Geisterbahn

Donnerstag, 29. April 2010 – Fünfzehnuhrdreiundvierzig, achtundzwanzig- kommazwei Grad. Blauweißer Himmel. Der Lesereisende kriecht auf dem Zahnfleisch.

Peter H. ruft aus Köln an. Er habe kürzlich mit dem mächtigen Krimikritiker Tobias Gohlis, dem Sprecher der KrimiWelt-Bestenlisten-Jury, an einem Tisch gesessen und ihn gefragt, warum eigentlich Jan Seghers nicht auf dieser Liste auftauche. Nun, habe Gohlis – sinngemäß – geantwortet, das habe sich Seghers selbst zuzuschreiben, denn der habe sich vor Jahren selbst geschadet, als er in einem Gespräch erklärt habe, Kriminalromane seien nicht so sehr Kunst, sondern vielmehr ein kunstvolles Handwerk, das dem Autor ja auch gemeinhin schneller von der Hand gehe als avancierte Literatur.
Es kann sich bei dem Gespräch, auf das Gohlis sich bezieht, nur um jenes handeln, das ich mit ihm im Jahr 2005 auf der Buchmesse geführt habe und dessen redigierte Abschrift ohne mein Wissen, ohne meine Zustimmung und ohne, dass ich den Wortlaut gesehen oder gar autorisiert hätte, kurze Zeit später in der Zeitung „Die Welt“ erschien.
Das also ist der Grund dafür, dass ich seit Jahren …
Da sage noch einer, der Laden laufe nicht genau so, wie man sich vorstellt, dass der Laden läuft.
Von John Kennedy Toole gibt es einen Roman mit dem schönen Titel: „Ignaz oder Die Verschwörung der Idioten“.

Todestag von Adam Seide. Und gerade erfahre ich, dass Eberhard Dähne gestorben ist.

Freitag, 23. April 2010 – Vierzehnuhrfünfzig, siebzehnkommafünf. Sonnig. Himmel? Schön blau. –  Schulter? Viel besser.

In Hannovers Fußgängerzone ein Hinweis: “Café to go”. Geht’s blöder?

Selten ein so leeres Gesicht gesehen wie das von Familienministerin Kristina Schröder. Als ob man eine Badezimmerfliese anschaut.

Stadtteil Bornheim. In der U-Bahn-Station ein Plakat, das den Frankfurter Stadtverordneten Michael Paris (SPD) und dahinter Marilyn Monroe zeigt. Darunter die Zeile: “Happy Birthday Mr. Paris”. Freilich ist es der Jubilar selbst, der sich hier gratuliert. Eine Partei, die solche Figuren groß werden lässt, hat es nicht verdient, über die Fünfprozenthürde zu kommen.

Rolf Dieter Brinkmann ist seit fünfunddreißig Jahren tot.

Mittwoch, 21. April 2010 – Zehnuhrsieben, vierzehnkommasieben Grad. Grau. Frisch. Schulter? Geht so.

Am Wochenende mit allen im Altmühltal. Wetter, Stimmung, Landschaft, Essen:  gut. Nur ich: mürrisch, unter Schmerzen. Und dauernd die lauernde Furcht, dass die Sehne wieder gerissen sein könnte.

Diese Woche sieben Lesungen.

Am Montag mit Jürgen nach Lauterbach, Altes Lichtspielhaus. Gestern Waggonhalle in Marburg. Guntram steigt aus seinem Wagen, und sofort gehts mir gut. Manfred Paulsen, eine Lichtgestalt. Und dann, statt in den üblichen Branchenklatsch zu verfallen, reden wir auch noch über angenehme Menschen: Götz Eisenberg, Piwitt, Fülberth. Und Manfred erzählt von einem blinden Physiotherapeuten, der als begnadeter Diagnostiker gilt. Kurz vor Mitternacht wieder auf die Straße. Um eins im Bett.

Schwurbel über Schwurbel, der Schriftsteller Uwe Tellkamp über den Maler Neo Rauch: “Ich hörte den Namen eher, als ich seines Trägers Bilder kannte.”

Und doch noch ein Sonnenstrahl: Der neue Film von Resnais scheint angelaufen zu sein: “Vorsicht Sehnsucht!” Das wird ein Fest!

Lektüre: Zastrows “Die Vier – Eine Intrige”.

Mark Twain ist tot. Tatsächlich, Shane MacGowan lebt immer noch.

Montag, 5. April 2010 – Zehnuhrvierzig, vierzehnkommafünf Grad. Österlich, aprilig. Von Ferne Kirchenglocken.

Fast durch mit Jussi Adler-Olsens “Erbarmen” – aber jetzt, da die Zusammenhänge klar werden, will ich nicht mehr: Eine Bestie steckt dahinter, ein Monster … Nee, Leute, ohne mich …

Kaum anders gestern Abend der Tatort, der halb noch unter der Redaktion der berüchtigten Doris Heinze entstanden ist. Nach gefühlten vier Stunden Langeweile wird klar: Eine Bestie steckt dahinter, ein Monster …

In Trenton, der Haupstadt des US-Bundesstaates New Jersey, hat eine 15-Jährige während einer Party ihre sieben Jahre alte Stiefschwester an sieben männliche Gäste verkauft, die das Kind allesamt vergewaltigten und ihm dann drohten, es umzubringen, wenn es zur Polizei gehe.

Danton ist tot.

Samstag, 3. April 2010 – Zwölfuhrdrei, vierzehnkommaacht. Sehr wolkig. Um zweiuhrdreißig aufgewacht und nicht wieder eingeschlafen – geht das wieder los …

Am Mittwoch auf die Autobahn. Mannheim, Kunsthalle. Ist aber nicht viel zu sehen. Wird gerade saniert. Sonderausstellung: “Fremde Heimat” – Blümchentapeten, Nierentische, Fernsehkommode. Ein paar schlechte Fotos von Staeck, die was bedeuten sollen. Das Meiste schwankt so zwischen Kabarett und Dekor.
Und auch der abstrakte Muff der klassischen Moderne ist arg gealtert in den letzten zehn, zwanzig Jahren. Wie beliebig, wie gefällig das inzwischen alles wirkt. Das Beste eigentlich Anselm Kiefers schwerer Betonbrocken mit dem rostigen Stahl: Das Gegenteil von abstrakt: völlig konkret. Concrete.

Dann Ladenburg. Sehr hübsch. Hübschhübsch. Man ist in zehn Minuten durch. “Goldener Löwe”, “Goldener Hirsch”, Güldener Stern”, “Güldene Rose”. Alles Gold hier. Wir übernachten in der “Goldenen Krone”. Und essen in der “Backmulde”. Gleich die überbackene Entenlebercreme der sündhaft teuren Vorspeise hat aber einen so heftigen Stich, dass mich nachhaltig schaudert. Meine Reklamation ruft bei der bemühten Kellnerin allerdings nicht mehr als ein überfordertes Schweigen hervor … Ähäm, was rede ich hier eigentlich …?

Am nächsten Tag das Hebel-Grab in Schwetzingen fotografiert. In dieser Stadt findet man Spargelhändler, Raumausstatter, Thai-Massagen an jeder Ecke, aber versuchen Sie mal in Schwetzingen eine Tageszeitung zu bekommen! Oder auch nur jemanden zu finden, der weiß, wo man eine bekommt. Dafür gibt es in der Fußgängerzone den besten Döner zwischen Antalya und den Rocky Mountains: “Vitaminküche”. Und, nicht zu vergessen, gegenüber von Sankt Pankratius, Guido Messers Bronze der applaudierenden Männer.

Weiter nach Lorsch. Beim Versuch etwas besonders Schönes zu schaffen, ist, ganz in der Nähe des Klosters, Dank professioneller Raumausstattung, einer der hässlichsten Orte der Welt entstanden: das Eiscafé Dolomiti am Marktplatz. Absolut sehenswert.

Gestern dem Tipp von Björn Gauges gefolgt und “Ein Prophet” in der “Harmonie” geschaut. Uff, ein harter Brocken. War kurz davor abzubrechen. Zum Glück dann doch durchgehalten. Wird man wohl nie mehr vergessen, diesen Film. Und man fragt sich, wo die französischen Regisseure solch grandiose Schauspieler hernehmen, bei denen man nie merkt, dass es sich um Schauspieler handelt.

Die Straußenwirtschaft “Zu den drei Steubern”, gleich um die Ecke vom Kino, hat dann aber geschlossen – wie immer an allen Samstagen, Sonntagen und Feiertagen. Muss man sich auch erst Mal leisten können – als Wirt.

In Götz Eisenbergs Buch dieser wunderbare Satz: “Sehen sich zwei Menschen jenseits der Kindheit länger als zehn Sekunden an, werden sie sich entweder lieben oder schlagen.”

Altes Gespräch mit Anselm Kiefer in der “Zeit”.

Im März zum ersten Mal mehr als fünfzehntausend Besucher in der Geisterbahn.

Jesse James ist tot.