Geisterbahn

Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Roman

Mittwoch, 31. Oktober 2007 – Vieruhrdreiundvierzig, dreikommadrei Grad. Finster.
Ob mich denn, fragt Uwe L. am Telefon, meine Schlaflosigkeit im Stich lasse, so sparsam wie ich derzeit das Tagebuch bediene. Aber was, wenn die Welt mir für den Moment nicht viel zu sagen hätte, und ich deshalb der Welt nicht.

Und als ich mich bei der netten Kollegin Scheuermann für den Zuspruch bedanken will, meldet die Maschine: “Mail delivery failed: returning message to sender.” Pah!

“1931 OTTO DIX Echtes Landschaftsgemälde auf HOLZ”
Wenn so etwas angeboten wird, schaut der Kunstliebhaber hin. Allerdings sieht sich der Anbieter in der Artikelbeschreibung zu folgender hübscher Pirouette gezwungen:
“ACHTUNG: wie auf der Homepage von Otto Dix ersichtlich, handelt es sich bei diesem Kunstwerk um eine echte, offiziell bekannte und anerkannte Fälschung, fast mindestens genauso viel wert als wie das Original, das preislich jenseits von Gut und Böse liegen und das sich sowieso niemand nicht leisten könnte – hier ist die einmalige Chance ein Gemälde mit hohem Neidfaktor zu erwerben, die buckelige Verwandtschaft und der neidische Nachbar werden ganz schöne Augen machen…”

Todestag der Skifahrerin Régine Cavagnoud. Sie stieß am 29. Oktober 2001 beim Abfahrtstraining auf dem Pitztaler Gletscher mit einem Trainer zusammen. Beide stürzten 100 Meter über einen Steilhang in die Tiefe. Cavagnoud starb zwei Tage später.

Dienstag, 30. Oktober 2007 – Fünfuhrachtunddreißig, neunkommaeins. Dunkel, ist ja Winterzeit.

Irgendwann hat man sie aber auch bis obenhin, die Bescheidwisser, die Schlaumeier, die Pfiffikusse, die Sich-nichts-erzählen-lasser, die Ohrenkauer, die Alles-mitgemacht-haber, die Holzauge-sei-wachsam-Schwätzer …

Am Wochenende in der Hohen Rhön, Wildensachsen, Fladungen, Tann. Dort dann, an diesem Ende der Welt, im Ortsteil Wendershausen ein unverhoffter Schatz. Wir biegen auf einen großen Bauernhof ein, klingeln. Herr K. empfängt uns an der Tür. Er ist 77 Jahre alt, war erfolgreicher Versicherungsvertreter, Nebenerwerbslandwirt, Bauherr, glückloser Hotelier, der in einem FDGB-Heim das erste Kunsthotel Deutschlands einrichten wollte. Die Welt hat es nicht gewollt. Nun lagern hier in seinem Heim in fünf Räumen tausende Bilder: Ölgemälde, Zeichnungen, Grafiken: Friedrich Kunitzer, Otto Müller-Eibenstock, Georg Muche, Fritz Eisel …, ein ganzer Nebenarm des “expressiven Realismus” der “verschollenen Generation” ist vorhanden. Was für ein Fest …

Tot ist Georges Brassens.

Freitag, 26. Oktober 2007 – Sechsuhrsechsundzwanzig, siebenkommaneun. Dunkel.

Im Frankfurter Zoo haben Unbekannte in der Nacht zum Dienstag vier Flamingos getötet. Drei der über dreißig Jahre alten Tiere wurden geköpft.

Vor einem Moskauer Gericht ist der 33-jährige Alexander Pitschuschkin schuldig gesprochen worden, 48 Morde begangen zu haben. Er alkoholisierte seine zumeist männlichen Opfer und warf sie dann in einen Abwasserschacht in einem Park am Stadtrand von Moskau. In einem Verhör, das vom russischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, bekannte er: “Für mich ist ein Leben ohne Mord wie für euch ein Leben ohne Nahrung”. Er habe sich als Vater seiner Opfer gefühlt, weil er ihnen “die Tür zu einer anderen Welt” aufgestoßen habe.

In Australien ist eine Bardame zur Zahlung von 1000 australischen Dollar verurteilt worden, weil sie zum Vergnügen der Kundschaft Bierdosen zwischen ihren nackten Brüsten zerdrückte und Löffel auf ihren Brustwarzen balancierte.

Und was hält das Kindermädchen von all dem? “Nobody ever knew what Mary Poppins felt about it, for Mary Poppins never told anybody anything.”

Tot ist Carlo Collodi, Autor des “Pinocchio”.

Mittwoch, 24. Oktober 2007 – Zwölfuhrdreiunddreißig, achtkommaeins. Bedeckt.

35 Prozent der Deutschen erledigen ihre Bankgeschäfte online.
Jeder dritte Deutsche steht links.
Ein Drittel der Deutschen ist glücklich.
Fast die Hälfte der Deutschen weiß nur wenig über gesunde Ernährung.
Jeder dritte erwachsene Deutsche leidet unter Arthritis.
Rund zwanzig Prozent der Deutschen möchten die Mauer wiederhaben.
Jeder dritte Deutsche findet, dass die Juden auf der Welt zu viel Einfluss haben.
40 Prozent aller Deutschen finden, dass der Nationalsozialismus auch positive Seiten hatte.
78 Prozent der Deutschen kennen den Wortlaut des Vaterunser.
Nur acht Prozent der Deutschen halten sich an die neuen Rechtschreibregeln.
Neun Prozent der Deutschen sind rechtsextrem.
Achtzig Prozent der Deutschen haben ein Handy.
44 Prozent der Deutschen treffen beim Sex keine Vorsichtsmaßnahmen.
Zwei Drittel der über 45-jährigen Deutschen sind infarktgefährdet.
Über die Hälfte aller Deutschen kauft inzwischen im Internet ein.
Drei Viertel aller Deutschen sind über den Klimawandel besorgt.
Nur 0,4 Prozent aller Deutschen wollen ein iPhone.
Drei Viertel der Deutschen hat keine Ahnung, was es mit Pfingsten auf sich hat.
93 Prozent aller Deutschen kennen Harry Potter.
70 Prozent aller Deutschen machen Dienst nach Vorschrift.
34 Prozent der deutschen Angestellten halten den eigenen Chef für eine totale Fehlbesetzung.
Rund zehn Prozent aller deutschen HIV-Infizierten haben sich im Urlaub angesteckt.
Zwei Drittel der Deutschen wollen mehr Sex.
Jeder zweite Deutsche hat schon DSL.
Mehr als jeder fünfte Deutsche ist für die Wiedereinführung der Todesstrafe.
22 Prozent der Deutschen haben 2007 noch kein Buch gelesen.
40 Prozent der Deutschen glauben an Außerirdische.
99 Prozent aller Deutschen kennen Heino.
Hundert Prozent der Deutschen sind Deutsche.
Hundert Prozent aller Deutschen werden sterben.

Am 24. Oktober 1996 starb in Berlin Arthur Axmann, “Reichsjugendführer”, lebte nach dem Krieg einige Zeit unter dem Decknamen Erich Siewert in Mecklenburg-Vorpommern, in den siebziger Jahren plante er auf Gran Canaria ein Freizeitzentrum und schrieb schließlich seine Memoiren, die unter dem Titel “Das kann doch nicht das Ende sein” erschienen.

Sonntag, 21. Oktober 2007 – Siebenuhreinundvierzig, vierkommaneun Grad. Dämmert gerade erst.

Gestern gemächlicher Ritt mit Jörg und Lutz über die Hohe Straße, dann nach Hanau und am Main zurück. Blauer Himmel, kalte Luft, schwarze Vögel, klare Köpfe, dicker Wirsing. So geht das kleine Glück.

Während in Port Coquitlam (British Columbia, Canada) seit einem dreiviertel Jahr gegen den Schweinefarmer Robert Pickton verhandelt wird, der im Verdacht steht, 49 Frauen umgebracht zu haben, hat die Polizei im nur knapp sieben Meilen entfernt liegenden Surrey sechs zum Teil verweste Leichen in einem Appartement entdeckt. Über die Identität der Toten und die Umstände ihres Todes wurde noch nichts mitgeteilt.

“Das gute Leben” von Fred Wander gelesen. Ganz kunstlos, ohne jeden Formwillen, oft redundant, plapperhaft, viele Zeitsprünge. Und dennoch: Wie viel mehr Welt umfasst dieses Buch als die meisten Romane: von Buchenwald, über die DDR-Boheme bis zu den nackten Aussteigern in der Provence.

Tot sind Jack Kerouac und Francois Truffaut (Foto).

Montag, 15. Oktober 2007 – Achtuhrsiebenundvierzig, achtkommavier. Wieder sonnig.

Gute Nachricht: Die Buchmesse ist zu Ende.

Nach Wochen der erzwungenen Abstinenz wieder den Fernseher eingeschaltet und einmal durch die Programme gehüpft. Und gelacht über dieses Ausmaß an Simulation, das selbst in den Kultursendern herrscht. Die Entwöhnung ist vollzogen!

Wie es mich derweil nervt, dieses Rumgehocke in Kneipen, Restaurants, Cafés …, Und gequatscht wird umso mehr, je weniger man sich zu sagen hat. Maul halten, arbeiten!

Vorgestern kleine Runde, gestern dreiviertel Stunde Trainer. Saß ich je zuvor auf dem Rad? Alles auf Anfang!

Tot: Mata Hari.

Freitag, 12. Oktober 2007 – Siebenuhrvierundvierzig, siebenkommasechs. Bedeckt.

Ob sie wirklich so unschuldig gewesen sei als Kind, fragt der Anwalt die Zeugin Heidi Marks vor dem Bamberger Landgericht, wo gegen den Angeklagten Alfred G. wegen versuchter Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs von Kindern verhandelt wird. Ihm, so fährt der Anwalt fort, habe man gesagt: “Die hat es ganz schamlos getrieben.” Die Zeugin dreht sich zu ihm um und fragt: “Mit vier Jahren?”

Tot ist Agnes Bernauer. Die Geliebte (oder Ehefrau) des bayerischen Thronfolgers Albrecht III. wurde in dessen Abwesenheit der Zauberei angeklagt und am 12. Oktober 1435 bei Straubing in der Donau ertränkt. “Der Kuß / den ich empfing / der bringt mich umb das Leben / Denn das du mich geliebt ist meine gröste Schuldt.” (Christian Hofmann von Hofmannswaldau)

Mittwoch, 10. Oktober 2007 – Zwölfuhrfünfzehn, fünfzehn Grad. Sonnig.

„Der „tosende Beifall” für die ehemalige Tagesschausprecherin Eva Herman beim Kongress des „Forums Deutscher Katholiken” ist nicht nur ein Armutszeugnis für die Teilnehmer, sondern auch eine Ohrfeige für all diejenigen, die sich über 60 Jahre in der Aufarbeitung der Nazi-Diktatur engagiert haben”, so der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Dr. Dieter Graumann … „Angesichts der hässlichen Häufung von kritikwürdigen Vorfällen – die wirren Vergleiche des Kölner Kardinals Meissner mit entarteter Kunst, die Ausfälle während der Israel-Reise der Bischofskonferenz im Sommer, sowie der jetzige Vorfall beim Forum Deutscher Katholiken – muss sich die deutsche Bischofskonferenz der Katholischen Kirche fragen lassen, ob nicht langsam doch ein klärendes Wort des Vorsitzenden Kardinal Lehmann fällig ist”, so Graumann.
Nur, was soll es da zu klären geben, wenn doch alles klar ist?

“Es fällt mir schwer, diese sieben Jahre zu verdauen”, sagt Schimon Stein, der scheidende israelische Botschafter in Berlin über seine Amtszeit in Deutschland.

Heute vor dreißig Jahren starb Lea Grundig (Foto), Künstlerin, Jüdin, Kommunistin, beerdigt auf dem Dresdner Heidefriedhof.

Dienstag, 9. Oktober 2007 – Zweiuhrachtunddreißig, neunkommasieben Grad. Schön frisch.

Seit zwei Stunden wach. Autogenes Training, Baldrian, Bier, hilft alles nichts. Nackenschmerzen, Nachtgespenster. Und die Lektüre macht’s auch nicht besser – Fred Wander: Das gute Leben.
Tagelang jetzt dieser Kampf mit Netz und Telefon. Ablenkungsmanöver. Dauernd Schübe von Schwermut, Trauer. Wie am Sonntag auf dieser Bank vor dem Petterweiler Friedhof – für Minuten vollkommen haltlos. Bin so rausgerutscht, so weg und noch nicht da. Verdattele mich, vergesse alles. Was ist z.B. dieser Termin am Donnerstag? “Langen” steht im Kalender. Was ist in Langen? Hab ich eine Lesung? In den Mails kann ich nicht suchen; ist alles im Orkus gelandet. Im Verlag weiß niemand was; und im Netz finde ich nichts.

Nachher nicht vergessen: B. zum Geburtstag gratulieren!

Tot ist Walter Warlimont, General der Artillerie im Wehrmachtsführungsstab, 1948 als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt, 1954 entlassen, 1976 gestorben am Tegernsee. Ein deutscher Drecksack.

Freitag, 5. Oktober 2007 – Neunuhrachtzehn, fünfzehnkommadrei. So lala. Die Autobahn lärmt.

Gut gesehen: Jürgen K., als er das Liebermann-Selbstporträt sieht: “Ist das Kemal Atatürk?”

Aus der Serie “Das darf doch nicht wahr sein”: Mein neuer Schreibtisch sieht schon wieder aus wie mein alter.

Meldung: “Der Vatikan will mehr Anstand in Italiens Fussball bringen”. Ausgerechnet!

Jacques Offenbach, der heute vor 127 Jahren starb, wusste bei seinem Tod noch nicht, das er die kleine Operette “Das Geheimnis einer Sommernacht” komponiert hat, und dass diese eine wichtige Rolle in dem Roman “Partitur des Todes” spielen würde.

Donnerstag, 4. Oktober 2007 – Elfuhreinundzwanzig, achtzehnkommanull. Regnerisch.

Idiotischste Lektüre der letzten Zeit: Karin Slaughter: Gottlos. Wer seine Danksagung mit einem solchen Satz beginnt, hat in meinem Regal nichts zu suchen: “An diesem Punkt meiner Karriere angekommen …”

“Geschmack” – kaum eine Kategorie ist dem Mittelstand wichtiger, kaum einer ist er weniger gewachsen. Und keine ist für ihn mit mehr Angstschweiß behaftet. Etwas in Geschmacksdingen falsch zu machen – “Mir kommt nichts ins Haus, wo Ikea draufsteht” – scheint wie nichts sonst die Furcht zu wecken, sich nach unten nicht genügend abgegrenzt zu haben und nach oben nicht genug gestrebt.

Von Charlotte das schöne Zitat: “Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen”. Und im Netz auch die Quelle: Notker I. von Sankt Gallen: “Media vita in morte sumus.” Und die Luther-Variante: “Mitten wyr ym Leben sind / mit dem tod vmbfangen.”

Vor einem Jahr starb während der Buchmesse auf dem Sofa der Reicherts: Oskar Pastior.

Montag, 1. Oktober 2007 – Zehnuhrfünfunddreißig. Temperatur? Keine Ahnung. Gut warm.

Wieder an Bord. Jedenfalls mit einem Bein. Aber malad. Und noch so viele Baustellen …

Was für ein Gewisper tausender Stimmen beim Ein- und Auspacken der Bücher. Große Abscheu gegen Vieles, vor allem gegen die allzu vielen, allzu dummen Amerikaner, die sich nicht einmal mühen, ein Bild ihrer Jahre zu geben, sondern immer nur den kurzen Reiz der Saison bedienen und deshalb schon das Verfallsdatum erreicht haben, bevor die deutsche Übersetzung in die Läden kommt. Wenige Ausnahmen: Mark Twain, Stevenson, Updikes Rabbit-Romane, Nabokov, Isaac Singer, die besten Connellys … Na, sind schon noch ein paar mehr. Sonst: Widerwillen.
Aber dann auch wieder eine geradezu glückselige Hinwendung zu den wenigen Heiligen: Proust, Flaubert …

In den Resonanzräumen von Kopf und Herz plötzlich unglaublich viele Echos. Boehlich, Piwitt, Degenhardt, M., F., Beltz, sind ganz nah, körperlich, mit ihren Stimmen und Gesichtern – seltsamerweise alle lächelnd. Aber noch sehr viele mehr – Freunde, entwichene Freunde, verstoßene Freunde, scheinbar vergessene Freunde, Dahingegangene, Dorthingegangene.

Wer ist tot?