Geisterbahn

Donnerstag, 31. 5. 2007 – Fünfuhrneunundfünfzig, vierzehnkommasechs. Bedeckt. Hell.

Ein Coup wäre es gewesen, wenn die Polizei den 12 Millionen Euro teuren Zaun um Heiligendamm von Christo hätte bauen lassen und ihn so zum temporären Kunstwerk hätte erklären können.

In der neuen FR ein Gespräch von Arning mit Petra Roth. Dass die Oberbürgermeisterin weiß, wer Helga Matura war, ist immerhin eine Überraschung.

Tot ist die Künstlerin Hannah Höch.

Mittwoch, 30. Juni 2007 – Neunuhrachtundzwanzig, zehnkommein Grad. Sonne. Gut geschlafen.

Gefunden im ebay-Forum “Kunst & Antiquitäten”, geschrieben von porzellan_fein, gestern um 15:52: “du miese, perverse und feige ratte, dich kenne ich und dich werde ich verfolgen, bis man dir das genick bricht, und wenn das d i e nicht schaffen, dann komme ich dahin………und werde dich mit einem gebrauchten tennisschläger erledigen, genau dich. kannst schon mit dem zittern anfangen, du debiles perversling, ich kann nicht nur weinen, ich kann auch zuschlagen, und zwar gewaltig, irre dich nicht, so sicher bist du in deinem rattenloch nicht, monster, satan.”
Feingeister halt, in kultivierter Umgebung.

Gestern am Mittag im Gästebuch der Eintrag von Linder: dass in der Süddeutschen Zeitung ein Nachruf von Willi Winkler auf Wolfgang Bächler erschienen ist. Ein paar Stunden später eine Mail von Jörg mit einem Hinweis auf seinen noch viel schöneren, herzschweren Nekrolog …

… der in seinem myspace-Blog zu finden ist. (“Was also will man mehr? Das Internet funktioniert doch”, schreibt Freund Atilla.) Da stöbere ich nun also herum, höre Jörgs Stimme und lese, dass sein Lieblingsfilm “Beautiful Losers” heißt, ein Porträt über Leonhard Cohen, Marianne Faithfull und Willy deVille. Und ich werde ganz fickerig, weil ich diesen Film eigentlich jetzt sofort sehen muß.

Voltaire ist tot.

Dienstag, 29. Mai 2007 – Zweiuhrsechsundfünfzig, zwölfkommadrei Grad. Regen.

In der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende eine Todesanzeige: Ich trage Erde in mir – Wolfgang Bächler, Schriftsteller. 22.3.1925 – 24.5.2007.
Ich hätte gedacht, Bächler sei seit dreißig Jahren tot. Und: Gab es irgendwo in einem Feuilleton einen Nachruf?

Jede Nacht um 3.22 Uhr wird die Zugriffsstatistik dieser Seite aktualisiert. Heute kann ich dabei mal zuschauen.

Tot ist der Filmregisseur G. W. Pabst (“Rosen für Bettina”, “Durch die Wälder, durch die Auen”).

Pfingstmontag, 28. Mai 2007 – Zwölfuhrdreiundfünfzig, dreizehnkommadrei. Nass.

Heute morgen mit dem Team von “Hauptsache Kultur” am Haus der Jugend zum Start der Internationalen 3-Etappen-Rundfahrt der Radjunioren. Thema “Doping”, was sonst. Das alles liegt wie Asche über der Veranstaltung. Publikum ist nicht gekommen. Schon jetzt findet der Sport unter Abwesenheit der Öffentlichkeit statt.

Und wieder hat der Tod sein schwarzes Maul geöffnet. Nachdem sie ihm Ende April ein neues Herz transplantiert haben, ist Stefan am Donnerstag in Berlin gestorben. Es hört nicht mehr auf.

Heute vor vierhundert Jahren starb der böhmische Adelige mit Namen Georg Popel von Lobkowicz.

Freitag, 25. Mai 2007 – Dreiuhrdreiunddreißig, zweiundzwanzigkommaneun Grad. Dunkel, was sonst.

Erik Zabel ist Avantgarde: Der erste Radsportler, der während seiner aktiven Laufbahn zugibt, dass er gedopt hat.

Der Innenminister sagt, er sei: “entsätscht”. Oder ist er nur: verlogen?

Denn es war Wolfgang Schäuble, damals noch Staatssekretär im Bundesinnenministerium, der am 28. September 1977 in einer “Öffentlichen Anhörung von Sachverständigen zum Thema leistungsbeeinflussende und leistungsfördernde Maßnahmen im Hochleistungssport” folgende Stellungnahme abgab: “Wir wollen solche Mittel nur sehr eingeschränkt und unter absolut verantwortlicher Kontrolle der Sportmediziner, also unter ärztlicher Verantwortung einsetzen (…) weil es offenbar Disziplinen gibt, in denen ohne den Einsatz dieser Mittel der leistungssportliche Wettbewerb in der Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann.”

In Deutschland werden laut Mitteilung des Bundeskriminalamtes 1653 Kinder und Jugendliche dauerhaft vermisst.

Immer wieder Schostakowitschs Sonate für Cello und Piano mit Truls Mork und Lars Vogt.

Um 4.30 Uhr fangen die Vögel an.

Tot ist der Doppelspion Oberst Alfred Redl.

Donnerstag, 24. Mai 2007 – Zehnuhrfünfundzwanzig, zweiundzwanzig Grad. Blau. Von draußen: “Sex Machine”.

Quote of the day – “Zypries: ‘Geruchsproben haben negativen Beigeschmack.'”

Einer der idiotischsten Autoaufkleber, die ich seit langem gesehen habe: “Tschieses laahfs juuh!”
“Jesus liebt dich” wäre dem bekennenden Christen wohl zu hausbacken vorgekommen. Auch “Jesus loves you” hat sich über die Jahre abgenutzt. Stattdessen werden wir nun behelligt mit einer so dreist-verklemmten Witzigkeit, die mich dermaßen aus der Fassung bringt, dass ich kurz davor bin, eine Sachbeschädigung zu begehen.

Am 24. Mai 1945 beging der Kommandeur der Luftwaffe Robert Ritter von Greim in amerikanischer Kriegsgefangenschaft Selbstmord. Er nahm die Giftkapsel, die ihm Hitler Ende April im so genannten Führerbunker übergeben hatte.

Mittwoch, 23. Mai 2007 – Fünfuhrachtundzwanzig, neunzehnkommasiebebn. Fast hell. Regenschwere Wolken.

Gestern um 7.58 Uhr mit dem ICE nach Hamburg wegen Filmplänen. Ganze Fahrt gearbeitet, nichts gesehen, nichts gehört. Ins Jena Paradies am Baumwall. Frau Bleckmann von Rowohlt, Frau Freyer von der Neuen Deutschen Filmgesellschaft und Christian Görlitz. Görlitz schmeißt das Ganze. Eine Mimik wie Degenhardt. Nach fünf Minuten hat er mich. Bin selten in der Branche einem so wachen, klugen Menschen begegnet. Er entwirft ein Marthaler-Psychogramm, das ich am liebsten mitgeschnitten hätte.
Riesiger Hunger. Wie, hier gibt’s Froschschenkel? Darf man das denn wieder? Nee, oder. Frau Freyer erzählt, dass sie dabei immer an den Cartoon von Tomi Ungerer denken muss, wo die amputierten Frösche in Rollstühlen aus der Küche des Restaurants kommen. Spargel mit Kalbsschnitzel. Gott, ist das wenig!
Das Lokal leert sich. Wir sind alleine. Dann sehe ich aus dem Augenwinkel, wie sich jemand reinschiebt. Schildkappe, schulterlange graublonde Haare, Hakenhase. Na ja, Otto Waalkes. Huscht so durch, drückt sich in eine Bank in die Ecke vorm Klo, macht sich klein. Und verschwindet irgendwann wieder. Verstecken kann der sich wirklich nirgends. Andererseits, wenn man auch in ein Lokal geht, das bekannt dafür ist, das sich hier die Leute von Spiegel und Bauer treffen …

Rückfahrt 16.05 Uhr. Handyterror im Abteil. Ein Henning versucht eine Barbara, eine Henriette und einen John anzurufen. Dreimal erzählt er einer Mailbox, um was es geht: zwei Audits in Leipzig mit der Mitteldeutschen Sparkasse … Wenig später rufen nacheinander Barbara, Henriette und John zurück. Bald habe ich die Geschichte zum sechsten Mal gehört. Aber seine Frau muss Henning auch noch anrufen, um ihr zu sagen, dass der Zug Verspätung hat, dass er morgen nach Düsseldorf müsse, dort klugerweise übernachten solle und danach gleich weiter nach Leipzig, wo er zwei Audits … Mensch, Henning, geh mal wieder Matsche spielen!

Am 23. Mai nahm sich das Leben der Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg, Mitunterzeichner der Kapitualationsurkunde im sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst und Vater Ludwig von Friedeburgs.

Dienstag, 22. Mai 2007 – Fünfuhrvierzig, ist nicht wahr, oder: zwanzigkommasieben Grad. Hell. Blau mit Wölkchen.

Bei kleinen Mißgeschicken zu Hause jetzt immer der Reflex: Na, das hat ja bald ein Ende. Als würde ich danach keinen Kaffee mehr verschütten. Als würden keine Krümel mehr runterfallen und die Handtücher nicht mehr nass, wenn man sich mit ihnen abtrocknet. Es ist wirklich die unbedachte Vorstellung, es werde sich wirklich alles ändern.

Am 22. Mai 1980 starb im Alter von 98 Jahren die Schweizer Adelige Louise Elisabeth de Meuron, von der der Ausspruch stammt: “Im Himmel sind wir alle gleich, aber hier auf Erden herrscht Ordnung.”

Montag, 21. Mai 2007 – Dreiuhrfünfundfünzig, neunzehnkommadrei Grad. Dunkel. Seit anderthalb Stunden wach.

Freitag. Unser Hotel liegt in der für den Autoverkehr gesperrten alten Oberstadt von Marburg. Direkt am Markt. Casa di Dingsbums. Italienisches Fachwerk? Bloss, wie hinkommen? Erster Anlauf: Nee, hier ist gesperrt, da quellen schon die ganzen Japaner aus der Idiotengasse, fotografieren den Spiderman, irgendwelche Comicbärchen, dafür reisen die so weit. Zweiter Anlauf: hier nix weiter, hier Sackgasse. Dritter Anlauf: Endlich, ein Polizeiauto mit einem Polizistenpärchen drin. – Nee, hier sind Sie am Schloss, hier geht’s nicht weiter. Aber so genau wissen wir das auch nicht, wir kommen nämlich aus Gießen. – Na prima, vielen Dank für das nette Gespräch. – Vierter Anlauf: Komm, egal, jetzt versuchen wir’s von unten! Einfach rein in die Fußgängerzone! Steinweg, Neustadt, Wettergasse hoch. Gemaule, Proteste, dicke Familien, Franzosen, Touristen, evangelische Birkenstockdamen, blinde Stockklapperer. Dass wir nicht gelyncht werden, ist alles. Da isses. Casa di Dingsbums. – Sie haben Zimmer G. Das ist ganz oben, aber unser schönstes. – Na dann. Römischer Muff an den Wänden. Matratze zu weich. Na ja, okay. Wir gehen ja eh gleich wieder. Aber hier, der Ausblick: Rathaus, Schloss, alte Steine überall. Erst mal bißchen rumlaufen. Neustadt wieder runter. Elisabethkirche. Schöne, gotische Trauer. Neustadt wieder hoch und schlechten Cappuccino vor dem Rathaus. Wieder runter ins Domingo, Tapas, Kaninchen, Fischplatte, Crema catalana, dann Julie Delpys “Zwei Tage Paris” im Filmkunsttheater, ziemlich klamottig, manchmal ganz lustig, aber der Hauptdarsteller karikiert seine Rolle und macht sie dadurch kaputt. Wie heißt der? Keine Ahnung, will ich mir nicht merken. Müde.
Am Morgen dann dieser Gang durch die wirkliche alte Oberstadt, da, wo es keine Geschäfte und keine Touristen mehr gibt, sondern nur Mittelalter und Häuser und Mauern mit kleinen blaurotgrünen Gärten – zum in die Knie gehen …

Amöneburg. Und was soll hier jetzt so schön sein? Keine Ahnung. Wahrscheinlich die Lage. Mmh.
Dann zurück. Nach Goßfelden. Im Otto-Ubbelohde-Haus soll eine Ausstellungseröffnung sein. Liegt außerhalb des Ortes, wunderschön, der Garten … Aber es ist niemand da außer uns, auch der ehrenamtliche Museumswärter nicht, den es hier geben soll, auch nicht die Großnichte des Malers, die hier wohnen soll …
Durch den Kellerwald, über Gemünden, Dodenhausen, Haddenberg, Fischbach kurz ins Schneewittchendorf Bergfreiheit, zurück über Arnsfeld – irgendwo, zwischendurch ein regelrechter Brüder-Grimm-Schock: ein Tal, ein Bach, eine alte Mühle, eine Wiese mit Butterblumen übersät, darauf vier tollende junge Ziegen – Hundsdorf … bis zum Edersee und quer über die Langen Berge nach Baunatal. Wieder Garten, Pflanzen, Blumen, Bäume.

Am Grab.

Gestern die Marköbel-Runde. Und zum ersten Mal in diesem Jahr das Gefühl, nicht diesen Schwächevirus im Leib zu haben.

Jetzt, um 5.10 Uhr, ist es schon fast hell.

Am 21. Mai 1942 wurden Arthur Emmerlich, Kurt Steffelbauer, Johann Gloger und Alfred Grünberg in Plötzensee hingerichtet.

Freitag, 18. Mai 2007 – Zehnuhrnull, zwölfkommavier. Die Heizung ist wieder an.

Gestern “Ray”. Schon bemerkenswert, wie die nordamerikanische Kultur sich alles einverleibt und anverwandelt. Da haben sie alles, was man braucht, um eine aufregende, unkalkulierbare Geschichte zu erzählen: einen schwarzen, blinden Musiker (Ray Charles), einen türkischen Musikunternehmer (Ahmet “Omelette” Ertegün, dessen Vater der Rechtsberater Atatürks war) und einen jüdischen Plattenproduzenten (Jerry Wexler, Sohn eines aus Polen eingewanderten Fensterputzers.) Aber am Ende wird wieder alles auf die immer gleiche rührselige, weiße, patriotische Mittelstands-Dramaturgie herunter dekliniert. Was bleibt: Perfektion, Tränen, Langeweile und, na ja, diese umwerfende Musik.

Tot ist Gustav Mahler

Mittwoch, 16. Mai 2007 – Siebenuhrvierundfünfzig, elfkommavier Grad. Regen.

Was war das nun gestern, außer einem Rausch aus Reichtum und Rhododendron und einem unterirdischen Film mit einer interessanten alten Dame? Ich kau noch dran.

Dass unser Erziehungssystem so verändert werden müsse, dass wir – gemeint ist: Deutschland – wieder eine international konkurrenzfähige Elite aufzubieten hätten, sagt R. – der sich gewiss zur Elite des Landes zählt – in einem Ton, als sei es das Selbstverständlichste. Und ich: verstehe gar nichts. Weiß nicht, wofür eine Elite gut sein soll. Weiß nicht, warum wir, die wir doch sowieso eines der reichsten Länder sind, die anderen Länder immer noch mehr in die Defensive drücken müssen. Weiß auch gar nicht, ob mir nicht ein geschmackvoller Inder lieber ist als ein gut ausgebildeter Deutscher. Warum Elite? Warum nicht Augenhöhe, Demokratie? “Wo was groß ist” sang Degenhardt, “ist es drum herum meist klein.”

Am 16. Mai 2005 starb Rosa Winter (Foto), die als einzige ihrer Sinti-Familie den Holocaust überlebt hatte.
Hingerichtet wurde am 16. Mai 1946 der Chemiker Bruno Emil Tesch, der als Leiter der Hamburger Niederlassung der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung die deutschen Vernichtungslager mit Zyklon B belieferte.

Dienstag, 15. Mai 2007 – Neunuhrneunzehn, dreizehnkommaeins. Bedeckt. Gefühlte Rückkehr des Winters.

Gestern zum ersten Mal Beckmann. Dort ist Boris Becker zu Gast. Jede seiner Gesten, seine Mimik, sein Lachen, sein Zähneblecken, sein Augenzwinkern – all das strahlt eine so abgrundtiefe Verkommenheit aus …
Danach wie ein entgegengesetzter Lebensentwurf die alte Ruth Westheimer. 1928 in Frankfurt geboren, Eltern in Auschwitz ermordet, sie selbst überlebt in der Schweiz. In Palästina zur Scharfschützin ausgebildet, studiert Psychologie an der Sorbonne, geht 1956 in die USA und wird dort in den achtziger Jahren Dr. Ruth, eine der bekanntesten Sexualtherapeutinnen. Beherzt, vital und lebensklug, mit einem Gesicht, von dem man nicht genug bekommen kann. Alles richtig gemacht.

Am 15. Mai 1381 wird der fränkische Raubritter Eppelein von Gailingen hingerichtet.

Montag, 14. Mai 2007 – Zehnuhrvier, achtzehnkommanull. Bedeckt. Allein.

Focus-online meldet: Bei der Groß-Razzia bei militanten G8-Gegnern hat die Polizei nach FOCUS-Informationen in Berlin am Mittwoch Zubehör für Brandsätze mit Zeitzündern, wie „Wecker, Drähte, Uhren und größere China-Böller“ sichergestellt.
In meinem Haushalt würden sich darüber hinaus finden lassen: Feuerzeuge, Grillanzünder, Terpentin, Waschbenzin, explosive Reinigungssprays, hochprozentiger Alkohol, Stricke, Klebebänder, Fleischklopfer, Scheren, Äxte, Sägen, Hämmer, Messer, Bücher …

Gestern einsame 70 Kilometer. Schwach. Tote Igel. Viele Rennradrentner. Nixpassiert.

Heute vor zwanzig Jahren starb an den Folgen der Alzheimerschen Krankheit Margarita Carmen Cansino, genannt Rita Hayworth, eine, wie es heißt, im Privaten äußerst zurückhaltende Frau.

Sonntag, 13. Mai 2007 – Fünfuhrfünfundfünzig, zwölfkommavier, bedeckt, hell, frisch.

Auf dem Rad. Sturm, Regen, Wolken, Sonne. Aprilwetter. Kurz Unterschlupf im Chinesischen Pavillon des Bethmannparks. Hinter mir ein lautes Platschen. Drehe mich rasch um zu dem Teich, wo nun zum zweiten Mal für eine Sekunde ein unglaublich fetter Karpfen aus dem Wasser steigt, nach irgendwas schlappt und platschend zurück fällt.
Zwei Rotkehlchen, nervös, immer wieder jene Stelle unter dem Dachfirst anfliegend, wo sich wahrscheinlich ihr Nest befindet. Aber dort sitzt eine müde Taube, die endlich ihre Ruhe haben will.

In Dietzenbach, auf dem Weg zurück vom Hexenberg, an der Ampel stehend, rechts ein Garten, wieder ein Teich. Was für einen Lärm die beiden fetten Frösche machen, die dort auf den Blättern der Seerose sitzen. Man kann verstehen, das um so etwas Nachbarschaftskriege entbrennen.

Eine Frau mittleren Alters, – Gummistiefel, Barbour-Jacke – will den greisen Retriever, mit dem sie gerade einen langsamen Spaziergang hinter sich gebracht hat, dazu bewegen, in den Kofferraum ihres Kombis zu klettern. Als das Tier keine Anstalten macht, der Einladung zu folgen, schüttelt sie lachend den Kopf, seufzt resignierend und hebt den schweren Hundekörper ins Wageninnere.

Hauptfriedhof: Unter einem gemeinsamen Grabstein die Familien Fuchs und Wolf. Und auf einem Urnengrab der fast unglaubliche Name: Rosa Puff.

Schnell eine große rosafarbene Blüte geklaut und auf das Grab von Beltz gelegt.

Heute vor fünfzehn Jahren stürzte sich die Schriftstellerin Gisela Elsner aus dem Fenster einer Münchner Klinik. Gespenstisch der Besuch in ihrer Wohnung in der Giselastraße 4 in Schwabing, wo sie mir als erstes die Fenster des gegenüberliegenden Hauses zeigte, hinter denen sich angeblich BND und CIA postiert hatten, um sie Tag und Nacht zu überwachen.

Samstag, 12. Mai 2007 – Sechsuhreinundzwanzig, zwölfkommaneun. Hell. Eben noch hat es eine Stunde lang geregnet. Leuchtende Wolkenränder über Seckbach. Guten Morgen, Atilla!

Man sollte ein Anliegen nie nach denen beurteilen, die dafür eintreten. – Hä? Auf welche Marmortafel willst du das denn schreiben? – Na, ist doch wahr, es hat schon so viele Idioten gegeben, die sich für eine gute Sache eingesetzt haben …

Was einen großen Teil der Künstler, Schriftsteller, Schauspieler so langweilig macht, ist ihr mühsam verhohlenes, aber unentwegtes Bestreben, sich auf dem Markt zu positionieren. Bei vielen ist kaum mehr auszumachen, um was es ihnen sonst noch geht. Gestern Abend Dominique Horwitz in “Kulturzeit”, redet über den Bürgerkrieg in Ruanda, dabei zuckt sein Gesicht regelrecht vor Eitelkeit …

Und was, wenn es die einfachste Lösung wäre, die Telekom zu re-sozialisieren?

Egal des Tages: DJ Bobo verpasst das Grand-Prix-Finale.

Tot ist Eugène Ysaye.

Freitag, 11. Mai 2007 – Sechsuhrzweiunddreißig, sechzehnkommneun. Bedeckt. Schweres Reissen in der Schulter.

Philipp Müller, ein einundzwanzigjähriger Arbeiter aus München, nahm am 11. Mai 1952 in Essen an der “Jugendkarawane gegen Wiederaufrüstung” teil. Obwohl die Veranstaltung kurzfristig verboten worden war, fanden sich 30.000 Demonstranten ein. Polzeikommissar Knobloch gab den Schießbefehl. Zwei Demonstranten wurden schwer verletzt, Philipp Müller erhielt eine Kugel ins Herz. Alle drei Opfer wurden von hinten getroffen. Das Dortmunder Landgericht stufte die Schüsse als Notwehr ein.

Donnerstag, 10. Mai 2007 – Neunuhrachtunddreißig, fünfzehnkommasechs. Bedeckt. Trocken.

Aus der Münchner Galerie Bernd Dürr ist die Gouache von Kurt Lauber gekommen. “Liegende weibliche Akte am Strand.” Um 1955.

Tot sind Fritz Wehrmann aus Leipzig, Alfred Gail aus Kassel und Martin Schilling aus Ostfriesland. Sie verließen am 2. Mai 1945 in Svendborg ihr Bataillon der Kriegsmarine, um nach Hause zurückzukehren, wurden aber von dänischen Hilfspolizisten festgenommen und dem Kapitän zu See Rudolf Petersen übergeben. Am 9. Mai, einen Tag nach der Kapitulation, wurden die drei zum Tod durch Erschießen verurteilt. Petersen ließ das Urteil am 10. Mai 1945 vollstrecken. Nach dem Krieg strengte die Mutter von Fritz Wehrmann einen Prozess gegen Petersen an, der wie die beiden Folgeprozesse mit Freispruch endete. Anna Wehrmann starb nach 20 Jahren in einem Pflegeheim in geistiger Umnachtung. Die Mutter von Alfred Gail nahm sich nach dem letzten Prozess das Leben. Kapitän Petersen machte Karriere als Geschäftsmann und beim Militärischen Abschirmdienst. Er starb am 2. Januar 1983. Er überlebte nicht den Schreck, den er bekommen hatte, als ihm Jugendliche am Silvestertag 1982 beim Öffnen der Wohnungstür Feuerwerkskörper ins Gesicht geworfen hatten.

Mittwoch, 9. Mai 2007 – Dreiuhrachtunddreißig, vierzehnkommazwei. Seit fast anderthalb Stunden wach. Stürmisch, nass draußen. Schöne Formulierung: Durchziehende Regengebiete.

Immer eine Freude, wenn jemand die eigenen Götter in Frage stellt. Wie heute im Hifi-Forum der kluge Angriff auf Schuberts Quintett, das ich so ganz unhinterfragt zu meinen Lieblingen zählte. Sofort entsteht Neugier, kommt etwas in Bewegung …

Warum geht mir gerade alles Perfekte, Gestylte, Durchgearbeitete so auf die Nerven? Stattdessen werde ich sofort wach, wenn etwas improvisiert ist – scheinbar nebenbei entstanden, amateurhaft, aus dem Handgelenk.

Kurzer Hoffnungsschimmer, dass das Wettdopen mit Bassos Geständnis ein Ende haben könne. Gestern dann sein kläglicher Rückzieher. Wieder einer, der nur zugibt, was ihm schon nachgewiesen wurde. Jämmerlich.

Tot ist der luxemburgische Radrennfahrer Francois Faber, der 1909 als erster Nichtfranzose und mit 91 Kilogramm als schwerster Fahrer aller Zeiten die Tour de France gewann. Er starb 27-jährig an der Front in Clarency.

Dienstag, 8.Mai 2007 – Sechsuhrzwei, zwölfkommaneun. Himmel: macchiato

Gestern, 12.45 Uhr: Das Mailprogramm gibt mit einem leisen “Plopp” das Eintreffen einer neuen Nachricht bekannt. Eilmeldung der Tagesschau-Redaktion: “Der Bundespräsident hat entschieden, von einem Gnadenerweis für Herrn Christian Klar abzusehen.”
Seltsam, ich bin regelrecht geschockt.

Und was jetzt? Nicht mehr nach Frankreich in Urlaub fahren? Kann ja wohl nicht sein. Sarkotzi.

Todestag von Gustave Flaubert. Könnte eigentlich mal wieder die “Éducation sentimentale” lesen. Zum zehnten, zwölften Mal?
Dort der Satz: “Es gibt Lebenslagen, in denen auch der am wenigsten grausame Mensch so losgelöst von allem anderen ist, dass er ohne Herzklopfen das ganze Menschengeschlecht zugrunde gehen sehen könnte.”

Montag, 7. Mai 2007 – Fünfuhrvier, siebzehnkommafünf. Dunkel. Zwitschern.

Göring bei seiner Festnahme am 7. Mai 1945 zu den amerikanischen Soldaten: “Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt.”

Gestern beim Aufstehen plötzlich das Gefühl, es hänge alles Glück davon ab, dass ich noch heute Iosselianis “Günstlinge des Mondes” sehen kann. Schaue in den ersten Band des alten Pariser Telefonbuchs, das ich mal an der Metrostation Belleville mitgenommen habe. Na klar, hier ist er doch verzeichnet, der Regisseur. Mit Adresse und Telefonnummer: 13, rue Feaubourg Montmartre, 701758. Wenn ich jetzt anriefe, könnte er eine DVD zum Gare de l’Est bringen, und ich könnte sie hier am Hauptbahnhof abholen. Aber nein, natürlich rufe ich nicht an. Sondern steige in den Keller und grabe ihn um. Nichts. Ist nicht da, die VHS-Kassette. Bestimmt vor Jahren verliehen und nie zurück bekommen.

Fahr ich halt in die Wetterau. Fünfzig Kilometer. Forciert.

Hast Du ‘ne Ahnung, wo “Die Günstlinge des Mondes” sind? – Fünf Minuten später: Ja, hier sind sie doch, waren ganz hinten im Regal; aber komm bloß jetzt nicht auf die Idee, dich vor den Fernseher zu setzen, bei dem Wetter, wir fahren jetzt mit den Rädern raus. – Aber ich bin doch heute schon …
Na gut, in die Nidda-Auen. Ins Gras. Auf den Rücken. Unter eine Buche. Schön. Verklebt hinterher vom Harz. Zurück mit einem Schlenker über den Campus. Einmal um den Poelzig-Bau. Nach Hause. Grüner Spargel mit Riesengarnelen. Wo hab ich denn jetzt die Kassette hingelegt? Das kann doch nicht wahr sein, oder? Erneute Suche, halbe Stunde. – Dann: Hier liegt sie, mitten auf dem Tisch, unter den anderen. Schieb sie rein! – Na bitte. Das Glück meines heutigen Lebens ist gerettet. Der Film läuft und ich schlafe fast umgehend ein.

Tot ist Willi Brundert, 1935 in die Sozialistische Jugend eingetreten, Widerstand gegen die Nazis. Nach dem Krieg Professor in Halle, als westlicher Agent inhaftiert, nach der Haftentlassung in die BRD geflohen. Oberbürgermeister von Frankfurt geworden.

Samstag, 5. Mai 2007 – Sechzehnuhrfünfundvierzig, dreiundzwanzigkommasechs Grad. Bewölkt, regenschwer.

Gestern Mittag mit Ati in die Freitagsküche. Immer Scharlottes scharmante Schürzen vor dem Bauch: mit den anderen gekocht, gelacht, getrunken, gegessen. Wenn alles immer so wäre, würde ich nie mehr etwas anderes tun wollen. Als? Als alles! Angefüllt – in jeder Beziehung – um Mitternacht nach Hause, eine Flasche weichen Grappa unterm Arm.

Merken für den Film:
Krähe, wundersames Tier.
Rabe auf einem Leichenwagen.
Ameisen.
“Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.”
Ankunft Hecker auf dem Frankfurter Hauptbahnhof.

Heute hat mal jemand Geburtstag: Jean-Pierre Léaud (auf dem Foto zusammen mit Godard).

Freitag, 4. Mai 2007 – Elfuhrfünfzehn, achtzehnkommafünf. Blau. Sonne.

Chr. entdeckt in den Briefen Richard P. Feynmans einen Satz von Niels Bohr: “Drück dich nie klarer aus, als du denkst.”

Dazu Robert Musil: „Stil ist für mich die exakte Herausarbeitung eines Gedankens. Ich meine den Gedanken, auch in der schönsten Form, die mir erreichbar ist.“

Und die Einstein zugeschriebene Äußerung: “Man soll alles so einfach machen wie möglich, aber nicht einfacher!”

Tot ist Gino Bartali, zweifacher Gewinner der Tour de France, dreifacher Gewinner des Giro d’Italia.

Donnerstag, 3. Mai 2007 – Zehnuhreinundfünfzig, fünfzehnkommaein Grad. Sonne. Blau. Gut geschlafen wie lange nicht mehr.

Tchibo, jede Woche eine neue Welt: “Lieber Herr Altenburg, der Sommer regt zum Träumen an. Mit Sommermode für die Schönsten aller Frauen. Luftigleichte Kleidung, die ein frisches Aussehen in den heißen Monaten garantiert. Genießen Sie diese Zeit – Sonnenstrahl für Sonnenstrahl. Moment für Moment.”
Wie soll man da nicht zum Amokläufer werden?

Am 3. Mai 1998 erhängte sich der Schauspieler Raimund Harmstorf, einen Tag nachdem die Bild-Zeitung berichtet hatte: “Seewolf Raimund Harmstorf in der Psychiatrie”. Harmstorf litt an der Parkinsonschen Krankheit und nahm starke Medikamente, um das Leiden vor seiner Umgebung zu verbergen.

Mittwoch, 2. Mai 2007 – Fünfuhrvierundzwanzig, zehnkommanull Grad. Einsetzende Dämmerung.

Gestern gegen drei Uhr aufgewacht. Das wars. Um kurz nach sieben runter. Rad ins Auto, auf Atilla warten. Im Radio Beethovens Streichquartett nach der Klaviersonate op. 14 Nr. 1.
Zum Main-Taunus-Zentrum. Startunterlagen abholen. Vor dem Kinopolis Aufstellung zum Gruppenfoto. Christian, Gerolf, Hilmar sind da. Yvi auf den Stufen, lacht in der Sonne und macht Support.
In die Blöcke. Unglaublich, wie viele verkniffene, wild entschlossene Fressen hier rumstehen. Startschuss um 9.18 Uhr. Ati bolzt los, als wären wir bereits im Schlusssprint. Schon auf der Flachstrecke bis Eppstein merke ich, dass ich das Tempo nicht halten kann. Der Schulberg geht leidlich. Oben hinter der Spitzkehre, wo voriges Jahr ein Fahrer aus der Kurve getragen wurde und gegen eine Hauswand geprallt ist, sind jetzt Strohballen aufgestapelt. Aber direkt dahinter liegt schon wieder einer vor dem Garagentor. Sieht nicht gut aus.
Kurz hinter Eppstein blockiert Atillas Tretkurbel. Und der schwarze Pickup, auf den vorher alle geschimpft haben, kommt jetzt gerade recht. Während der Mechaniker schraubt, textet mich ein Zuschauer voll: dass sein Sohn ja Triathlon mache, dass das Wetter heute ja ideal sei, dass es doch ein Wahnsinn sei, dass es so viele Arten von Ventilen gebe und er schon geglaubt habe, seine Luftpumpe sei kaputt … Logorrhoe. Schaden behoben. Weiter.
Aber schon kurz danach ist Atilla abgezogen und ich allein. Mit all den anderen. Ein paarmal höre ich meinen Namen und das Wort “Ritzel”, ohne jemanden zu erkennen. Oben auf dem Ruppertshainer dann Alex und Tobias, winkend, anfeuernd, fotografierend. Dann kommt die lange, flache Bolzerei nach Frankfurt. Gegen den Wind. Und ich hab’ keine Gruppe. Zieht alles an mir vorbei. Oder ist zu langsam, so dass ich weiter springe. Bei Kilometer 75 bin ich kurz davor aufzugeben. Stopfe alles rein, was in den Taschen ist: Riegel, Banane, Gummibärchen. Und fahre weiter. Am Henninger-Turm ziehen die Juniorinnen links locker an uns vorbei. Großer Hasenpfad – winke Hauptkommissar Robert Marthaler zu, der mit Tereza am Fenster steht. Aber außer mir kann die beiden niemand sehen. Die letzten zwanzig Kilometer suche und finde ich den Windschatten einer leidlich schnellen Gruppe. Lustlos ins Ziel gerollt. Mit einem Schnitt von knapp unter 32 km/h. Der in der offiziellen Wertung wegen Atis Panne nochmal kräftig nach unten korrigiert werden wird. Und schlecht ist mir auch.
Im Auto zurück. Auf der Hamburger Allee tapert uns Jürgen entgegen, finsteren Blickes. Kein Wunder, er kommt ja vom Römerberg. Bis gleich im Albatros! Dort in den Garten…; aber das ist ja ein richtiges Kleinod. Wenn der bei uns im Viertel wäre, würde ich doch noch zum Caféhaus-Literaten werden. Chr. kommt, und gleich geht’s mir besser. Und Ralf ist inzwischen auch dazu gestoßen. Dann an die Strecke zu den Profis: Schloßstraße, Ecke Adalbert. Eine Gruppe von zehn Ausreißern kommt, Sinkewitz dabei. Drei Minuten später das Peleton, angeführt von Jens Voigt, der irgendwas flucht. Weg sind sie.
Und wir rasch in Tobis Wohnung vor den Fernseher. Sinkewitz kommt durch, fährt durchs Ziel, merkt aber nicht, dass er bereits die letzte Runde hinter sich und gewonnen hat. Dann erscheint Marcel Wüst auf dem Schirm; ein Aufschrei geht durchs Zimmer: “Wie sieht denn der aus?” – Wie Costa Cordalis. – “Purer Sex”, sagt Alex. Ja, aber es ist dieser Ballermannfriseusensex. Und Sinkewitz mit seiner Fistelstimme hört sich an wie Willy aus der Biene-Maja-Serie: “Komm, Maja, lass uns über die Klatschmohnwiese fliegen!”

Schon lustig, dass Joseph McCarthy und J. Edgar Hoover den selben Todestag haben.