Geisterbahn

Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Ein Roman

Dienstag, 25. Juli 2006 – Dreizehnuhrvierzehn, dreißigkommaein Grad.
Rasiert, geduscht, Laugenbrötchen gegessen, in die Stadt gefahren, Haus gekauft, zurück gefahren, gelesen, dass Jan Ullrich kein Mörder ist und die Tour de France 2007 gewinnen will, dass Stuckrad-Barre jetzt in Frankfurt wohnt, dass Rudi Carrell im engsten Familienkreis beigesetzt wurde, paar Mails geschrieben, paar Telefonate geführt … und wieder schon so müd.
Tot sind Otto Dix und John Schlesinger

Freitag, 21.Juli 2006 – Elfuhrzwölf, achtundzwanzigkommasieben Grad

Vorgestern geisterte die Meldung durch die Welt, Rolf Aldag habe seinen ehemaligen Teamkollegen Jan Ullrich angegriffen und berichtet, es seien immer wieder dunkle Gestalten durch die Flure der Hotels gehuscht, in denen die Fahrer während der Rennen wohnten. Gestern nun erzählte Aldag, Jan Ullrich habe ihn angerufen und erstaunt gefragt, ob er dergleichen wirklich gesagt habe. Nein, erwiderte Aldag, das Gegenteil habe er gesagt. Er habe betont, dass ein so aufwändiges Doping, wie jenes, dass man Ullrich unterstellt, nicht ohne fremde Hilfe durchführbar sei. Er aber habe niemals irgendwelche dunklen Gestalten auf den Fluren der Hotels gesehen. Interessant daran ist weniger die Falschmeldung, als vielmehr die Tatsache, dass Ullrich seinen alten Helfer anruft. Tut das jemand, der ein schlechtes Gewissen hat?
Tot sind Henry Vahl, Ludwig Renn und Einar Schleef, den keiner so beherzt parodieren kann wie Thorsten Becker.
Donnerstag, 20. Juli 2006 – Zehnuhrneununddreißig, siebenundzwanzigkommaacht.

Was ich heute alles nicht wissen will: Dass Ahmadinedschad einen Brief an Angela Merkel geschrieben hat. Dass der Smart-Roadster wieder belebt wird. Dass eine Python eine Heizdecke gefressen hat. Ob alles klar ist mit Van Nistelrooy. Dass Pamela Anderson wieder heiraten will. Ob es bald ein Potenzmittel aus der Tube gibt. Was die Exfrau von Ottfried Fischer in ihrem Enthüllungsbuch schreibt. Was Rudi Carrell sonst noch alles getrieben hat. Dass Tila Tequila eine begehrte Frau ist. Was Wolfgang Petersen in seinem neuen Film der Welt mitzuteilen hat. Wie der Dax steht. Auf welche Weise Franz Josef Wagner sein Hirn so weich bekommen hat …
Im Tode vereint: Pancho Villa, Ludwig Beck, Werner von Haeften, Paul Valery, Friedrich Flick, Bruce Lee und James Doohan, der Scotty aus „Raumschiff Enterprise“.
Mittwoch, 19. Juli 2006 – Zehnuhrsechzehn, fünfundzwanzigkommazwei.

F., ein entfernter Bekannter, wird allgemein geschätzt, weil er ein anregender Gesprächspartner ist, der gleichermaßen durch seinen Charme und seine Schlagfertigkeit besticht, und weil er einen unvergleichlich angenehmen Humor hat. M. nun, die F. in letzter Zeit etwas näher kennengelernt hat, kommt derweil zu einem anderen Urteil. In Wahrheit verstelle sich F. in der Öffentlichkeit, tatsächlich sei er ein zutiefst depressiver Mensch. Verstellt er sich? Oder wahrt er nur die Contenance und vermeidet es, seine Umgebung zu behelligen mit seinen womöglich begründeten Stimmungen?
Charlotte Corday, die Mörderin Marats, wird durch die Guillotine hingerichtet. Paolo Borsellino, sizilianischer Richter und sogenannter Mafia-Jäger, wird durch eine Autobombe getötet.
Dienstag, 18. Juli 2006 – Fünfuhrfünfzig, zwanzigkommaein Grad.

Mit Berufung auf eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung meldet die Süddeutsche Zeitung, dass die sozialen Gegensätze in Deutschland niemals so groß gewesen seien wie heute. Während die Schere zwischen den Beziehern hoher und niedriger Einkommen immer weiter auseinander gehe, sei zugleich die Armutsrate auf ein Rekordniveau von 17,3 % geklettert.
„Bild“ fragt: „Wollen wir uns alle duzen?“
Heute vor 11 Jahren starb der italienische Radprofi Fabio Casartelli nach einem Sturz auf der Abfahrt vom Col de Portet d’Aspet. Vor einem Jahr starb die australische Radrennfahrerin Amy Gillett beim Training für die Thüringen-Rundfahrt, als eine 18jährige Autofahrerin in der Nähe von Zadelsdorf frontal in die Trainingsgruppe fuhr.
Montag, 17. Juli 2006 – Sechsuhrdrei, achtzehnkommazwei.

Am Samstag erst Probe bei Atilla, dann am Nachmittag über die A66 an Wiesbaden vorbei, die Bäderstraße hoch Richtung Bad Schwalbach, ein Schwenk nach Südwesten über Nastätten Richtung Rhein. Weiden heißt der kleine Ort an der Loreley, wo Jörg für uns einen Auftritt im Restaurant Hannott’s organisiert hat. Eine ehemalige Scheune aus Natursteinen, jetzt liebevoll umgebaut – und einer der schönsten Orte, die man sich vorstellen kann. Wir sitzen im Garten, plaudern, scherzen, als man plötzlich einen kleinen Knall hört. Ein Vogel ist gegen ein Fenster im ersten Stock geflogen, dann herunter gefallen und liegt nun auf einem der Tische, zuckt noch ein wenig, aber ist wohl schon tot. Ein Eichelhäherweibchen.
Dann unser Auftritt; und wieder merken wir nicht, wie es ankommt, haben beide die Befürchtung, dass es diesmal schief gegangen ist. Aber es kommt wie jedes Mal: im Laufe des Abends stellen wir fest, dass alle etwas anderes erwartet hatten, aber sehr zufrieden sind. Völlig erschöpft nach Hause.
Sonntag; die Schulter tut immer noch weh, das Halskratzen ist auch noch da. Kurzer Blick ins Netz: Ach, wie gut: Jens Voigt hat die gestrige Etappe der Tour gewonnen. Kleine schwächelnde Runde am nördlichen Stadtrand entlang, dann an den Main und immer am Ufer auf und ab, auf der Suche nach der Stelle, wo das Boot mit den Leichen gefunden werden soll.
Lance Armstrong hat die Franzosen „Weltmeister im Arschlochdoping“ genannt. Wahrhaftig, man möchte Zinedine Zidane noch einmal von der Kette lassen.
Abends in den Günthersburgpark, wo ich aus „Die Braut im Schnee“ lese. Der freundliche Michi Herrl führt mich zu einer Schülerin, die während der Ferien eine Arbeit über „Ein allzu schönes Mädchen“ schreiben soll. Viele Bekannte, Woodstockatmosphäre, unruhig, aber gar nicht störend. Hinterher signieren, plaudern, trinken. Sehr müde, sehr erschöpft. Und wieder die Erfahrung, dass mich Leute begrüßen, mich freundlich-vertraut ansprechen, mich duzen, und ich komplett ahnungslos bin, wen ich da vor mir habe. Passiert zu oft in letzter Zeit.
Tot: Lovis Corinth, Billie Holliday, Jörg Fauser.
Freitag, 14. Juli 2006, Revolutionstag – Siebenuhrneunundzwanzig, zwanzigkommanull. Sehr windig.
Gestern auf der Runde: Bei Hochstadt an der Ampel ein Mann mit Treckingrad, Packtaschen, Beleuchtung, Schutzblechen – aber Rennlenker. Ich fahre kraftvoll los, doch zwei Kilometer weiter, an der nächsten Ampel, steht er wieder neben mir und fragt: „Fahren Sie auch zur Arbeit?“ – Nein, ja, doch, gewissermaßen. – „Ich bin Physiker. Fahre jeden Tag von Klein-Auheim nach Oberursel und abends wieder zurück.“ – Na, das ist aber ein schöner Ausgleich. – „Ja, für einen Liter Benzin kann man fünfzehn Brötchen essen.“ – ??? – „Eine Dusche am Arbeitsplatz? Nee, brauche ich nicht. Ich suche mir einen Wasserhahn.“ – ??? – „Rennen fahren, ich? Vielleicht im Ruhestand. Ich habe eine Kollegin, die ist sehr sportlich orientiert, da kommt man auf Ideen.“ – ??? – „Ich biege jetzt hier ab“ – Ja, dann, schönen Tag auch. – „Und einen schönen Sommer!“

„Noch nie in meinem Leben habe ich mich so sehr auf die Sommerferien gefreut“ – Aber ihr habt doch in den letzten zwei Wochen sowieso nichts mehr gelernt. – „Doch, wir haben gelernt, dass es in der Grundschule viel schöner war.“

Tote des Tages: Der Mörder Billy the Kid (Foto) wird von seinem ehemaligen Freund, dem Sheriff Pat Garrett, aus dem Hinterhalt erschossen. Wilhelm Büchner, ein Bruder Georgs, stirbt in Pfungstadt. Der Schauspieler Walter Sedlmayer wird erstochen und erschlagen.
Donnerstag, 13. Juli 2006 – Fünfuhrdreiunddreißig, dreiundzwanzigkommavier, nein, … kommafünf Grad.

Heute mal nur Tote:
Jean Paul Marat (wird von Charlotte Corday erstochen).
Emmanuel Bove (sein kleines, von Peter Handke übersetztes Buch „Meine Freunde“ gehört zu den schönsten Romanen des 20. Jahrhunderts).
Frida Kahlo (deren Bewunderung mir oft maß- und bodenlos vorkommt).
Tom Simpson (Radrennfahrer, kollabiert und stirbt neunundzwanzigjährig an den Hängen des Mont Ventoux nach Einnahme eines Amphetamincocktails).
Carlos Kleiber (den man gar nicht genug bewundern kann).
Mittwoch, 12. Juli 2006 – Sechsuhrachtunddreißig, zweiundzwanzigkommavier. Der Himmel bedeckt und regenschwer, kommt mir vor, als habe es die ganze Nacht geregnet.

Nach Weltmeisterschaft und Museumsuferfest kommen nun „Kulturzone ’06“ und „Ironman Europe“. Es ist, als dürfe die Stadt sich keinesfalls Ruhe gönnen, als müsse sie, käme sie auch nur einen Tag zur Besinnung, sogleich an sich irre werden. Also weiter, weiter, weiter.
Todestag des französischen Offiziers Alfred Dreyfus, den man 1894 mittels gefälschter Beweise des Landesverrats bezichtigt, verurteilt und anschließend auf die Teufelsinsel verbannt hatte. Der Prozess wurde in Frankreich von einer Welle des Antisemitismus und Nationalismus begleitet. Émile Zola veröffentlichte sein berühmtes „J’accuse!“ Im Jahr 1906 wurde Dreyfus rehabilitiert. Als zwei Jahre später die Asche des inzwischen verstorbenen Zola ins Pantheon überführt wurde, versuchte ein Rechtsradikaler den anwesenden Dreyfus zu erschießen. Seine Enkelin Madeleine Levy wurde von den Deutschen in Auschwitz ermordet.
Dienstag, 11. Juli 2006 – Fünfuhrachtunddreißig, einundzwanzigkommanull.

Was ist denn nun los? Ich werd doch nicht etwa gute Laune haben … Ah, ich ahne den Grund. Es liegt wohl daran, dass der nationale Lächelzwang langsam nachlässt.

Am 11.Juli 1975 starb Kurt Pinthus, der sich das Pseudonym Paulus Potter gegeben hatte. Vor zwei Jahren hat sich Lothar Baier in Montreal das Leben genommen. Von ihm stammt der schönste Verriss, der über „Landschaft mit Wölfen“ erschienen ist.
Montag, 10. Juli 2006 – Fünfuhrfünfundzwanzig, einundzwanzigkommasechs.

Im Park – und plötzlich ein kräftiger, warmer Regenguss. Aber man genießt es. Nur nach und nach stehen die Leute auf, legen ihre Decken und Handtücher zusammen und versammeln sich unter den Bäumen. Es ist als würden sich die Zweige und Blätter wohlig unter dem Prasseln der Tropfen schütteln. Wenig später noch einmal ein fernes Donnergrollen, die Wolkendecke reißt auf, es wird wieder hell, lachende Gesichter, alles vorbei. Aber nun sind die Wiesen nass, der Asphalt dampft, und man zieht nach Hause.
Was für eine Schmach, was für ein Abgang … Vor einer Woche Jan Ullrich, jetzt der große Zidane. Man wollte ihn feiernd verabschieden, jetzt wurde er vom Platz gejagt. Das letzte Bild dieser Weltmeisterschaft: Wie er gesenkten Hauptes in die Kabine schleicht. Danach war alles egal. Hätten die Franzosen gewonnen, es hätte mich nicht mehr gefreut. So haben sie verloren – durch ihn und zu Recht.
Immerhin, vielleicht trägt das ja dazu bei, dass die Party endlich mal ein Ende nimmt.
Die Toten: Daguerre, Erich Mühsam (ermordet im Zimmer des Lagerkommandanten des KZ Oranienburg. Offizielle Erklärung: „Der Jude Erich Mühsam hat sich in der Schutzhaft erhängt“.) Franz Blei, Celia Cruz, Inge Meysel. Und gerade kommt die Nachicht: Rudi Carrell ist tot.

Sonntag, 9. Juli 2006 – sechsuhreinundvierzig, neunzehnkommafünf.
Gestern schöne Achterbahnrunde mit Bernd und Atilla. Neunzig Kilometer, reichlich Höhenmeter, aber keine Cola light Lemon. Dafür am Ende an Bernds Teich ein Erdinger alkoholfrei.

Beim Zeitfahren vier T-Mobile-Fahrer (von sieben verbliebenen!) unter den ersten acht Plätzen – Sergej Gontschar gewinnt. Sebastian Lang und Marcus Fothen, beide Gerolsteiner, auf den Plätzen drei und sieben.
Die deutsche Nationalmannschaft gewinnt 3:1 gegen Portugal. Und wieder überschlägt sich die Republik vor guter Laune. Warum, wenn die Stimmung so gut ist, müssen alle dauernd betonen, wie gut die Stimmung ist? Hoffentlich hat dieses Idiotenfernsehen bald ein Ende, wo der Bildschirm unentwegt gefüllt ist mit blöde grinsenden Mäulern, aus denen nur noch „Super, toll, Wahnsinn“ zu kommen scheint. Für alle, die nicht mitmachen beim Dauergrinsen und -hüpfen (“die Miesmacher!”) erklärt „Bild“ das Land zur No-go-Area. Wer nicht lacht, ist kein Deutscher.
Todestag: King Camp Gillette, Erfinder der Rasierklinge. Georges Bataille. Wilhelm Kohlhoff. Karl Heinz Beckurts. Rod Steiger.
Freitag, 7. Juli 2006 – Fünfuhrsieben, einundzwanzigkommavier. Bedeckt.

Ganzen Tag Rechnereien, Unterlagen, Belege.
Zabel hat wieder keine Chance beim Schlusssprint in Caen.
Gegen Abend: Seit fast einer Stunde kreist ein Hubschrauber über dem Viertel. Hundert, vielleicht hundertfünfzig Studenten blockieren die Kreuzung Adickesallee / Eschersheimer Landstraße – direkt vor dem Polizeipräsidium. Sie tragen gelbe T-Shirts mit der unsinnigen Parole: „Für Solidarität und freie Bildung“. Vielleicht ist gemeint: „Solidarität für freie Bildung“. Großes Aufgebot vermummter Ordnungskräfte mit Schilden und Helmen überall in den Straßen. Um die Kreuzung verteilen sich Polizisten mit diesen blauen Lätzchen, auf denen das Wort „Polizei-Communicator“ steht. Manche tragen Baseballkappen. Wird alles immer amerikanischer. Aus dem Lautsprecherwagen der Polizei: „Meine Damen und Herren, Sie dürfen sich gerne noch ein paar Minuten auf der Straße aufhalten, dann geben Sie die Kreuzung bitte wieder frei. Wie gesagt, sie dürfen sich gerne noch ein paar Minuten hier aufhalten.“ Der Sprecher sitzt aber gar nicht im Wagen, sondern steht zehn Meter entfernt auf dem Bürgersteig und spricht in ein schnurloses Mikrofon – bulliger Bodybuildertyp. Ein Demonstrant trägt ein T-Shirt, auf dem, direkt über dem Herzen, eine große Zielscheibe abgebildet ist. Darüber die Worte: „Schieß doch, Bulle!“ Wird er nicht machen, der Bulle. Im Moment nicht. Das alles ist noch sehr zahm. Aber man ahnt schon, was hier los sein wird, wenn sich die sozialen Gegensätze weiter verschärfen. Dann ist Schluss mit der neuen patriotischen Entspanntheit, mit der „tschörmen Gemutlischkeit“. Dann wird wieder „Bild“ den Ton im Land bestimmen. Aus einem Funkgerät die Durchsage: “Alle Communicatoren, die seit zehn Uhr im Einsatz sind, bitte in den Mehrzweckraum Zwei kommen. Alle Cts bitte in Mehrzweckraum Zwei”. Grollen über den Köpfen, Donner, Gewitter. Erst leichter Regen, dann sehr heftig.
Heute sind tot: Tilman Riemenschneider, Johanna Spyri, Arthur Conan Doyle, Gottfried Benn, Dorothy Parker, Max Horkheimer.
Donnerstag, 6. Juli 2006 – Sechsuhrzweiunddreißig, zwanzigkommaneun. Um kurz nach vier aufgewacht und noch im Halbschlaf auf das Flugzeug geschimpft, dass da unentwegt hoch über dem Haus kreist. Bis ich merke, dass es das Grollen eines Gewitters ist. Und endlich setzt ein leichter, kurzer Regen sein.

Gestern: Morgens mit dem Kamerateam von “Titel, Thesen, Temperamente” und dem schwarzen Stevens in voller Rennmontur auf den Lohrberg. Thema: Der neue Patriotismus. Stottere mir irgendwas zusammen. Soll am Sonntag, zum Ende der WM ausgestrahlt werden. Harald Schmuck, der Kameramann, erzählt, dass er sich ein Rennrad kaufen will. Zu Hause fange ich sofort an zu schauen und schicke ihm kurz hinter einander fünf Mails mit Rädern, die in Frage kommen.
Nachmittags die vierte Etappe der Tour. Zabel hat kurz vor dem Ziel einen Platten, kann nicht in den Sprint eingreifen. „Davon geht die Welt nicht unter“, sagt er. Das ganze Rennen wird gelähmt durch den Dopingskandal, die Dramaturgie kommt nicht in Schwung. „Der Radsport ist in einem Sumpf versunken“, sagt ein Kommentator. Genau das merkt man beim Zuschauen, auch wenn alle versuchen, Normalität zu simulieren.
Abends vor dem Burga. Innen das Spiel der französischen gegen die portugiesische Nationalmannschaft. Als ich kurz in den Gastraum schaue, fällt gerade Henry zu Boden, und Zidane verwandelt den folgenden Elfmeter zum Siegtreffer. Netzer: “Die Portugiesen haben mir nicht gefallen. Aber die Franzosen haben mir auch nicht gefallen.”
Reiche Ernte für den Tod: Maupassant, George Grosz, William Faulkner, Horst Lange, Louis Armstrong, Otto Klemperer, Joaquin Rodrigo, Bernd Pfarr, Claude Simon.

Dienstag, 4. Juli 2006 – Sechsuhrdreiundzwanzig, einundzwanzigkommaneun Grad.

Ati macht mich auf einen Artikel in der „Welt“ aufmerksam, den Thea Dorn zum Thema Doping im Radsport geschrieben hat. Unendlich naseweis und genauso substanzlos. Sie habe es schon immer gewusst … und es könne ja nicht anders sein, da der „Radsport der Sport des Übermenschen“ sei. „Jeder, der sich für den Radsport zu begeistern weiß, schwärmt von der Verschmelzung von Mensch und Material, die im Idealfall erreicht wird.“ Selten habe ich einen so kompletten Unfug gelesen, der so selbstbewusst vorgetragen wurde.
Also mal nachlesen, was Jesus Manzano erzählt hat.
Heute vor sechzig Jahren wird die ledige Straßenbahnschaffnerin, KZ-Aufseherin und vielfache Mörderin mit dem unglaublichen Namen Ewa Paradies zusammen mit vier anderen Frauen in der Nähe von Danzig auf dem Berg Biskupia Gorka am Galgen hingerichtet. Als Henker fungieren ehemalige Häftlinge des Lagers Stutthoff. Eine Dokumentation der Hinrichtung findet man: hier.
Vor drei Jahren gestorben ist der Publizist Armin Mohler, der sich noch am Ende seines Lebens einen Faschisten nannte.
Sonntag, 2. Juli 2006 – Sechsuhrvierzehn, neunzehnkommasieben Grad.
Gestern schöne frühe Runde mit dem Riesen, mit Jörg und Atilla. Knapp hundert Kilometer. Die Autofahrer hupen aggressiver den je. Seit Ullrichs Sündenfall bekannt wurde, werden Rennradfahrer von der Straße gewischt. Dann nach Seckbach, Probe für „Ein kleiner Abend Glück“. Und abends zu Naomi und Matthias. Immerhin, Frankreich bleibt im Turnier.
Gestern in „L’Equipe“: Die spanische Polizei hat im Zuge ihrer Dopingermittlungen eine Liste sicher gestellt, in der vier Mal der Codename „Jan“ mit Wachstumshormonen und manipulierten Blutkonserven in Verbindung gebracht wird. Ullrich leugnet. Basso leugnet. Pevenage leugnet. Das gleiche, schäbige, traurige Spiel wie immer. Wenigstens das Maul halten könnten sie ja.
Erik Zabel reagiert sichtlich irritiert, als ein ahnungsloser Reporter ihn fragt, ob er jetzt, nach den Dopingvorwürfen, Jan Ullrich anrufen werde. Offenbar weiß der Journalist nicht, dass es seinerzeit Ullrichs Busenfreund Andreas Klöden war, der Zabel aus dem T-Mobile-Team gemobbt hatte, weil man alles auf den Kapitän setzen wollte. Trotzdem antwortet Zabel gewitzt: „Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass der Jan im Moment sein Handy eingeschaltet hat.“
Heute vor 45 Jahren hat Ernest Hemingway sich erschossen. Und heute vor zehn Jahren nahm sich seine Enkelin Margaux mit einer Überdosis Beruhigungsmittel das Leben.