Geisterbahn

Donnerstag, 25. Oktober 2012 – Neunuhrsechsundvierzig, neunkomma- null. Grau. Feucht. Nebel.

Sonntag: Training, abends Ute. Montag: Training und Mozart mit Ellen Schulz und Norbert Saßmannshausen. Dienstag: Training und Mozart mit Wolfgang Eilmes; abends Jürgen.
Gestern mit Martin und seiner kleinen Schar in der Stalburg: Becketts “Glückliche Tage”. Am Ende muss ich mir rasch die Tränen aus den Augen wischen, so hat es mich angegriffen. Dabei spielt Anke Sevenich die Winnie ganz unsentimental, stattdessen wunderbar ausbalanciert, wie der Text es nahelegt: traurig, trotzig, hinfällig, spöttisch, liebevoll. Was für eine großartige Schauspielerin. Und wie sie sich freut, dass mit Paula wenigstens eine Jugendliche unter den Zuschauern war.

“Dass du die Geisterbahn vernachlässigst”, vermutet Martin, “liegt wohl auch daran, dass du dieser Tage oft genug rausgehst.” So wird es wohl sein. Wer in der Welt ist, muss kein Fenster zu ihr aufstoßen.

Peter Handke im Gespräch mit Kulturzeit: “In den Herzen der Menschen ist der Weltkrieg schon in Gang”.

Mary McCarthy ist tot.

Samstag, 13. Oktober 2012 – Achtzehnuhreinundzwanzig, elfkommazwei. Noch blau und weiß. Schon ein wenig dämmerig.

Am Dienstagmittag mit dem schwarzen Mountainbike zum Frankfurter Hof, ins Oscars. Sonnig. Was für ein Auftrieb. Das halbe Verlagsgewerbe schwimmt hier umeinander, vielleicht auch das ganze. In Maßen gut gekleidet. Graue Geschäftigkeit. Lässig-joviale Bewegungen. Lächeln, lächeln, lächeln. Alles Lüge. Sofort reagiere ich mit Fluchtreflex, aber bin ja verabredet. Grusche und Katrin. Na ja, Rowohlt geht’s noch leidlich, vergleichsweise. Die Branche befindet sich im freien Fall. Die Umsätze sind eingebrochen; die Literaturpreise sind wertlos geworden; die Feuilletons werden nicht mehr gelesen; den Kritikern glaubt niemand mehr; die Töne sind zu lange zu schrill gewesen und werden noch schriller. Hilft alles nichts: es geht zu Ende. Noch einmal simuliert man eine Woche lang Leben.
Sollen wir, wollen wir wirklich am Mittwoch in die Schirn, aufs Verlagsfest? Sehr, sehr voll soll es werden, hört man. Man schart sich um einander. Aber nein, allein der Gedanke macht mich panisch.
Donnerstagabend dann Treffen mit Chr. und Rolf-Bernhard in der Stadt. Wieder ist alles bevölkert mit Messebesuchern: der Fundus, das Merkez, selbst das Mosel-Eck, wo jetzt wieder geraucht werden darf.
Freitag um 15 Uhr erneut ins Mozart; scheint, als würde dieses Café mein Aquarium. Katja ist schon da, lacht, ganz offen, ganz bei sich. Soll doch der Buchhandel dicht machen, so lange wenigstens der Wein im Herbst noch gelesen wird …

Zum ersten Mal lese ich Unsicherheitsrat statt UN-Sicherheitsrat …

Todestag von Erich Auerbach.

Montag, 8. Oktober 2012 – Sechsuhrdreizehn, vierkommazwei Grad. Gefühlt: unter Null. Dunkel. Wieder erkältet.

Als ich mich am Freitag mit dem netten Mario Scalla treffe, schon wieder im Café Mozart, und meinen doppelten Espresso Macchiato bestelle, sagt die Kellnerin: “Also wie immer.” – Und? Was mache ich jetzt? – “Ich würde mir überlegen, das Café zu wechseln”, sagt C. – Aber nee, ich denke ja gar nicht dran.

Gestern Jahresabschlussfahrt mit den Ritzeln durch die Wetterau. Nach 50 Kilometern breche ich völlig ein, würde mir am liebsten sofort ein Taxi bestellen. Zum Glück bleibt Gepetto bei mir, kümmert sich rührend, unterhält mich, lenkt mich ab von meinem Elend. Und wirklich, zwanzig, dreißig Kilometer später komme ich wieder in Tritt … nun ja, halbwegs in Tritt.

Am Spätnachmittag stehen wir mit Lea und Jörg auf dieser Wiese am Rheinufer bei Hattenheim, jeder ein Gläschen in der Hand, den kleinen Finger abgespreizt und schauen zu, wie die Sonne hinter den nebligen Höhen des Hunsrück verschwindet.
Um kurz darauf zu erleben, wie sie im Weingut Trenz in Johannisberg noch einmal aufgeht. Echt ein guter Ort.
Aber diese Fleischberge auf den Tellern am Nebentisch …

Todestag der Marie Friederike Leopoldine Georgine Auguste Alexandra Elisabeth Therese Josephine Helene Sophie von Sachsen-Altenburg.

Montag, 1. Oktober 2012 – Vierzehnuhrdreißig. Heute morgen die Winterjacke aus dem Keller geholt und ins Café Mozart gefahren zum Gespräch mit Constanze Kleis. Jetzt siebzehnkommaneun Grad.

Auf einer Reise durch Schottland stellt Fontane fest, dass seine brandenburgische Heimat nicht minder schön sei und fordert sich selbst auf: “Geh’ hin und zeig’ es!” Ein Satz, der über dem Schreibtisch jedes Autors hängen könnte.

Was für ein gigantischer Vergangenheitsflash dieser Tage. Vor einer Woche das Treffen mit Theo und den Mitschülern, dann am Samstag in Marburg: Bernd und Uli, Holger und Andrea. Heute noch Post von Winfried aus Bremen mit zwei CDs von Jahrgang ’49. Und statt wie sonst, mich vor den Reminiszenzen zu fürchten, aale ich mich darin.

Gestern schöner Nachmittag mit Christian im Garten – drei Stunden, dem Herrgott geklaut.

In der Sonntags-FAZ beschreibt Christiane Hoffmann eine gespenstische Szene. Auf dem großen Festakt aus Anlass des Jubiläums von Helmut Kohls Kanzlerschaft sitzt der Geehrte am Ende allein im Rollstuhl, umgeben von leeren Stühlen. Schließlich schiebt man ihn, zu dem sich niemand mehr setzen will, in einen Abstellraum mit Wäschewagen, wo er warten muss, bis irgendwer ihn abholt.

Siebzig Seiten in Fontanes “Stechlin”. Aber das ist ja gar nicht auszuhalten, so steif, so statisch, so umständlich. Bräsige Dialoge verstellter Figuren. Oder liegt es an mir? Muss ich es später noch mal versuchen?

Emil Bahr ist tot, der stärkste Mann der Welt.