Geisterbahn

Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Roman

Freitag, 24. August 2007 – Fünfuhrneunundfünfzig, sechzehnkommasechs Grad. Gerade erst dämmerig.

Das Mosch Mosch ist eine japanische Nudelbar im Frankfurter Bahnhofsviertel. Besonders um die Mittagszeit ist es ein beliebter Treffpunkt für Banker, Werber und das umliegende akademische Kleingewerbe. Die Gerichte sind wohlschmeckend, der Service freundlich. Damit man sich die Krawatte nicht bekleckert, bekommt man ein riesiges Papierlätzchen ausgehändigt, was nicht nur zur sogenannten Businesskleidung einigermaßen albern aussieht. Übertroffen wird diese praktische Geschmacklosigkeit allerdings von jenen Damenslips, die am Tresen zum Verkauf stehen und den Aufdruck tragen: MuschiMuschi

In der Fußgängerzone auf dem Boden sitzt ein bärtiger Mann, offensichtlich arm, offensichtlich nicht gesund. Neben sich eine Plastikschale für die erhoffte kleine Zuwendung, und auf dem Schoß einen schlafenden Hund, der von Herrchens grindigen Händen zärtlich gegrault wird.
Ein Paar kommt vorüber, bleibt stehen. Er zu ihr: “Nun guck den armen Hund an. Man sollte glatt das Tierheim anrufen.”

Dritten Todestag hat Irmgard Düren, wie es heißt “Moderatorin des ehemaligen Fernsehens der DDR”. Warum nicht gleich: ehemalige Moderatorin des ehemaligen Fernsehens der ehemaligen DDR?

Montag, 20. August 2007 – Fünfuhrfünfundfünfzig, sechzehnkommazwei Grad. Wie wird’s?

Fünfzig Deutsche hetzen bei einem Alstadtfest acht Inder durch das sächsische Mügeln. Die Inder flüchten in eine Pizzeria, deren Fenster von den Deutschen eingeworfen und deren Tür eingetreten wird. Landespolizeipräsident Bernd Merbitz: “Ein fremdenfeindliches Motiv wird nicht ausgeschlossen.” Es sei unklar, ob die zahlreichen Schaulustigen zustimmend applaudiert “oder einfach nicht eingegriffen hätten”, sagt Reinhard Böttcher, der Leiter des Direktionsbüros bei der Polizei Westsachsen.
Noch so ein Tag, den man sich wird merken müssen.

Rio Reiser ist seit elf Jahren tot.

Donnerstag, 16. August 2007 – Dreiuhrsiebenundfünfzig, einundzwanzigkommaneun. Muss man viel trinken, auch nachts. Regnet. Jetzt Martinshörner. Jemand singt was mit Oléoléolé in der Dunkelheit. Wind.

Immerhin davon kann man noch träumen, wenn einem die Welt schon sonst nicht mehr viel zu sagen hat: dass die letzten, über die Erde verstreuten Exemplare einer selten gewordenen Ameisenart nächtliche Funksprüche austauschen, um den Widerstand zu organisieren gegen … na, gegen wen wohl?

Tot ist Hans Helmcke, Bordellbesitzer, Investor. Gab die Ermordung einer Architektin in Auftrag, wurde von einem Konkurrenten mit der eigenen Krawatte erdrosselt.
Tot ist ebenfalls Stewart Granger (auf dem Foto ohne Krawatte).

Freitag, 10. August 2007 – Achtuhrdreißig, sechzehnkommazwei Grad. Trübe, aber trocken. Noch.

Am Donnerstag, den 9. August 2007 um nulluhrsechsundvierzig verlangt Leser Michael Müller aus Wetzlar: “Mensch Jan, schreib einfach einen neuen Marthaler”. Am Donnerstag, den 9. August 2007 um vierzehnuhrachtundvierzig: Es ist vollbracht. So schnell kann’s gehen.

Auf dem Titelblatt der neuen Zeit das Foto einer jungen Frau; Dickmund, Kuhauge, das blonde Haar nach hinten hochgesteckt, paar Strähnen haben sich lasziv gelöst. Zugegeben: Sie guckt ein wenig doof aus der spärlichen Wäsche. In der rechten Hand, um deren Gelenk sich ein schwarz-rot-goldenes Schweißband ringt, hält sie: eine rote Fahne. Dazu der Text: “Deutschland rückt nach links – Eine große Zeit-Umfrage belegt: Bis weit ins konservative Milieu hinein sind klassisch linke Positionen inzwischen mehrheitsfähig.” Ich hab’s der Taube vor meinem Fenster erzählt. Da hat die Taube sehr gelacht.

Gestorben ist heute vor dreißig Jahren in Paraguay Eduard Roschmann alias Federico Wegener alias der “Schlächter von Riga”.

Donnerstag, 9. August 2007 – Dreiuhrfünfzig, fünfzehnkommadrei Grad. Dunkel. Regnet gerade mal nicht. Doch, regnet. Schon wieder seit anderthalb Stunden wach.

Weiter in Fests Hitler-Buch. Es war mir nicht klar, dass es erst Hitler war, der den Nationalismus – welcher zuvor den Stolz der mächtigen Eliten ausdrückte – zur Volksbewegung, zur Sache der kleinen Leute gemacht hat. Erst Hitler, jedenfalls behauptet Fest das, hat “Vaterland” und “Straße” zusammengebracht und damit dem Bürgertum auch die Furcht vor seiner pöbelhaften Bewegung genommen. Dem Internationalismus der Linken, der immer auch gegen die latente Angst vor dem Fremden anstreiten muss, hat er die Nation als simpelste Identitätsstiftung entgegengesetzt. Egal, an welchem Socken man lutscht: “Hauptsache deutsch”.

„Fast unser ganzes Unglück entspringt dem, dass wir nicht in unserm Zimmer bleiben können.“ (Pascal)

Mein momentanes Unglück besteht darin, nicht aus meinem Zimmer heraus zu kommen.

Sharon Tate ist tot.

Montag, 6. August 2007 – Vieruhrfünfzig, neunzehnkommadrei Grad. Dunkles Rauschen. Sterne. Halbmond.

Fast vergessen: Kurt Laubers “Zimmerpflanze” ist gekommen.

Am Samstag kurze Recherche in der Stadt. Im Westhafen, hinter dem Hochhaus, das man den “Gerippten” nennt: teure Wohnungen, toter Chic, verschmockte Restaurants: “Frankfurter Botschaft”, “Lebensart” … Aber dann, ein bißchen weiter Richtung E-Werk und Eisenbahnbrücke, sofort wieder das struppige Paradies, der wuchernde Verrott.
Selten so eins gewesen mit der Stadt wie an diesem frischen Morgen.

Hanau Hauptbahnhof an einem heißen Sommersonntagnachmittag. Da möchte man nicht tot überm Zaun hängen.

Am Abend auf arte Martha Argerich und das Leipziger Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly mit Schumanns Klavierkonzert. Argerich enthält sich jeder Exaltiertheit, keine Löwennummer, keine Virtuosenmätzchen. Nur schwebend-souveräne Schönheit. Und dann als Zugabe dieses kleine selige Stückchen … muss ich noch rauskriegen, wie das hieß … Hab’s schon: Von fremden Ländern und Menschen aus den Kinderszenen. Wie konnte ich leben, ohne das zu kennen?

Auf Google Maps ist Korea ein unerforschtes Land. Es gibt keine Dörfer, Städte oder Straßen. Eine weiße Karte mit ein paar Wasserläufen, mehr nicht. Alles auf Anfang.

Vor zehn Jahren starb Jürgen Kuczynski.

Samstag, 4. August 2007 – Sechsuhrneunundzwanzig. Fünfzehnkommanull Grad. Hell, hübsch.

Der Showdown steht bevor, aber der Ort noch nicht fest. Also wo? Alte Oper? Lutherkirche? Saturn Hansa? Asia-Laden auf der Kaiserstraße? Ein Park? Ein Spielplatz?

Gestern fällt mir ganz unverhofft ein Twist für die Auflösung ein. Sitze eine Stunde lang bewegungslos am Schreibtisch und überlege, ob und wie es gehen könnte. Es geht! Ein unglaublicher Glücksschub.
Aber es ist wie immer: es war bereits angelegt. Nur hätte ich es fast übersehen.

Mal wieder bisschen Patti Smith hören.

Wie mich das nervt, dass es kaum noch Schwarzweiß-Fotos in den Zeitungen gibt.

Tot ist Claude Frizzel Bloodgood, der seine Schwiegermutter erdrosselte und gerne Schach spielte.

Freitag, 3. August 2007 – Siebenuhrfünf, siebzehnkommaneun. Wird wohl gut.

Provokation und Opportunismus schließen einander keineswegs aus, oft bedingen sie einander sogar: Siehe Christoph Schlingensief, siehe Wolf Biermann …

In der SZ ein Beitrag über einen neuen hessischen Millionen-Skandal, in den neben einer Werbeagentur auch wieder Mitglieder der “Tankstelle” verwickelt zu sein scheinen. Als “Tankstelle” wird eine Gruppe von führenden CDU-Politikern bezeichnet, die Anfang der achtziger Jahre auf der Autobahnraststätte Wetterau gegründet wurde: Roland Koch, Volker Hoff, Volker Bouffier, Karlheinz Weimar, Jürgen Banzer, Franz Josef Jung und Karin Wolff. In dem Artikel auch der angeblich alte, mir aber neue Scherz: “Sag meiner Mutter nicht, dass ich in der Werbung arbeite – sie denkt, ich sei Pianist im Puff”.

Das Bürgertum – eine andere Bezugsgröße gibt es derzeit nicht.

Heute vor zwanzig Jahren starb der Regisseur Heinz Dunkhase (“Dinner for One”).

Mittwoch, 1. August 2007 – Fünfuhrzwanzig, zwölfkommaacht. Wieder in der Jacke am Schreibtisch. Dämmerung.

Der Roman verschlingt alles. Alle Zeit, alle Kraft, jede Wahrnehmung. Was er sich nicht einverleiben kann, exisitiert nicht. Es ist wieder dieses asoziale, fast exterritoriale Vegetieren.

Auf haGalil ein großer Artikel über Nicolas Sarkozy und seine jüdischen Wurzeln. Die Seite ist wirklich so ziemlich das Beste, was man im Netz finden kann.

Und was ist mit Chuzpe? Ist das eingestellt? Letzter Eintrag aus dem Oktober 2006. Warum? Gibt es irgendwo einen Ersatz dafür?

Lektüre: Joachim Fest, Hitler.

Heute vor zehn Jahren starb Swjatoslaw Richter.