Geisterbahn

Freitag, 24. Oktober 2008 – Fünfzehnuhrvierunddreißig, elfkommaneun. Sonnigblau.

Nachfolgendes steht haargenau so auf dem Seifenbehälter meiner Tochter: neu bebe young care feel good shower cream just happy entspannend cremig mit vanilla relaxant à la vanilla für spürbar weiche gute-laune-haut. Man stelle sich einmal vor, wie sie in der Werbeabteilung der deutschen Niederlassung von Johnson & Johnson gesessen und tagelang über diesem Text gebrütet haben, bis einer der Spezialisten aufgesprungen ist und gerufen hat “Ja, ich hab’s, das isses!”

Am Dienstag mit Lothar im Schwanensaal des Römer. Lesung vor 150 Professoren. Mein Tischnachbar, ein Gynäkologe: “Irgendwas hab ich falsch gemacht. Jedenfalls bin ich nie so wohlhabend wie mein ehemaliger Chef geworden, der einige Mietshäuser aus seinen Patientinnen geschabt hat”.

Später, beim Signieren, kommt eine nette Frau auf mich zu, sagt, dass sie sich eine Widmung wünsche, von Sportler zu Sportlerin – der Rennradler solle der Fechterin mal was Schönes in sein Buch schreiben. Ihr Vorname sei Cornelia. Ja … freilich, es war Cornelia Hanisch. 

Mittwoch Eröffnung der Ringvorlesung zum Thema “Europa im Kriminalroman” an der Technischen Universität Darmstadt. Julika Griem erzählt von der Verleihung des Börne-Preises an Alice Schwarzer – eine Auszeichnung, die unter anderem von der Commerzbank unterstützt wird. Ein Vertreter des Geldinstitutes habe die anwesenden Frauen aufgefordert, die Damentoilette in einem der oberen Stockwerke des Bankhauses aufzusuchen, weil man von dort aus “symbolisch auf die Stadt hinab pinkeln” könne. Da sage noch einer, solche Leute gehörten nicht ins Gefängnis.

Auch so ein Wort, das mal zentral war und das mir nichts mehr bedeutet: Lebensgefühl. Wie doof man doch war … Wie stumpf man doch wird …

Tot ist Hermann Langbein.

 

Montag, 20. Oktober 2008 – Fünfuhrsiebenundfünfzig, zweikommaein Grad. Dunkel.

Blick auf den Kalender. Gott, was für eine Woche kommt da auf mich zu …

Auf dem Küchentisch liegt die Offenbach-Post. Ich werde attackiert: Papa, wieso komme ich da vor? Ich will das nicht!

Am Wochenende mit Silke und Jürgen Richtung Elsaß. Aufatmen, nachdem wir diese ewige Verhedderstrecke um Ludwigshafen hinter uns haben. Die Herbstsonne, die Färbung der Blätter, der Dunst über dem Pfälzerwald, der Schwung der vorgelagerten Weinberge – erst jetzt merken wir, wie lange wir nicht mehr hier waren und wie sehr uns die Landschaft gefehlt hat. Riesige Schwärme von Staren stürzen durch den Himmel. An einer Metzgerei die Aufschrift: Saumagenparadies.
Nach Merkwiller-Pechelbronn, wo wir wohnen, dann Wissembourg, dann in die Moulin des Sept Fontaines. Die Wirtin stellt eine Flasche Cremant auf den Tisch und überreicht uns eine Postkarte. Viola und Jost, die kürzlich mit den Kindern hier waren, lassen grüßen – und unser Herz macht einen Hüfper vor Überraschung und Freude.
Am Sonntag auf dem Rückweg Erzeugermarkt in Edenkoben: Pfälzer Bratwurst, Wildbratwurst, Pferdebratwurst, Ziegenbratwurst, Lammbratwurst – und (geschworen!): Känguruh-Schwänzerl. Im Eiscafé Rialto (seit 1958) noch ein außerordentlich guter Espresso (Foltran). Die Öfen für den Flammekuche, die leerstehenden Geschäfte, das Lederstrumpf-Denkmal, die blinzelnden Äuglein der Touristen, die Genießer-Nasen … 
 
Heute vor zehn Jahren ist Franz Tumler gestorben. Wie gründlich man ihn schon vergessen hat … 

Dienstag, 14. Oktober 2008 – Fünfuhrzweiundfünfzig, dreizehnkommaein Grad. Dunkel. Wach seit vier. 

Der junge Radrennfahrer Linus Gerdemann: “Das Image des Radprofis ist auf dem Niveau von Bankern”. Will sagen: Schlimmer könnte es nicht sein. 

Warum nur lässt mich die Aufforderung Thea Dorns an die Intellektuellen, sich wieder stärker einzumischen, so seltsam ratlos? Man möchte mit jenem offenen Brief antworten, den Franz Josef Degenhardt vor Jahren an einen wohlmeinenden Redakteur schickte:  “Ich – der Degenhardt – bin dermaßen dissident zu den herrschenden Verhältnissen und der herrschenden Meinung …, daß der Versuch, außer in meinen Liedern und Erzählungen, einverständlich, also konsensual, dies und das Wünschbare zu verdeutlichen, mir – nun nicht gerade als kollaborativ erscheint, aber doch unmöglich ist. Es wäre, zur Zeit jedenfalls, so unverständlich, wie wenn ein Mister Spock aus einer ganz anderen Galaxie und einer viel späteren Zeit einem jetzigen Erdbewohner seine ganz andere Welt erklären würde, in der es kein Geld und keine Ware gibt, eine Gesellschaft existiert, die auf einer Gebrauchswert- und Bedürfnis-Ökonomie beruht als Voraussetzung für Demokratie und das Ende von Ausbeutung. Und daß sowas mittels Wahlzettel nicht erreichbar ist.”

Die neue Ausgabe von “069” ist gekommen – das schönste Heft bislang!

Gestern B. – Erzählt, dass er als Sohn eines Forstmeisters in einer kinderreichen Familie auf einer Burg in der Rhön aufgewachsen sei, über die Ulrike Edschmid kürzlich einen kleinen Roman geschrieben habe. Und ich nun, in der Nacht, versuche vergeblich auf Google Earth diese Burg zu finden. Schlafen wär eine prima Alternative …

Am 14. Oktober 1941 starb Arthur Hollitscher verarmt in einem Quartier der Genfer Heilsarmee. Die Grabrede hielt Robert Musil, der Hollitscher nicht mal um ein Jahr überlebte. 


Samstag, 11. Oktober 2008
 – Sechsuhreindunddreißig, neunkommazwei. Dunkel. Nebel.

Laut in die zu Ende gehende Nacht gelacht, als ich gerade diese Eilmeldung las: “Rechtspopulist Jörg Haider bei Autounfall getötet.”

Womit wir den Toten des Tages auch gleich hätten. 

 

Dienstag, 7. Oktober 2008 – Zwölfuhrsiebenunddreißig, siebzehnkommasieben. Wolken. Sonne.

Bei Peter Robinson ein Hinweis auf die “Songs of Travel” von Robert Louis Stevenson – finde aber nur die Buchausgaben, nicht die Aufnahme mit Bryn Terfel. Aber den kann ich ja eh nur schwer ertragen … 

Warum nur überrascht mich die weltweite Finanzkrise nicht? So wenig wie die positive Dopingprobe von Stefan Schumacher? Unbedingt ansehen Erwin Wagenhofers Dokumentarfilm: “Let’s make Money” – kommt am 30. Oktober in die Kinos.

Am Freitag die Rheingau-Tour. Von Schierstein kommend, kurz hinter dem Niederwallufer Friedhof dieses wunderschöne weiße, moderne Haus auf der rechten Seite. Hausnummer 95. Aber wie heißt die Straße? Wahrscheinlich ist es die Hauptstraße 95 … Und wer hat es gebaut? 

Am Sonntag kleine Runde mit dem Mountainbike. Am Heiligenstock auf der nassen, gelben Wiese an die hundert Kinder, die ihre bunten Drachen steigen lassen. Raben, Stare, braune Erde. Über den Dächern verweht der Rauch …

Oben auf der Berger Höhe zwischen den Bäumen eine Säule, die an die Krönung Kaiser Leopold II im Frankfurter Dom erinnert. Damals lagerte hier ein Heer von 6000 Mann, das die Feierlichkeiten absichern sollte. Vor was hatte man Angst? Vor dem französischen Virus? 

Bestellt: Ann Rule “Green River, Running Red”, Harold Schlechter “Deranged”, Robert Graysmith “Zodiac”. Alles True Crime …

Edgar Allan Poe ist tot. 

 

Freitag, 3.Oktober 2008 – Sechsuhrvierzehn, sechskommafünf Grad. Und bei dieser Kälte wollen wir gleich die große Rheingau-Runde drehen … 

Gestern im Autoradio auf HR2 der “Doppelkopf” mit Oswald Kolle aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages. Er erzählt von der großen Liebe zu seiner ersten Frau, bei der Anfang der siebziger Jahre Krebs diagnostiziert worden sei … Plötzlich schluckt er, seine Stimme bricht; die Moderatorin kommt ihm zu Hilfe: “Das scheint Sie immer noch sehr zu rühren … Sie haben sich Daliah Lavis Lied ‘Willst du mit mir gehen?’ gewünscht”. – “Ja”, sagt Kolle, “lassen Sie’s laufen, dann kann ich in der Zeit ein bißchen weinen.”

Lauthals singe ich diesen alten Schlager mit. Und an der Ampel sehe ich, wie im Auto neben mir der Fahrer dieselben Mundbewegungen macht. Er schaut zu mir rüber, wir lachen … und trällern für einen Moment gemeinsam mit Daliah Lavi ihr Lied …  

Viele Tote: Franz von Assisi, Captain Jack, Woody Guthrie, Ina Seidel, Arnold Bode, Jean Anouilh, Franz Josef Strauß, Heinz Rühmann, Janet Leigh ….