Geisterbahn

Dienstag, 31. Januar 2012 – Fünfuhrachtundfünfzig, minus nullkommasechs. Dunkel. Wach seit Viertel vor Vier, aber okay. Weiter in den Minima Moralia.

Linker Antisemitismus, Teil II. Selbes Thema, selbes Schema – Der Jugendverband der Partei “Die Linke” heißt “solid”. Innerhalb von “solid” gibt es einen Bundesarbeitskreis, der sich “BAK Shalom” nennt. Samuel Salzborn, Sozialwissenschaftler aus Gießen, und Sebastian Voigt, Mitbegründer von “Shalom”, haben gemeinsam einen Aufsatz verfasst, in dem sie antisemitische Tendenzen in der Linkspartei untersuchen. Obwohl die Autoren eher vorsichtig argumentieren und im Zweifel keine Böswilligkeit bei den Akteuren der Linken unterstellen, erregte das Papier bundesweit Aufsehen. “Die Linke” wies die Ausführungen zunächst in Bausch und Bogen zurück (Gysi: “schlicht Blödsinn”), sah sich dann aber aufgrund der sachlichen Darstellung und einer Fragestunde im Bundestag doch in Zugzwang und gelobte Besserung. Allerdings nur, um schon bald genervt auf die anhaltende Kritik von “Shalom” zu reagieren. Dieser Tage rang Knut Mellenthin in der “jungen welt” nach Worten, um die unangenehme Diskussion zu beenden und befand abschließend, dass das Dokument nichts weiter als eine “primitive Kampfschrift” sei: “In Wirklichkeit handelte es sich bei der ‘Studie’ um politische Agitation, und zwar von der schmutzigsten, unredlichsten Sorte.” Statt innezuhalten und sich der eigenen Defizite gewahr zu werden, brandmarkt man die zaghaften Kritiker als Feinde und gibt sie damit gleichsam “zum Abschuss frei”.

Am 31. Januar 1911 starb Paul Singer, zu dessen Beerdigung fast eine Million Menschen kamen.

Montag, 30. Januar 2012 – Elfuhrvierundfünfzig, nullkommazwei. Ostwind.

Linker Antisemitismus, Teil I – Wer sich die Texte der Hiphop-Gruppe “die bandbreite” ansieht, wird rasch gewahr, das hier im Gewand antikapitalistischer Phrasen sexistische, verschwörungstheoretische und strukturell antisemitische Inhalte transportiert werden. Die Deutsche Kommunistische Partei hatte die Musiker zu ihrem letztjährigen UZ-Pressefest zunächst ein-, nach interner Kritik jedoch wieder ausgeladen. Daraufhin aber erhob sich in der Partei ein so lautstarker Protest gegen die internen Kritiker, dass man die Ausladung wieder rückgängig machte und das nun doch stattfindende Konzert der Antisemiten “zu einem Höhepunkt des Festes” der Kommunisten werden konnte. Die unterlegenen Gegner der “bandbreite” waren derweil zu “Meinungsterroristen” (Rainer Rupp) erklärt worden, die “von innen her das Rot aus den Wangen der Linken saugen” (Diether Dehm). Die kommunistische “Neue Rheinische Zeitung” schrieb: “Die Linke demontiert sich selbst und zerfleischt sich in aufgepflanzten Debatten, zum Beispiel über real weitgehend nicht existierenden Antisemitismus”. Man schloss die Reihen und verwahrte sich gegen “die üble Kampagnen-Masche” und die “dubiose, teils anonyme Internethetze”: “Keinen Fußbreit dürfen wir weichen.” Wem? Den Judenfreunden? Den Juden?

Gandhi ist tot.

Sonntag, 29. Januar 2012 – Elfuhreinundfünfzig. Nullkommavier. Bedeckt.

In unserer Siedlung, wo Einkommen, Wohnfläche und Bildungsniveau ein wenig über dem Durchschnitt liegen, wo man den Rücken zur Stadt, mithin zur umgebenden Welt ein wenig rund macht, kann man sonntagmorgens an der Bäckereitheke des Supermarktes Brot und Kuchen erwerben und trifft dabei fast unausweichlich auf einen Typus Mann, der nicht nur Sympathie weckt. “Ich weiß gar nicht”, sagt F., “warum mich diese jungen, gut verdienenden Väter so aufbringen. Aber sie sind so leutselig, so selbstgerecht, sie gehen so demonstrativ verständnisvoll mit ihren Gören um, dass alles an ihnen zu sagen scheint: Seht her, was ich für ein guter, neuer Vater bin! Wirklich, man möchte ihnen eine Rotte rüpelner Russen auf den Hals …”

Das Glück, Adorno zu lesen. – Mit ihm geht nicht alles, aber ohne ihn geht nichts. Fehler macht gottlob auch er: So freut man sich über die Superlative “blindeste” und “tödlichste”, die man dennoch lieber nicht lesen möchte. Ganz anders als die Charakterisierung des Schlaumeiers, als der man sich gerade geriert hat: “Noch der armseligste Mensch ist fähig, die Schwächen des bedeutensten, noch der dümmste, die Denkfehler des klügsten zu erkennen.”

Sprichwort: “Die Heuchelei ist ein Kompliment an die Moral.”

Hermann Bang ist tot.

Dienstag, 24. Januar 2012 – Achtuhrzweiundfünfzig, dreikommadrei. Wolken, Sonne, Schnupfen.

Am Sonntag mit dem ICE nach Hamburg – Dammtor, Sternschanze, Neuer Pferdemarkt, Hotel Pacific, deprimierend, schnell wieder raus. Zu Fuß durch Sankt Pauli Richtung Fischmarkt. Unterwegs hinter dem Fenster einer Sportkneipe auf dem Riesenfernseher das Spiel HSV gegen Dortmund. Der Zwischenstand 0:5. Kleiner Hunger, durch die Große Elbstraße, durch die Dunkelheit, durch den Fusselregen. Überall nur solche Edelfressen, Hummerrestaurants etc. Dann aber doch eine verkommene Kaschemme, ich der einzige Gast, fettiger Wirt, schlechteste Frikadelle der Welt – wie gewünscht. Vor dem Golem steigt Ebermann aus dem Taxi, gebückt. Freue mich, Gremliza zu sehen, geht gleich um Rennräder (de Rosa, Gios). Wolfgang, Philipp, Dorothee und Katrin, die sich schrecklicherweise daran erinnert, dass wir uns am 28. Januar 1985 im Treppenhaus der Goebenstraße 9 eine ganz unmetaphorische Kopfnuss geteilt haben.
Dann diese Diskussion, kein Gespräch, sondern eher eine Vorlesung mit verteilten Rollen, von Ebermann dominiert – klug, aber schrecklich closed, monologisch, frei von jeder Neugier. Hinter allem so eine “erledigende Gebärde”. So dass ich am Ende dumm dastehe, wofür ich wohl auch einbestellt war. Na.
Als Zugabe noch ein kurzer, tragikomischer Auftritt von Tomayer. Und Gremlizas Schlusswort: “Es gibt kein richtiges Leben in Flaschen.”
Zum Glück dann munter am Tisch mit Piwitt und Ingrid. Als ich uns an der Theke einen Korn holen will, bescheidet mir der teuer beanzugte Schnöselkeeper, man habe nur Gin für 40 Euro das Glas, rückt dann aber doch zwei bezahlbare Stamperl Wodka raus. Seltsam, dass sich – außer Gremliza – alle ohne Abschied verkrümeln. Oder macht man das hier so?

“Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es tut mit leid, dass ich Ihnen vielleicht meine Schande gestehen muss) keinen Begriff, und sie scheint mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre.” (Lessing in einem Brief an Gleim, 14. 2. 1759)

Todestag von Alexander Kanoldt, einem der langweiligsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit. 1932 der NSDAP beigetreten, ’33 gleich Professor geworden. Hat seinem Werk nichts genützt, wurde trotzdem als “entartet” verboten.

Montag, 16. Januar 2012 – Vierzehnuhrdreizehn, einskommasechs und wunderschön.

Spiegel online: “Europas Krise, Deutschlands Segen – Die Euro-Zone driftet immer stärker auseinander. Italien und Spanien zahlen für ihre Anleihen hohe Zinsen, der Bundesregierung dagegen schenken Investoren sogar Geld, damit sie bei ihnen Schulden macht. Auch bei Export und Arbeitsmarkt gilt: Viele EU-Länder leiden, Deutschland profitiert.”

George Steiner auf die Frage, ob er es für möglich halte, dass Europa zusammenbreche: “In seinem jetzigen Zustand ist das schon möglich. Doch irgendwie werden wir damit zurande kommen. Die Ironie ist, dass Deutschland wieder dominant werden könnte.”

Ingo Schulze über eine Lesung in Portugal: “Eine Frage aus dem Publikum ließ die gesamte freundlich-interessierte Atmosphäre von einem Moment auf den anderen kippen. Plötzlich waren wir nur noch Deutsche und Portugiesen, die sich feindlich gegenübersaßen. Die Frage war unschön – ob wir, gemeint war ich, ein Deutscher, nicht jetzt mit dem Euro das schafften, was wir damals mit unseren Panzern nicht geschafft hätten. Niemand aus dem Publikum widersprach.”

“Und ich habe Deutschland so geliebt.” – Das sollen die letzten Worte Mildred Harnacks gewesen sein, bevor sie am 16. Januar 1943 in Plötzensee unter dem Fallbeil starb.

Samstag, 14. Januar 2012 – Elfuhrdreiundvierzig, vierkommazwei. Ganz hübsch, der Himmel.

Lieber Götz,
es ist nett, dass Du Dich so eingängig mit meinen hingeworfenen Gedanken beschäftigst.
Freilich ist mir das schöne Jäger-Fischer-Hirte-Zitat seit Jugendtagen vertraut, nur: Es bezieht sich eben auf eine Gesellschaft, in der etwas erreicht ist, von dem wir weit entfernt sind. Nämlich auf “eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist”. Und die “Kritik der kritischen Kritik” in der “Heiligen Familie” wird Dir doch auch nicht unbekannt sein.
Aber lass uns nicht mit Bibel-Zitaten fuchteln!
Es gibt vielleicht ein Defizit der Theorieaneignung, aber ein Theorie-Defizit sehe ich nicht. Es ist doch alles analysiert, es ist doch alles gesagt, was über die Zustände zu sagen ist – und bei Brecht, bei Peter Weiss, bei Piwitt und in Chotjewitz’ wunderbarem nachgelassenen Buch finden wir es auch auf beredteste Weise gesagt. Interpretiert ist die gegenwärtige Welt doch von allen Seiten – und “konkret” tut das jeden Monat aufs Neue. Langsam kommt es mir vor, als würden wir immer wieder versuchen, eine Kugel von allen Seiten zu beschreiben. Aber: Kömmt es nicht irgendwann mal darauf an, diese Welt zu verändern?
Kernpunkt unserer Auseinandersetzung scheint mir Deine Vermutung zu sein, dass jede politische Praxis jenseits der Theorie – jedenfalls momentan – affirmativ wirke. Ist das so? Sind wir also, wollen wir unserer Sache nicht schaden, zum “reinen Denken” verurteilt?
Du schreibst: “Unser Interesse kann nicht sein, den Kapitalismus daran zu hindern, die Äste abzusägen, auf denen er sitzt.” Klingt einleuchtend, kann aber auch zu ganz und gar zynischen Schlussfolgerungen führen. Denn Dein Satz heißt ja auch: Soll der Kapitalismus doch den eigenen Karren ruhig noch tiefer in den Dreck fahren! Aber was, wenn nicht er auf dem Karren sitzt, sondern wir es sind, genau wie wir es auch sein könnten, die auf den Ästen sitzen, die er absägt. Können wir die Kriegs- und Hungertoten verantworten, die es geben wird, wenn die Äste fallen? Und was kommt dann? Nicht vielleicht doch aufs Neue die Barbarei?
Und wirkt nicht – folgt man Deiner Argumentation – Deine Arbeit im Gefängnis ebenfalls stabilisierend? Machst Du die Jungs nicht erst wieder “fit for life”, damit sie aufs Neue verwertbar werden? Nein, das glaube ich nicht. Heiner Müller meinte, es sei wirkungsvoller, neben einem Bettler einen Hummer zu verspeisen, als ihm etwas in den Hut zu werfen. Ich kann und will da nicht mitmachen; lieber werfe ich ihm etwas in den Hut. Es kann richtig sein, der arbeitslosen Nachbarin zu helfen, ihren Antrag auszufüllen. Es kann richtig sein, eine Kreuzung zu blockieren. Es kann richtig sein, einen Hafen zu besetzen. Es kann richtig sein, alle Rechner lahmzulegen. Es kann richtig sein, ein Camp vor der Europäischen Zentralbank zu errichten.
Es sieht mir nicht so aus, als würde der Kapitalismus sich in absehbarer Zeit selbst abschaffen. Stattdessen ist er dabei, die bürgerliche Demokratie abzuschaffen. Und mir wird dieser Tage zum ersten Mal klar, wie sehr ich entschlossen bin, das Meine zu tun, sie zu verteidigen. Gegen den Kapitalismus. Und mit oder gegen Occupy.

Todestag von Philipp Reis, Erfinder des größten Folterinstrumentes der Menschheitsgeschichte.

Freitag, 13. Januar 2012 – Siebenuhrneunundvierzig, dreikommaacht. Noch dunkel.

Von Götz Eisenberg eine Replik auf meine letzten Einträge:

«Matthias ist seit Tagen damit beschäftigt, auf der Geisterbahn seine Enttäuschung über die Entwicklung der Frankfurter Occupy-Bewegung, sein Scheitern in ihr und die dumm-bösen Attacken auf ihn zu verarbeiten. Gestern notiert er – wohl als Frage an sich selbst: „Oder verzichtet man gleich ganz auf jede politische Praxis? Dann bliebe man kritischer Kritiker. Hätte immer Recht. Und wäre Autist.“
Warum konnotiert er das Handwerk der Kritik so negativ – als wäre nicht auch Denken eine Gestalt von Praxis. “Kritik … ist das theoretische Leben der Revolution”, schrieb Hans-Jürgen Krahl in seinen Thesen Zur Geschichtsphilosophie des autoritären Staates. Besonders in Zeiten revolutionärer Flaute besteht die Aufgabe der linken Theoretiker darin, sich auf den Hosenboden zu setzen und das Bestehende unter dem Aspekt seiner Veränderbarkeit zu analysieren, damit wir dann, wenn sich die Wirklichkeit wieder zum Gedanken drängt, imstande sind, den Massen zu interpretieren, was mit ihnen und uns los und was zu tun ist. Jeder Maulwurf hat seine unterirdischen Gefilde, hat der alte Marx gesagt und sich im Britischen Museum bei der Ausarbeitung seiner Kritik der politischen Ökonomie Furunkel in den Arsch gesessen. Im Übrigen träumte er ja von einer Gesellschaft, in der man im Laufe des Tages Jäger, Fischer, Hirte oder kritischer Kritiker sein kann und darf. Freilich kann die Rolle des Theoretikers mit einer Distanz zur Praxis verbunden sein – und ist in aller Regel damit verbunden – und für den Theoretiker eine gewisse Einsamkeit mit sich bringen. Aber das ist ja noch lange kein Autismus. Autismus ist ja der vollkommene Abbruch der Kommunikation und des Weltbezuges.
Wäre es nicht eine für Matthias/Jan Seghers angemessene Form der Praxis, wenn er sich im Medium seiner Lebenstätigkeit, also schreibend, mit den Praktiken der Hedgefonds-Manager und Spekulanten auseinandersetzen würde? Sein nächster Krimi könnte im Frankfurter Banken-Milieu spielen und auch die ganzen schrägen Vögel, denen er bei Occupy begegnet ist, könnten dort ihren Auftritt haben. Würde er der Occupy-Bewegung und ihren Anliegen auf diese Weise nicht mehr nützen als durch seine Präsenz im Camp?
Peter Brückner, der sich ständig einem Praxisterror ausgesetzt sah und aufgefordert wurde, doch endlich mal „was zu tun“, hat darauf stets gelassen geantwortet: „Diejenigen von uns, die das nach Lage der Dinge können, sollten sich gefälligst wieder zum kollektiven Theoretiker der Emanzipation entwickeln. Wie anders sollen wir lernen, zu interpretieren und zu intervenieren? Die theoretischen Köpfe sollen sich gefälligst an ihren Schreibtisch setzen, allerdings nicht nur an ihren Schreibtisch. Es wird ja auch auf der Straße erkannt, wie ja überhaupt die revolutionäre Theorie, die wir erarbeiten müssen, deutlich neben dem Systematischen auch ganz grob anti-systematische Züge tragen und auch in ihren Methoden praktisch sein wird.“
Wo ist denn unsere kritische Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft, die das Leiden der Menschen an und in ihr beredt werden lässt und ihnen einen Weg aufzeigt, wie die Gesellschaft, in die sie eingespannt sind und die sich ihnen gegenüber als „alternativlos“ aufspreizt, geschichtsangemessen zu verändern wäre? Gegenstand unserer Kritik wären auch antreffbare Gestalten linker oder vermeintlich linker Praxis, die dem Typus der „realitätsgerechten Empörung“ angehören und letztlich nur tiefer ins Verhängnis hineinführen oder gegen die gegenwärtige Entwicklungsstufe des Kapitalismus dessen nächst höhere propagieren. Unser Interesse kann nicht sein, den Kapitalismus daran zu hindern, die Äste abzusägen, auf denen er sitzt.
Slavoj Zizek hat im Gespräch mit der TAZ die vorherrschende linke Praxis mit dem Verhalten eines Bauern verglichen, der mit seiner Frau unterwegs ist und auf der Straße einem Reiter begegnet. Dieser teilt dem Bauern mit, dass er nun dessen Frau vergewaltigen werde. Da die Straße schmutzig ist, soll der Bauer während der Vergewaltigung die Hoden des Reiters halten, damit sie nicht mit dem Straßenschmutz in Berührung kommen. Nachdem der Reiter seine Vergewaltigung beendet hat und weiter geritten ist, lacht der Bauer. Seine gedemütigte Frau ist empört und stellt ihren Mann zur Rede. Dieser entgegnet: „Ich habe ihm ein Schnippchen geschlagen. Ich habe seine Hoden gar nicht gehalten und nun sind sie schmutzig!“»

Am 13. Januar 1945, zwei Wochen vor der Befreiung, starb in Auschwitz-Birkenau der Berliner Arzt Victor Aronstein.

Mittwoch, 11. Januar 2012 – Neunuhrneunzehn, fünfkommsieben. Bedeckt. Gut geschlafen. Trainer.

Oder verzichtet man gleich ganz auf jede politische Praxis? Dann bliebe man kritischer Kritiker. Hätte immer Recht. Und wäre Autist.

Im Archiv der taz ein Porträt über Hadayattullah Hübsch, der am 4. Januar vorigen Jahres gestorben ist. Dort wird ein Brief aus dem Jahr 1979 zitiert, in dem der FAZ-Redakteur Erich Helmensdorfer seinem freien Mitarbeiter nach acht Jahren die Zusammenarbeit aufkündigt: “Ich halte es nicht für möglich, dass die FAZ einen freiberuflichen Mitarbeiter im Namen der Zeitung beschäftigt und damit in der Öffentlichkeit auftreten lässt, der in persönlichem Habitus und Umgang eine außergewöhnliche, jeglichen bürgerlichen Rahmen des Abendlands sprengende Erscheinung ist.”

Neunter Todestag von Mickey Finn (T. Rex).

Dienstag, 10. Januar 2012 – Elfuhrvierundzwanzig, achtkommaeins. Bedeckt. Westwind.

Dennoch, ganz durch bin ich mit der Sache noch nicht. Denn schließlich: Wie lange hat man gewartet, dass sich etwas rührt? Und das am Freitag Geschilderte ist ja auch nur ein Aspekt der Geschichte. Gibt ja eben doch eine ganze Menge kluger, wacher, einsatzfreudiger Leute in dieser Bewegung. Muss man nicht diesen helfen, sich durchzusetzen?
Oder setzen wir gar nicht mehr auf soziale Bewegungen? Aber auf was dann? Parteiarbeit? Gewerkschaftsarbeit? Bildungsarbeit? Publizistik? Wieder ein Marsch durch die Institutionen? Stadtguerilla?
Wenn ich doch nur aufhören könnte, die Welt retten zu wollen. Aber einmal zum Widerspruch entschieden, hat man wohl nicht mehr die Wahl.
Bei jeder Berührung mit dem sogenannten Volk dieses Frösteln. Bei jedem erschöpften Rückzug das Gefühl zu kapitulieren.

Todestag von Georg Forster, dem es kaum anders ging.

Freitag, 6. Januar 2012 – Sechskommadrei. Wolkig.

S. ist ein junger Mann, der seit Anfang Oktober, also von Beginn an, bei Occupy:Frankfurt aktiv ist. Schnell galt er den Medien als “das Gesicht” der Bewegung, oft wurde er als deren “Sprecher” bezeichnet. Da man bei Occupy:Frankfurt aber nicht den einen Repräsentanten der Bewegung wollte, wurde S. des öfteren ermahnt, nicht eigenmächtig Interviews zu geben und nicht im Namen aller zu sprechen.
Hinzu kam, dass S. immer wieder mit dem antisemitischen Zeitgeist-Movement in Verbindung gebracht wurde, was dem Ansehen von Occupy:Frankfurt jedenfalls in Teilen der Öffentlichkeit hätte schaden können. Ein Grund mehr, S. in die zweite Reihe zu bitten.
Allerdings: Der junge Mann mochte die Mikrofone allzu gerne, als dass er von ihnen hätte lassen wollen. Das wiederum verärgerte einen Teil seiner Mitstreiter. So war am 27. Dezember dann auf der Internet-Seite von Occupy:Frankfurt in einer Presseerklärung zu lesen, dass man sich von S. distanziere.
Indes stieß diese Distanzierung längst nicht bei allen Occupiern auf Gegenliebe, denn schließlich sei man eine offene Bewegung, an der jeder teilhaben, wo jeder alles sagen dürfe. So ließ man die Erklärung zwar auf der Internet-Seite stehen, verzichtete aber auf deren Umsetzung.
Nur wenige Tage später, am 31. Dezember, war S. bei der Demonstration und der Silvester-Party von Occupy:Frankfurt dabei – als “Chef vom Dienst”, wie ein Besucher bemerkte. S. trat als Sprecher bei der Demonstration auf, und – so steht es im Forum der Bewegung: “die Masse hat geklatscht”. Auf der abendlichen Party betätigte sich der junge Mann dann als DJ und hielt eine Rede an das “deutsche Volk”.
Wer nun – wie ich es getan habe – in besagtem Forum kritisch nachfragte, dem konnte es passieren, dass er der Paranoia bezichtigt oder als “Spalter” bezeichnet wurde, gar als “Untermensch”, bei dem man einen “genetischen Defekt” vermuten müsse.
Heute Nacht hat sich S. selbst in die Diskussion eingeschaltet und zu den Vorwürfen Stellung genommen: “Antisemitismus: Schwachsinn, damit ‘zieht man uns Deutsche auf’. In anderen Ländern lacht man uns dafür schon aus, hier darf ja keiner mehr den Mund irgendjemandem gegenüber aufmachen und es hagelt immer direkt Antisemitismusvorwürfe bei den kleinsten Anzeichen irgendeiner hypothetischen Verbindung zu eventuellen Gedanken im Unbewussten der betroffenen Person. PS: Zu sagen, dass ein das Sich-Aufhängen-an-einem-Wort falsch ist, heißt nicht, dass man irgendetwas gutheißt. Ja, ich habe das Deutsche Volk angesprochen.”
In einem anderen seiner nächtlichen Einträge platziert S. ein paar Links zu Beiträgen im Internet, die sein Wohlwollen finden. Einer dieser Links verweist auf einen Song der Musikgruppe “Crüxshadows”, welcher auf “Ideen der Tempelritter” basiere. Im Text dieses Liedes findet sich die Aufforderung: “Sei dieser Welt ein perfekter Ritter / Selbst wenn es dein Leben bedeutet”.
War nicht unlängst schon einmal von einem jungen Mann zu lesen, der sich als moderner Tempelritter versteht? Richtig, er sitzt in Norwegen in Haft; sein Name ist Anders Behring Breivik.
Hätte ich das Tagebuch meiner Erfahrungen mit Occupy:Frankfurt geführt, es wäre das Tagebuch einer zunehmenden Ernüchterung geworden, die freilich zuletzt in Entsetzen umgeschlagen ist.

Heute vor 71 Jahren starb Franz Hessel in Sanary-sur-Mer an den Folgen seiner Haft im Lager Les Milles.

Dienstag, 3. Januar 2012 – Vierzehnuhrzwei, sechskommadrei. Kopf im Nebel. Nebel im Kopf.

Ein Blick auf den Terminkalender zeigt, wie vielfältig die Aufgaben des Bundespräsidenten im Inland sind. Neben den “amtlichen” Funktionen, die sich aus den Vorschriften des Grundgesetzes ergeben, obliegen ihm als Staatsoberhaupt Aufgaben, die sich unter dem Begriff der “Staatspflege” zusammenfassen lassen.
Der Bundespräsident ist “lebendiges Symbol” des Staates. Über den Parteien stehend, wirkt er in Reden, Ansprachen, Gesprächen, durch Schirmherrschaften und andere Initiativen integrierend, moderierend und motivierend.

Hübsch formuliert. Diese Sätze habe ich gerade auf der Seite des Bundespräsidenten gefunden. Mal sehen, ob ich sie online bekomme, bevor der Amtsinhaber zurücktritt.

Im zweiten Teil wird “Jane Eyre” dann streckenweise doch recht schmockig, romantisch überspannt. Aber egal, jetzt stehe ich es durch.

Passt: Todestag der Schauspielerin Rachel, die sich Charlotte Bronte zum Vorbild ihrer Vashti in dem Roman “Villette” wählte.