Geisterbahn

Donnerstag, 26. September 2013 – Achtzehnuhrvierundvierzig, siebzehnkommaneun. So richtig sonnig kann man das nicht nennen.

Heute Trauerfeier für Reich-Ranicki auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Vierzehnuhrdreißig, noch eine halbe Stunde Zeit. Überall schwarzgewandete Security-Gorillas mit Knöpfen in den Ohren – laufen rum, lauernd, energetisch, raumgreifend, flüsternd. Vor der Trauerhalle ein kleines Carré, abgesperrt mit gelbschwarzem Plastikband, darin die Fotografen und Kameraleute. Es wird gelacht, aber leise, mit schlechtem Gewissen.
Wie es sich für den ungeladenen Chronisten geziemt, mische ich mich unter die wenigen Zaungäste, die auf den Stufen stehen und den Eingang beobachten. “Ist das der Gauck?” – “Nee, der Gauck ist kleiner und kommt mit dem Auto.” – Der Kritiker Karasek betritt das Gelände, wehenden Rockes, breit, teigig, unübersehbar. In meiner Umgebung erkennt ihn niemand. Volker Hage, grau, unbekannt, keiner fragt ihn was. – “Ist das die Frau Radisch?” Nee, sage ich. Aber eine halbe Minute später kommt sie und ich sage: Das ist die Frau Radisch! – “Im Fernsehen sah die immer so zierlich aus.” Tja. – “Guck ma, der Gottschalk.” – “Ja, Mensch, klar, da isser ja. Mensch, der Gottschalk und der Dings, der Dings, wie heißt er noch, der Herausgeber?” – Schirrmacher. – Peter Feldmann kommt, der Oberbürgermeister, zu Fuß, vielleicht mit der Straßenbahn, bescheiden wie der neue Papst und weiß nicht recht, wohin mit sich. Dann die ersten beiden Limousinen. “Der Gauck, der Gauck?” – Nein, sage ich, das ist Salomon Korn. – “Ach so, der von der Dingsbums-Gemeinde”. – Zwei weitere Limousinen. Bouffier. “Eingetroffen, der Ministerpräsident”. Lässt sich brav fotografieren. Tut ein wenig so, als sei es ihm unangenehm. Wendet sich schließlich brüsk ab. Gehört wahrscheinlich dazu. – Es ist kurz vor drei. Der Polizist direkt vor uns zückt sein Telefon: “Noch drei Minuten”, sagt er leise. Man hört schon die Martinshörner. Dann wieder schwarze große Autos, wieder springen schwarze Gorillas raus. “Eingetroffen”, sagt der Polizist in sein Telefon, “der Präsident”. Peter Feldmann begrüßt sie alle, bemüht um Haltung, aber sein Gesicht zuckt vor Überforderung. Interessant, was für ein mimisches und gestisches Gerangel stattfindet auf diesen Ebenen.
Die hundertfünfzig offiziellen Gäste sind drinnen in der Trauerhalle. Wir wenigen hier draußen sind die Inoffiziellen und hören die Reden über Lautsprecher. Begrüßung durch Rüdiger Vollhard. “Wer Marcel Reich-Ranicki kannte, wird zeitlebens nicht aufhören, ihn zu vergessen”, sagt er. So was kann passieren. Peter Feldmann hält eine graue Rede. Volker Bouffier hält eine laute, dumme Rede, eingemeindend, die Täter exkulpierend: “Ein großer Hesse”, “ein großer Frankfurter”. Reich-Ranicki habe sich den “Stürmen der Verfolgung entgegengestemmt”. Stürme der Verfolgung. So entsorgt man Geschichte und unangenehme Zeugen. Was für ein Klotz. Aber niemand schreit. Kein Bubis weit und breit. Petra Roth hält eine persönliche Rede, respektvoll, freundschaftlich, dankbar. Schirrmacher spricht. Rachel Salamander spricht. Dann der kluge Salomon Korn. Fast laut wird er, als er die Eingemeindungsversuche zurückweist. Reich-Ranicki sei ein Heimatloser gewesen, der sich zeitlebens gewappnet habe gegen die Deutschen. Ihre Hochzeitstage hätten er und Tosia grundsätzlich im Ausland gefeiert. Schließlich Gottschalk, bescheiden, angemessen, genau – na ja, fast.
Die uniformierten Sargträger drücken sich so rum, lachen, rauchen. Jeder will noch mal den Präsidenten und Gottschalk sehen.
Ich gehe jetzt nach Hause und frage mich auf dem ganzen Heimweg, warum bei der Beerdigung von Matthias Beltz mindestens zwanzig Mal so viele Trauergäste anwesend waren wie heute. Was für ein merkwürdiges Land. Aber alle finden alles in Ordnung.

Heute vor dreiundsiebzig Jahren nahm sich der deutsche Jude Walter Benjamin auf der Flucht vor seinen Landsleuten in Port Bou das Leben.

Donnerstag, 12. September 2013 – Elfuhrdreiundzwanzig, dreizehn- kommaneun. Bedeckt.

Heute Morgen, etwas dumpf im Kopf, möchte ich aus gegebenem Anlass wissen, was die Ines Pohl, Chefredakteurin der taz, eigentlich für eine ist. Will taz-online öffnen, werde aber erstmal durch einen Spendenaufruf gestoppt: “Es gibt viele Gründe, für die es sich lohnt, zu kämpfen.” Kann man diesen Satz verstehen? Wie kann man für einen Grund kämpfen? Nein, ich möchte nicht für eine Zeitung spenden, die nicht einmal in der Lage ist, ihre Leser verständlich anzubetteln.
Also weiter, also Ines Pohl: 1967 geboren, Studium an der Georg-August-Universität in Göttingen, dann dort Frauenbeauftragte, Volontariat bei der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen, nach zehn Jahren Leiterin des Ressorts Politik. Als sie im Juli 2009 zur Chefredakteurin der taz wird, stellt sie sich den Leserinnen und Lesern selbst vor. Schon dieser Text zeugt von einer so glatten Schlichtheit, dass man seine Autorin zur Kristina Schröder der deutschen Tageszeitungen küren möchte, eine Badezimmerkachel des Journalismus. In einem Artikel vom 4. Juli 2013 beschreibt Ines Pohl dann die Feier ihrer Hochzeit mit einer Frau: “… wenn schon ein Fest, dann Klärchens Ballhaus, im Herzen Berlins. Eine historische Stätte der Begegnung, in allem gepflegt-inszenierten Verfallen perfekt.” Auf den Gedanken, aus dem Verfall ein Verfallen zu machen, kann wohl nur jemand verfallen, der das Verfallsdatum seiner Texte noch vor deren Erscheinungstag ansetzt. “Welche Woge des Getragenseins und Ernstgenommenwerdens eine durchfließt, die ihre Liebe zu einer Frau feiern lässt.” – Nun ja: alles fließt. – “Die Philosophie der Flusspferde” hat Gottfried Benn so etwas genannt. Frau Pohl ist sich einig: “… an diesem Freitag wurde etwas angerührt, wo mein Verstand nicht hinreicht.” Das freilich muss nicht viel heißen.

Todestag von Claude Chabrol.