Geisterbahn

Mittwoch, 29. Juli 2009 – Fünfuhrsechsunddreißig, zwölfkommaacht. Schöne rotblaue Schlieren am Himmel. Gleich mal fotografieren.

Was mache ich hier überhaupt? Statt zu schlafen oder zu arbeiten, beschäftige ich mich seit einer Stunde mit dieser langweiligen Salzburger Rede von Kehlmann über das Regie-Theater und den langweiligen reflexartigen Erwiderungen, die sie provoziert hat. Wie verdruckst und greisenhaft Kehlmann redet … Spricht von einem “Dasein, das uns gegeben ist” und versteckt seine Haltung hinter ausländischen Gästen, “die deutschsprachige Lande besuchen”. Brrrrh.

Gestern zwei Anrufe von B., dass ich ihm schon mal ein paar Scheinchen vorbei bringen soll – als Anzahlung, damit er einkaufen kann. Er, im slowenischen Teil der Steiermark geboren, von dort abgehauen, weil er nicht zum Militär wollte (” Tote hab ich im Krieg genug gesehen” – Wie alt bist du? – “Staunst du! Jahrgang ’39, mein Lieber”), lange in Düsseldorf gelebt und nach eigenem Bekunden für die dortige Unterwelt gekocht, ist irgendwann nach Colorado gegangen und hat ein Lokal im Stil einer steirischen Blockhütte eröffnet. Er zeigt mir ein Album mit Privatfotos. B. vor einem Büffet. B. und eine deutsche Folkloretruppe. B. mit anderen Köchen. Und immer wieder: B. und seine Gäste – manche, wie es sich gehört, zur Halbprominenz zählend. Ein Rennfahrer, ein Basketballspieler, ein Schriftsteller. Ein Schriftsteller? frage ich. – “Ja”, sagt er. “Der hier! Soll sogar richtig berühmt sein.” – B. zeigt auf eine verdrückte Figur, die an einem Tisch zwischen den anderen Gästen sitzt. Ich schaue zweimal hin, dann erkenne ich ihn: Es ist Truman Capote! Mensch, du hast Truman Capote bedient. – B: “Keine Ahnung. Du kennst den? Ach, du Sau!”

Leo Kofler ist tot. Wird Zeit, ihm zuzuhören.

Freitag, 24. Juli 2009 – Vieruhrdreiundfünfzig, sechzehnkommasieben. Draussen fleißige Vögel …

Geht doch! Die 366 französischen Arbeiter aus Chatelleraut bekommen jeder eine Abfindung in Höhe von 30.000 bis 50.000 Euro. Sie hatten gedroht, falls ihre Forderung nicht erfüllt würde, ihr Werk in die Luft zu sprengen.
Dabei heißt es doch immer, es dürfe dem Druck der Straße nicht nachgegeben werden. Die Wahrheit ist: Es wird nur dem Druck der Straße nachgegeben.

Ich wußte gar nicht, dass Edgar Hilsenrath noch lebt. Stoße im Netz auf seinen Namen und dadurch auf einen Artikel von Marko Martin, der den Alten vor zwei Jahren in seiner Friedenauer Wohnung besucht hat: “Mein Freund Edgar” – eine gehudelte, ranschmeißerische Niedertracht ist dieser Text. Was die Gegner nicht schaffen, schaffen solche Verehrer.

Im Flugzeug erzählt Hilsenraths Lesche einer Buchhändlerin sein Leben und beendet seinen Bericht mit den Worten: “Ich könnte noch stundenlang vom Holocaust erzählen”.

In der SZ rezensiert Ulrich Baron die Neuausgabe von Sandor Marais Tagebüchern. (Besorgen!) Und plötzlich steht mir Baron wieder vor Augen, wie er, den Bauch vorgestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt und sich gelegentlich über die vollen Lippen leckend, vor vielen Jahren in diesem ältlichen Jackett durch Klagenfurt stolzierte. Damals arbeitete er noch beim Rheinischen Merkur, weshalb ihn Peter und ich immer den “rheinischen Baron” nannten. Wäre doch nett, ihn mal wieder zu treffen. Rhein zufällig, versteht sich.

Dass ich mir rasch mal ein dreigängiges Menü einfallen lassen dürfe, schreibt die freundliche Veranstalterin. Grübelgrübelgrübel … nee, so schnell gehts dann doch nicht, will ja komponiert und geistig abgeschmeckt sein. Aber bitte, hier ist es:
1. Chèvre chaud mit Kopfsalat
2. Poulet de Bresse mit Steinpilzen und Safran-Estragon-Sahne
3. Mocca-Parfait mit Mascarpone-Soße

Todestag der französischen Schauspielerin Arletty. Wegen ihrer Affäre mit einem deutschen Luftwaffenoffizier wurde sie am Ende des Krieges für kurze Zeit als Kollaborateurin inhaftiert. Arletty hatte eine Erklärung für ihr Verhalten: “Mon coeur est français mais mon cul est international!” – Mein Herz schlägt französisch, aber mein Arsch ist international.

Mittwoch, 22. Juli 2009 – Dreiuhrneunzehn, zwanzigkommavier Grad. Hier drin sogar über dreiundzwanzig. Wach seit halb drei. Schön ruhig.

Gestern eine unglaublich gute Ausgabe der Kulturzeit. Zuerst ein Film über Pinedo, einen Künstler, der das Schicksal der afrikanischen Boat-People dokumentiert. Dann ein Beitrag über feiernde Banker in Frankfurt von Achim Reinhardt und Thomas Reutter. Dieser kleine Film würde in einer Umgebung, die halbwegs bei Groschen ist, zu anhaltenden Straßenschlachten führen.

Was ist denn, gehts schon los? Draußen krachen Schüsse, Leuchtspur- geschosse am Himmel, dumpfes Grollen. Moment …, ich zieh mir nur rasch was über. Oder zieht jetzt, um vieruhrvierundzwanzig, ein Gewitter auf?

Mmmh, ja, verstehe, wieder kein Aufstand. Donnert bloß. Blitzt bloß. Regnet bloß. Legt euch wieder hin!

Claude Sautet ist tot.


Montag, 20. Juli 2009
– Neunuhrzwanzig, neunzehnkommazwei. Grauer Himmel. Zehneinhalb Stunden geschlafen. Müde.

Nach jeder Lesung melden sich Menschen zu Wort, die mir schon deshalb die Laune verderben, weil sie vom Autor immer “das Positive” verlangen. Oft verleihen sie ihrer Forderung Nachdruck, indem sie die Hand heben, zwischen Daumen und Zeigefinger eine zwei Zentimeter große Lücke lassen und sagen: “Aber so ein kleiner Hoffnungsschimmer, so ein winziges bisschen Zuversicht muss doch sein.” Dabei hat Erich Kästner, selbst ein eher schlichtes Gemüt, diesen schlichten Gemütern schon vor Jahrzehnten mit einem schlichten Gedicht die Leviten gelesen: Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?

An manchen Tagen, freilich, scheint es nur gute Nachrichten zu geben:

– Lance Armstrong glaubt nicht mehr an seinen Tour-Sieg
– Seehofers Beliebtheit sinkt
– Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz sieht sich von Armut bedroht
– Porsche-Arbeiter drohen mit Werksbesetzung
– Geschundene Erde verschluckt drei Menschen

Was allerdings an schlechten Nachrichten jeweils hinten dranhängen mag, sei heute mal nicht bedacht.

Stattdessen noch eine gute: Friedrich Flick ist tot.

Montag, 13. Juli 2009 – Dreizehnuhreins, sechsundzwanzigkommazwei. Weißblau, sonnig. Soll nicht lange so bleiben. Selbst mein Friseur sagt, es seien heftige “Windrosen” (!) angekündigt.

Im westfranzösischen Chatelleraut drohen die 366 Beschäftigten des Automobilzulieferers New Fabris mit der Sprengung ihres Werkes, sollte nicht jeder von ihnen eine Abfindung in Höhe von 30.000 Euro bei Schließung der Fabrik erhalten. Es gibt einfach Länder, in die man momentan lieber fährt als nach Italien.

Gestern Roger Norrington mit dem Stuttgarter Radiosinfonieorchester in Bad Kissingen. Beethovens 4. Klavierkonzert. Mindblowing – vor allem der zweite Satz. Das alles mit einer so konzentrierten Nonchalance, dass ich glatt vergesse, im Konzertsessel zu schlafen.

Und heute vor nun auch schon wieder fünf Jahren ist der andere der beiden nennenswerten Dirigenten gestorben: Carlos Kleiber.

Dienstag, 7. Juli 2009 – Vieruhrneun, sechzehnkommanull. Alles still und dunkel. Wach seit halbdrei.

“Irgendwie musst du doch einen Restkontakt zur Welt aufrecht erhalten”. – Muss ich?

Idioten in Uniform – “Ich wünsche mir Unterstützung für die Truppe … Ob Krieg ist oder nicht, sollen andere entscheiden”, sagt einer der vier Soldaten, die für ihren Einsatz in Afghanistan gestern mit den ersten “Ehrenkreuzen der Bundeswehr für Tapferkeit” ausgezeichnet wurden. Was ja heißt: Ob ich ein Verfassungsfeind bin oder nicht, ist mir egal.

Idioten mit Abitur – Gestern nach über zehn Jahren mal wieder mit P. telefoniert. Wo wohnt er jetzt eigentlich? In Dänemark? In Schweden? Er klagt, dass er nichts mehr zu tun habe, dass man ihm seine Drehbücher und Hörspiele nicht mehr abkaufe. Dann erzählt er von einem Fernsehspiel-Redakteur  – “eigentlich ein kluger Mann” – dem er ein Exposé über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse angeboten habe. In diesem Zusammenhang habe er den Namen Julius Streicher genannt. “Wer ist Julius Streicher?” habe der Redakteur gefragt.

Heute vor siebenundsiebzig Jahren fuhr Kurt Stöpel als erster deutscher Radrennfahrer bei der Tour de France ins Gelbe Trikot.

Tot ist Oskar Dirlewanger, eines der Hauptschweine.




Freitag, 3. Juli 2009 – Fünfuhrvierzig, neunzehnkommavier. Seit kurz vor halbdrei wach. Wird heiß heute.

Wenigstens ein Foto. “Vanitas, reflektiert” hat Jörg es genannt.

Am 3. Juli 1851 starb das Julchen Bläsius aus Weierbach, letzte Braut von Johannes Bückler, genannt “Schinderhannes”, den sie um 47 Jahre überlebte. Jim ist auch tot.