Geisterbahn

Montag, 28. Februar 2011 – Siebenuhrvierundzwanzig, minus nullkommasechs. Gestreifter Himmel, leuchtend.

Am Samstagmorgen eine Stunde Rolle, dabei das Doppelkopf-Gespräch mit Walter-der-Sohn-vom-Kohl – ein langweiliger, leicht tragischer Spießer. Dann Schäfergasse, auf Vermittlung von Christian in die Galerie Bärbel Grässlin; die Wände sind leer, weil die nächste Vernissage bevorsteht, aber was für ein wunderschönes Gebäude, helle, offene, fliegende Räume. Und die Galeristin hat eine gute Temperatur, erzählt Geschichten über Gerhard Richter, Martin Kippenberg, Bernd Lunkewitz etc. Auf der Autobahn Richtung Kassel zwei kurzweilige Stunden mit Alf und Thomas Mann. Wieder in die Klinik, wo ich erstmal umherirre. – Chirurgische Intensiv? – Da lang, nein, da lang. Sie stehen doch direkt davor. – Aha, vielen Dank. Schläuche und Leitungen, Geblubber und Geläute, aber P. geht es besser; er lacht und plaudert und scherzt mit der Schwester. Nach Elgershausen zu Beate und Helmut, Wildschweingulasch und Pfälzer Landwein, und alles ist so traut, als seien wir gerade erst auseinander gegangen. Morgens Kopfschuss. Blick aus dem Fenster: der alte Bahnhof im Nebel, Krähen über den Feldern. Aron fiept in der Küche. Frühstück. Wieder Klinik, wieder Autobahn, wieder Thomas Mann. Guttenberg und Gaddafi scheinen in ihrer Dickfelligkeit zu wetteifern, sind beide noch immer nicht zurück getreten – kann aber nicht mehr lang dauern. Und die Eintracht? – Na, was denkst du? – Nee, oder? – Abendessen, vietnamesisch, im allseits gelobten Toan, ist aber höchstens Mittelmaß, nichts gegen das Binh Minh. Dann die neue Carlos-Kleiber-Dokumentation von Georg Wübbold. Lektüre: The Full Story of Fred an Rose West and the Gloucester House of Horrors.

Tot ist David Byron.

Donnerstag, 24. Februar 2011 – Sechsuhrzehn, minus nullkommaneun. Dunkel. Die Albträume sind vorüber. Niemand meißelt mir mehr den Brustkorb auf.

Verstanden habe ich die Beliebtheit Karl-Theodor zu Guttenbergs nie, schon gar nicht, dass der Mann ausgerechnet als “ehrlich”, ausgerechnet als “glaubwürdig” galt. Das Wort “Schlawiner” schien mir von Anfang an eine passendere Bezeichnung zu sein. Warum gelingt es mir dann nicht – jetzt, nach dieser Plagiatsaffäre -, so etwas wie Häme oder wenigstens Genugtuung zu empfinden? Stattdessen reagiere ich mit womöglich naivem Entsetzen. Die CDU ist eine große, das Land maßgeblich bestimmende Partei. Ahnt dort eigentlich niemand, welchen Schaden man anrichtet, wenn man die Werte, die man als die eigenen reklamiert, nicht nur verletzt, sondern gleich ganz suspendiert? Wenn man von seinen Ministern nicht einmal mehr den Anschein von Redlichkeit verlangt? Wenn man so tut, als handele es sich hier um eine akademische Petitesse?
Die anhaltende oder gar steigende Popularität eines entlarvten Betrügers lässt schon nichts Gutes ahnen. Aber das nahezu einhellige Versagen der CDU in dieser Affäre wird die Republik verändern.
Bürgerliche Tugenden wird man künftig in der Nähe dieser Partei nicht mehr vermuten dürfen. Und zu Bildungs- und Erziehungsfragen kein Wort mehr von ihr hören wollen.

P.S.: Derweil wurde bekannt, dass Guttenberg einen eigentlich vereinbarten Vortrag auf dem heute beginnenden Kongress christlicher Führungskräfte abgesagt hat. Titel der Veranstaltung: “Mit Werten in Führung gehen”.

Todestag von Georg Christoph Lichtenberg – “Zum Ruhm berühmter Menschen gehört immer die Dummheit ihrer Bewunderer” (sinngemäß).

Montag, 21. Februar 2011 – Sechsuhrachtunddreißig, minus vierkommavier. Braucht keiner mehr, diese Temperaturen. Wach seit vier. In den letzten Nächten wiederholt Albträume.

Am Samstag auf der Rückfahrt von Kassel ein Abstecher nach Lich-Muschenheim: “Zum heiligen Stein”. Sehr schönes, holzverkleidetes Dorfhaus. Der Gastraum ist noch leer, trotzdem bekommen wir nur deshalb einen Platz, weil wir versprechen, um 20 Uhr auf jeden Fall wieder verschwunden zu sein. Die Einrichtung sieht ein bisschen nach “Schöner Wohnen” aus, aber unter dem Dach hängen zwei große Bilder von Grützke. Das Essen ist erstklassig, die Portionen eher sparsam. Nach dem Dessert: “Darf’s noch etwas sein?” – Ja, noch ein Kilo von dem Nougateis, bitte!

Gestern mit Habernoll im berühmten Settobello, einer kleinen Kaschemme hinter dem Hauptbahnhof in der Niddastraße. Die Kellner scheinen sich selbst zu genügen, sie kreisen in ihrem eigenen Kosmos aus Gesprächen, Telefonaten, Gesten, Blicken. Die Gäste stören da eigentlich nur, dienen aber in doppelter Hinsicht der Unterhaltung des Personals. In dem schmalen Getränkelager dürfen Stammgäste rauchen. Im Netz lese ich später ein paar geradezu wütende Kommentare von unzufriedenen Besuchern. Aber mir hat’s gefallen.
Auch, wie wir dann das rote Olmo in den Kofferraum des grünen Jaguar packen …

Denke ich an D., bringt mich das nach Tagen noch auf. Diese Frau ist eine Ganzkörperlüge. Auf die Frage, wie es ihr gehe, knipst sie ihr Strahlen an: “Mir geht es wunderbar. Alles ist okay.” Dabei tänzelt und kokettiert sie. Und jeder sieht, wie es bröckelt. Wahrscheinlich ist sie eine Betrogene. Sie will unentwegt hofiert werden, und man tut ihr den Gefallen – wohl aus Mitleid.

Bei Götz ein Zitat aus Adriano Sofris Notizen über die Situation von Häftlingen: “Dieser bescheuerte Satz …’Die haben doch sogar Fernsehen’ – die haben nur Fernsehen, wie alle Unglücklichen dieser Welt!”

Lektüre: Graf Kessler und Robert Rauschenberg.

Brigitte Reimann ist tot.

Freitag, 18. Februar 2011 – Sechsuhrzwei, einskommaeins. Die letzten beiden Tage mit Fred und Rose West und dem Yorkshire Ripper.

Der Koblenzer Missbrauchsprozess ist nur mit zusammengekniffenen Augen zu ertragen. Die achtzehnjährige Tochter, die das Verfahren gegen Dieter S. aus Fluterschen erst in Gang gebracht hatte, sagt vor Gericht aus, dass sie und ihre Halbschwester jahrelang vom Vater missbraucht, misshandelt und prostituiert wurden. Dann: “Ich liebe meinen Vater immer noch sehr. Ich hasse ihn nicht und ich will ihm das auch noch einmal persönlich sagen.” Täter und Opfer wird daraufhin Gelegenheit gegeben, sich in einem Nebenraum zu umarmen.

Aus einem Gespräch der SZ mit dem ägyptischen Schriftsteller Khaled al-Khamissi: “Die Amerikaner und Europäer wollen Demokratie für Ägypten, aber eine Demokratie, die nett ist: proamerikanisch, proeuropäisch, proisraelisch. Das ist völlig unmöglich. Als sich Angela Merkel erstmals zur ägyptischen Revolution äußerte, pries sie vor allem den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag, um den sie sich sorgte. 95 Prozent der Ägypter sind gegen diesen Vertrag.” Himmel, hilf! Dass man sich am Ende noch Mubarak zurückwünscht …

Dedan Kimathi ist tot.

Donnerstag, 17. Februar 2011 – Sechsuhrdreiundvierzig, einskommanull. Dunkel.

Erster Fall: Am 15. Juli 1992 wurde die 23-jährige Rachel Nickell im Wimbledon-Common-Park in London in Gegenwart ihres zweijährigen Sohnes sexuell missbraucht, mit 49 Messerstichen ermordet und dann vom Täter in auffälliger Weise drapiert.
Als sich gegen keinen der rund dreißig Männer, die damals in den Fokus von New Scotland Yard gerieten, gerichtsverwertbare Beweise finden ließen, beschloss man, ein Täterprofil zu erstellen. Damit beauftragt wurde Paul Britton, ein Mann mit bewegtem Berufsleben (Polizist, Verkäufer, Croupier), der schließlich zum forensischen Psychologen ausgebildet wurde. Aufgrund des von ihm entworfenen Täterbildes konzentrierte sich der Verdacht der Kriminalisten auf Colin Stagg, einen arbeitslosen Mann aus dem benachbarten Stadtteil Roehampton, der die Tat vehement abstritt. Überzeugt, den Richtigen im Visier zu haben, entschlossen sich die Ermittler zu einer ungewöhnlichen Aktion, die wiederum Paul Britton maßgeblich mitentwickelt hat: Unter dem Namen Lizzie James nahm eine Polizistin Kontakt zu Stagg auf. Über viele Wochen hinweg wechselten die beiden Briefe, telefonierten und trafen sich – immer flankiert von aufwändigen Überwachungsmaßnahmen. Lizzie James versuchte sowohl mündlich als auch schriftlich Colin Stagg zur Äußerung sexueller Gewaltphantasien zu animieren: “Wenn du doch nur den Wimbledon-Common-Mord begangen hättest, wenn du sie doch nur getötet hättest, es wäre in Ordnung.” Staggs Antwort: “Es tut mir furchtbar leid, aber ich war es nicht.” Am Ende der verdeckten Ermittlung (die einer internen Untersuchung zufolge drei Millionen Pfund gekostet haben soll), wurde Stagg dennoch in Haft genommen. Bis zum Abschluss des Prozesses im Jahr 1994 verbrachte er vierzehn Monate im Gefängnis. Das Urteil von Richter Ognall war eindeutig: Er warf der Polizei vor, in “exzessivem Eifer” dem Verdächtigen eine honey trap, eine Honigfalle gestellt zu haben, um ihn durch “irreführendes Verhalten der schlimmsten Art” zu einem Geständnis zu bewegen. Stagg wurde freigesprochen.
Zweiter Fall: Am 4. November 1993 wurden in ihrer Wohnung im Südosten von London, im Stadtteil Plumstead, die Leichen von Samantha Bisset und ihrer vierjährigen Tochter Jazmine gefunden. Die Mutter war erstochen und regelrecht ausgeweidet worden. An dem Mädchen hatte sich der Täter sexuell vergangen und es dann mit einem Kissen erstickt. Der Polizeifotograf, der die Bilder vom Tatort machte, war anschließend zwei Jahre lang nicht arbeitsfähig. Als man eine Woche nach dem Verbrechen noch immer keine heiße Spur hatte, wurde wiederum der Kriminalpsychologe Paul Britton hinzugezogen. Während der Ermittlungen kam kurzzeitig die Frage auf, ob man es mit demselben Täter wie im Fall Rachel Nickell zu tun haben könne. Britton bestritt dies wortreich: Die Umstände der Morde seien so andersartig, dass man von zwei sehr unterschiedlich strukturierten Tätern ausgehen müsse. Und Colin Stagg hatte diesen Doppelmord ja auch nicht begehen können, da er zur Tatzeit im Gefängnis saß. Aufgrund eines Fingerabdrucks überführt wurde schließlich im Mai 1994 der damals 28-jährige Robert Napper, ein paranoid schizophrener Mann, dem man eine Vielzahl von sexuell motivierten Gewalttaten zuordnen konnte.
Paul Britton veröffentlichte im Jahr 1997 ein Buch über seine Erfahrungen als Polizeispychologe – The Jigsaw Man -, das ein Bestseller wurde und ein Jahr später unter dem Titel Das Profil der Mörder auch in Deutschland erschien. Britton ließ sich fortan als Begründer der Operativen Fallanalyse und als der europäische Spezialist für Täterprofile feiern. In seinem Buch – das den Autor in seiner zur Schau gestellten Bescheidenheit als einen hochgradig eitlen Menschen offenbart – führt er noch einmal ausführlich Colin Stagg als Hauptverdächtigen im Fall des Wimbledon-Mordes vor, obwohl dieses Verbrechen offiziell weiter als ungelöst galt und obwohl Stagg seit drei Jahren freigesprochen war. Die Sunday Times lobte: “Britton tut eine unglaublich wichtige Arbeit, die Leben rettet”. Tut sie das?
Wie sich herausstellte, war Robert Napper auch im Fall Rachel Nickell zu Beginn der Ermittlungen kurzzeitig ins Visier der Polizei geraten, jedoch rasch wieder ausgesondert worden: sein Profil passte nicht. Im Dezember 1995 wurde der inzwischen verurteilte Napper im Broadmoor Hospital (eine Anstalt der Hochsicherheits-Psychiatrie, die auch Peter Sutcliffe, den sogenannten Yorkshire Ripper, zu ihren Patienten zählt) noch einmal zu dem Verbrechen in Wimbledon vernommen, bestritt aber aufs Neue, damit etwas zu tun zu haben. Im Jahr 2004, fast neun Jahre später, konnte er jedoch – aufgrund der inzwischen wesentlich weiterentwickelten DNA-Analyse – auch dieser Tat überführt werden. In dem im Jahr 2008 stattfindenden Prozess bekannte er sich endlich auch des Mordes an Rachel Nickell für schuldig.
Hat die Arbeit des forensischen Psychologen Paul Britton also “Leben gerettet”?  Oder muss man nicht fragen, ob Samantha und Jazmine Bisset noch leben könnten, hätte sich die Polizei im Fall Nickell nicht ganz und gar auf das falsche Profil ihres Spezialisten verlassen.

Richard Wurmbrand ist tot.

Dienstag, 15. Februar 2011 – Neunuhrsiebenundzwanzig, dreikommafünf. Grau, feucht. Wach seit halbvier.

Gespräch zweier junger Frauen auf dem Parkplatz:
A: “Weißt du, was ich gedacht hab, als der Typ die ganze Zeit so an mich ran- geredet hat?
B: “Na?”
A: “Ich hab gedacht: Halt’s Maul und fick mich!”

Nun hab ich überwunden
Kreuz, Leiden, Angst und Not
Und hab allhier gefunden
Nichts andres als den bittren Tod
(Inschrift auf einem Grabstein bei Sankt Peter)

“No Tears for Krauts!”
(Parole der Gegner des Dresdner Bombengedenkens)

Durch mit dem Bukowski. Manchmal nervend das großmäulige Obenhin, aber viele Perlen. – Im Spiegel ein seltsam steifer Text von Rainald Goetz zu Samuel Pepys Journalen (“… die politischen Wechselfälle der Folgezeit sind der öffentliche Hintergrund …”). – Gekommen ist Hélène Berrs Pariser Tagebuch.

Tot ist der Physiker Richard Feynman, der den schönsten Liebesbrief aller Zeiten geschrieben hat – an seine Frau Arline, die zwei Jahre zuvor gestorben war.

Sonntag, 13. Februar 2011 – Sechsuhrneunundfünfzig, dreikommaneun. Regen, das heißt: Rolle statt Straße.

Ins Krankenhaus bringt man Blumen und Früchte mit. Also schnell noch in den Supermarkt, paar Mandarinen und ein Schälchen Trauben kaufen. Und, hier, die Birnen sehen doch prächtig aus. Sie heißen Abate Fetel, riesige Keulen.
Autobahn. Obwohl ich den Weg kenne, schalte ich das Navigationsgerät ein, damit jemand mit mir spricht. “Nach siebzig Metern rechts halten! Rechts halten!” sagt die Stimme der Maschinenfrau. “Fahren Sie zweihundert Kilometer geradeaus!” Wenigstens duzt sie mich nicht, wie sie das bei Apple und Ikea tun. Im Radio die erste Sinfonie von Elgar, die ihm den Durchbruch verschafft hat. Aber dafür ist es zu früh, einen solch dicken Sirup ertrage ich noch nicht um diese Zeit. “Das Wetter in Hessen: Bewölkt, vereinzelte leichte Niederschläge, teils als Schnee, teils als Regen.” Leichte Niederschläge? Von wegen, Freundchen, die Wahrheit ist: Ab Alsfeld versinkt die Welt im Schnee – liegen gebliebene Wagen, Unfälle, Staus, Räumfahrzeuge. Man kriecht, man schlurrt so dahin. Aber der Mazda kommt durch.
Die Klinik in Kassel kenne ich bereits, mein Bruder ist hier gestorben und meine Mutter. Papa sitzt auf der Bettkante. Wir lächeln uns an; wir freuen uns, einander zu sehen. Viel ist es nicht, das man in meinem Alter zum ersten Mal tut, aber jetzt ziehe ich zum ersten Mal meinem Vater die Socken an. Dann spitzen wir gleichzeitig die Ohren. Klackernde Schritte auf dem Stationsflur. Ein Geräusch, dass nicht von den weißen Gesundheitsschuhen einer Krankenschwester stammen kann. Es stammt von richtigen, schönen Frauenstiefeln, die meiner Schwester Heike gehören, die jetzt ihren Kopf ins Zimmer streckt. Da sind wir also beisammen, wir drei. Wie gut.
Kurzer Stopp an der Raststätte, ein junger Typ kommt auf mich zu, lange Haare, Brille, große Nase. – Ob ich ihn mit nach Frankfurt nehmen kann? – Klar! Was denn in der großen Tasche sei, frage ich. – “Ein Fahrrad”, sagt er. – Ein Fahrrad? – “Ja, so ein Faltrad, hab ich billig bekommen, bei ebay, siebzig Euro.” – Dann redet und redet er. Dass er fast immer trampt, dass er dadurch bei jeder Fahrt hundert Euro spart, dass er gerade von einer zweijährigen Weltreise kommt, dass er auch dort gut gespart habe, dass er heute bei der Familie seiner Frau zum Essen eingeladen sei, dass er dort vielleicht morgen noch in die Sauna dürfe … Er weiß Bescheid, er ist ein Pfiffikus, ein Geizkragen, der es sich gutgehen, der lieber die anderen zahlen lässt. Er wohnt seit fünf Jahren in Mainz, aber hat den Namen Anna Seghers nie gehört. Er ist keiner von den jungen Leuten, die uns retten werden.

Am 13. Februar 1999 starb bei der “Hetzjagd von Guben” auf der Flucht vor einer Gruppe Rechtsradikaler der algerische Asylbewerber Farid Guendoul. Drei der später verurteilten Täter traten 2008 für die NPD bei den Kommunalwahlen in Brandenburg an.

Samstag, 12. Februar 2011 – Fünfuhrzweiundvierzig, minus zweikommafünf. So kalt? Hätte ich nicht gedacht. Mubarak ist gestern doch noch zurückgetreten. Alles in Ordnung; ich bin wieder jung.

Es ist Viertel nach fünf, als ich aufstehe und das Fenster öffne. Ich setze mich und schaue nach draußen in die Dunkelheit. Der Lärm der Autoreifen auf dem Asphalt sagt mir, dass es geregnet hat. Jetzt fällt auch ein Tropfen auf das Blech der Fensterbank. Man hört einen Vogel singen. Ich wüsste gerne, was für eine Art Vogel es ist. Ich habe immer wieder versucht, die Stimmen den Vögeln zuzuordnen, habe mir eine CD mit illustriertem Begleitheft gekauft, später sogar eine DVD geschenkt bekommen. Aber es ist wie mit der französischen Sprache oder mit der Groß- und Kleinschreibung; ich kann es mir nicht merken. Ich kann mir keine Regeln und keine Töne merken. Trotzdem ist es schön, ein wenig Gesang zu hören, nach dem langen Gekrächze der Raben. Heute muss ich auf die Autobahn.

Thomas Bernhard ist tot.

Freitag, 11. Februar 2011 – Neunuhrsechsundfünfzig, achtkommaacht. Regen. Müde.

Was ist los? Ich werde alt, alt, alt. Aber will es nicht wahrhaben. Trotzdem merke ich es: an der Haut, den Augen, den Haaren, den Flecken. Oder wenn ich mich unverhofft in einer Schaufensterscheibe sehe. An all den Sachen, die ich versuche zu ignorieren. Zum Beispiel an den Herzinfarkten, Schlaganfällen, den Toten in meiner Umgebung. Diese Woche also Wolfgang Deichsel. Ein wenig Hochmut zieht man noch daraus, dass man selbst noch nicht dran ist. Aber kommt schon, man rückt nach vorne, steht nicht mehr hinten an. Gut, ich bin ein Hypochonder. Wenn ich jemanden sehe, der unter einem Ausschlag leidet, beginnen meine Handrücken zu jucken, hat jemand einen Pneumothorax, werde ich kurzatmig, weil mir ein Lungenflügel zusammengefallen ist, wenn ich höre, dass es einen Hüftschnupfen gibt, fange ich an zu humpeln. Man muss ja ignorieren, aufstehen, kochen, einkaufen, plaudern. Ich höre Strawinskys Violinkonzert, schaue Nachrichten, schreibe Mails, zahle Steuern, lache am Telefon. Man gibt sich lebendig: Ihr wollt ein Buch von mir? Schön. Ich soll irgendwo auftreten? Gut. Verhandeln wir über den Preis! Aber eigentlich will ich nicht. Eigentlich will ich bezahlt werden dafür, dass ich da bin. Wenn es schon nicht ohne Bezahlung geht. Ich will nichts dafür tun, leben zu dürfen. Will überhaupt nichts tun, außer Rennrad fahren, Bilder gucken, Musik hören, essen, abnehmen, lesen, Wein trinken, Espresso trinken, schreiben.
Will man enden wie Mubarak? Zweiundachtzig Jahre alt und merkt nichts mehr. Gestern Abend bei seiner Rede hat die halbe Welt zugesehen und darauf gewartet, dass er sagt: Tschüss, das war’s, ich habe verstanden. Aber er hat’s versemmelt, weil er nichts mehr merkt. Hat geschwafelt von seinem Land, seinen Pflichten, seinem Volk, seinen Kindern. Greises Patriarchengerede. Warum sagt es ihm niemand? Wofür hat er seinen Geheimdienst? Jetzt wird es wieder Tote geben. Jetzt müssen sie den Präsidentenpalast umzingeln. Das ist die Lehre: Man muss nach Versailles marschieren. Die Toten gehören dazu.

Vor einundfünfzig Jahren starb Victor Klemperer. Mal dran denken, seine Tagebücher aus den Jahren nach 1945 zu lesen!

Donnerstag, 10. Februar 2011 – Zwölfuhracht, dreikommaacht. Soupe au brouillard.

Was für ein Geschlinger durch den Tag. Ist das normal? Sind Schriftsteller so? Gleich nach dem Aufwachen in Eric Hazans “Die Erfindung von Paris” das Kapitel über das Marais gelesen. Anschließend eine Stunde auf den Trainer und dort einen Doppelkopf mit dem Filmemacher Andres Veiel gehört, der gerade einen Spielfilm über Ensslin, Vesper und Baader gedreht hat. Klingt sympathisch der Typ, Veiel, möchte man was mit machen. – Dann, weil Roth erzählt hat, dass ihn Irmgard Möller auf der Beerdigung von Chotjewitz versehentlich begrüßt hat, lese ich deren langes Gespräch mit Tolmein: “RAF. Das war für uns Befreiung”. Immer wieder arbeitet man sich in Sachen Stammheim an der Frage ab: War es Mord, war es Selbstmord? – Mittags kommen die Bukowski-Tagebücher und der dicke Rauschenberg-Katalog aus dem Museum Ludwig. Gleich mal so ein bisschen durchgeswitcht, aber nein, das ist zu gut, ist zu groß, wird aufgehoben. – Lese die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. – Abends mit Jürgen ins Jüdische Museum, wo Wilhelm von Sternburg, der mal Chefredakteur des HR war, seinen Anna-Seghers-Essay vorstellt. Er sagt die schönen Sätze: “Als intelligenter junger Mann in den zwanziger Jahren wäre ich aus Entsetzen über das Versagen der bürgerlichen Eliten sicher Revolutionär geworden. Ich hoffe, dass ich kein Nazi, sondern Kommunist geworden wäre.” Ruth Wagner ist auch da, die ehemalige hessische Wissenschaftsministerin, wirkt viel weniger unsympathisch als damals im Fernsehen. Überhaupt eine anregende Runde, gute, liberale Stimmung. Unten im Foyer dann noch ein bisschen Rotwein. An der Decke hängen mindestens zwanzig der tollen DaCosta-Lampen. – Nach Hause, noch ein paar Seiten in den Tagebüchern von Charles Bukowski. So gut, dass die Briefe auch noch bestellt werden müssen. – Was für ein Geschlinger.

Tot ist Carl Meinhof, Pastor, Rassist, Nazi.

Dienstag 8. Februar 2011 – Siebenuhrneunundfünfzig, fünfkommanull. Grau. Kopfschmerzen.

Da sind wir aber immer noch … Gestern mit Jürgen Roth in der Räucherei der Stalburg. J. berichtet, dass er im Herbst einige Tage beim sterbenden Chotjewitz in Stuttgart war und sich dessen Lebensgeschichte hat auf Band sprechen lassen. Im Frühjahr werden die redigierten Abschriften im Verlag Büchse der Pandora als Buch erscheinen. Unter dem schönen Titel: “Mit Jünger ein’ Joint aufm Sofa, auf dem schon Goebbels saß”. Interessant, dass sich Chotjewitz, der wußte, dass er nichts mehr zu verlieren hatte, bei der Redaktion der Protokolle für größere Milde entschieden hat. Wirklich bewundert habe er eigentlich nur einen Kollegen: den Piwitt.
J. erzählt, dass er stundenlang den Rotschwänzen vor seiner alten Tischlerei in der Kriegkstraße zuschauen könne. Und empfiehlt die Tagebücher von Charles Bukowski und Peter Rühmkorf. Viel Bier.

Anna Nicole Smith ist tot.

Samstag, 5. Februar 2011 – Zwölfuhrdreiunddreißig, zehnkommasechs. Sonnig, wolkig, windig.

Das Geflicker in der Schmidtstraße. Zwischen Ferrari-Niederlassung und Aldi-Markt. Hier soll die Frankfurter Avantgarde zu Hause sein. Sieht aber ein bisschen aus wie Avantgarde von gestern. Oder von vorgestern. Man denkt sofort Worte wie: “Nachtprogramm” oder “Donaueschinger Tage …” oder “Diskursanalyse”. Alles schwarz. Boden schwarz, Wände schwarz, Stühle schwarz, Decke schwarz. Über schwarze Rollkragenpullover würde man sich nicht wundern. Avantgarde – wie so vieles andere in dieser Stadt – am Tropf der Banken. Steife-Nacken-Veranstaltung. Ohne Leben. Dieselben grauen Wesen der Szene wie seit Jahrzehnten. Kaum sonst jemand, der den Weg hierher hätte finden wollen. Es geht um Religionen. Was es alles gibt. Viele Stimmen, keine Geschichte. Polyphonie statt Dramaturgie. Ja klar. Die fehlende Substanz wird durch virtuose Details ersetzt. Gefuchtel. Wie verzagt das alles ist. Aber plätschert so weiter. Später Gespräch. Will nicht recht in Gang kommen. Gekicher, als stattdessen in irgendeiner Handtasche ein Navigationsgerät zu sprechen beginnt: “Nach zwanzig Metern rechts abbiegen!” Der junge Hosenträger vom Mousonturm sagt das Wort Freak-Appeal. Und später nochmal: freakig. Wahrscheinlich würde er auch vor fluffig nicht zurückschrecken. Zum Weglaufen. Das mache ich. Keine Sektchen, keine Schnittchen. Knipse lieber draußen noch ein wenig das Geflicker. Und freu mich auf zu Hause, wo ich mir im Netz noch ein paar der schönen Cobine Paintings von Robert Rauschenberg anschauen werde. Das – freilich – ist die Avantgarde der Bronzezeit.

Am 5. Februar 1945 wurde Theodor Neubauer im Zuchthaus Brandenburg enthauptet.

Mittwoch, 2. Februar 2011 – Fünfuhrzweiundfünfzig, minus dreikomma- sieben. Dunkel, hat wieder geschneit. Im Januar neuer Besucherrekord in der Geisterbahn. Wachsende Unruhe wegen Ps. bevorstehender großer Operation.

Montag Alte Oper. Franz Schmidt: Das Buch mit sieben Siegeln – Aus der Offenbarung des hl. Johannes. Oratorium für Soli, Chor, Orgel und Orchester. Nein, in diesem Himmel möchte man nicht schmoren. Nur Kampf, Tod, Feuer, Herrschaft, Zorn, Verderben, Strafe. Schwarzer Reiter, roter Drache, Feuersee. Strafe, Strafe, Strafe. Das ist christlicher Fundamentalismus. Und ich weiß wieder, warum uns die Eltern bewahrt haben vor der Lektüre dieser Bibelstellen – Die Offenbarung galt ihnen als Hervorbringung einer doch arg überreizten Phantasie. Die Sonne geht erst auf, als Martin hinter dem Orgelpult hervorkommt und mit den anderen Solisten seinen Blumenstrauß entgegen nimmt. Fröhlich empfängt er uns am Bühneneingang: “So”, sagt er, “das haben wir jetzt im Repertoire. Und da bleibt es auch!”
Gestern lief den ganzen Tag nebenbei der Livestream von Al Jazeera mit den Bildern der ägyptischen Revolution.
Abends dann auf arte eine Dokumentation über die Loge P2 und das System Berlusconi. Es sieht aus, als habe es zur Unterwanderung des Staates und zur Ausplünderung des Landes einen Masterplan gegeben, dessen Ausführender und Nutznießer seit 1994 Silvio Berlusconi ist. In den Interviews mehrfach die Äußerung, dass sich der Eindruck erhärte, man habe den Italienern einen Teil ihres Hirns entfernt. Und der tiefe Pessimismus, ob die kulturellen Verheerungen der vergangenen siebzehn Jahre überhaupt wieder rückgängig zu machen sind.
Bei Kessler der Hinweis auf die Beschreibung der Commune in Zolas Débâcle.

Sid Vicious ist tot.