunundfünfzig, achtzehnkomma- sieben. Gräulich.

Aus der Reihe „Knalldoof auf Sendung“: In der Kulturzeit-Ausgabe vom letzten Freitag heißt es über den neuen Film von Leo Carax: „Er gibt keine Antworten; er stellt nur Fragen.“ Da gleicht dieser Film dem deutschen Kulturjournalismus. Statt auch nur eine riskante Antwort zu wagen, stellt man dort lieber die immer gleichen dusseligen Fragen.
Stefan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat – wie viele andere Juden – die Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler kritisiert. Tina Mendelsohn, Moderatorin der Kulturzeit in Deutschland, möchte ihn dafür desavouieren und tut dies sicherheitshalber in Form einer Frage: „Stefan Kramer, der übrigens im Erwachsenenalter zum Judentum konvertiert ist – warum ausgerechnet er sich so aus dem Fenster lehnen muss?“ Um dann Salomon Korn, den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit Fragen zu traktieren, die alles sagen sollen, aber lieber nichts gesagt haben wollen:
„Herr Korn, wird das langsam zur Routine, dass der Zentralrat der Juden bei wichtigen Preisverleihungen wegen Israelkritik Protest erhebt und sogar mit Boykott droht?“
„Ist das Kritik, Herr Korn, das gab es ja mal, sagen wir mal im Sozialismus der DDR, dass man Kosmopolitismus kritisiert hat, dass man global denkende Menschen kritisiert hat?“
„Muss man eine Anleitung haben, sozusagen, wie weit man Israel kritisieren darf?“
„Das heißt, man darf Kritik üben?“
„Aber würden Sie nicht sagen, auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland muss die Meinungsfreiheit wichtig sein?“
„Würden Sie nicht sagen, dass sich der Zentralrat da selber schadet, dass das Deutschland doch in ein gewisses provinzielles Licht setzt, dass man mit einer solchen Frau nicht diskutieren und streiten kann?“
„Das heißt der Zentralrat der Juden wird die Preisverleihung boykottieren, wird dort fernbleiben?“
Es war der israelische Historiker Shlomo Avineri, der Tina Mendelsohn einmal vor laufender Kamera angeschrieen und sie als „das Dümmste und Blödeste“ bezeichnet hat, was er sich vorstellen könne. Der Langmut von Salomon Korn war bedauerlicherweise bedeutend größer.

In der heutigen Süddeutschen Zeitung schreibt die Überlebende der Shoah und Präsidentin der israelitischen Gemeinde Münchens Charlotte Knobloch: „Seit sechs Jahrzehnten muss ich mich rechtfertigen, weil ich in Deutschland geblieben bin – als Überbleibsel einer zerstörten Welt, als Schaf unter Wölfen. (…) Erstmals geraten nun meine Grundfesten ins Wanken. Erstmals spüre ich Resignation in mir. Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will.“

Am 5. September 1969 starb in Schleswig Hans-Joachim Rehse, Richter am Volksgerichtshof und dort mitverantwortlich für 231 Todesurteile.