Geisterbahn

Samstag, 31. Dezember 2005 – Verärgert aufgewacht. Im Traum ist mir jene Vierzigjährige – verhärmt, aber eitel – wiederbegegnet, die kurz vor Weihnachten in der U-Bahn auf dem Platz gegenüber saß. Sie hatte ihr Mobiltelefon an Ohr und Mund und verkündete im südhessischen Dialekt: “Isch mach grad Powerspeed-X-Mas-Shopping.” Und weil ihr Gesprächspartner nicht verstehen konnte oder wollte, was er da gerade gehört hatte, wiederholte sie den Satz noch lauter.

  In den Erinnerungen des schwedischen Arztes Axel Munthe, die mir Piwitt zum Geburtstag geschickt hatte, finde ich kurz darauf die Formulierung: “Das Telephon, diese tödliche Waffe in den Händen müßiger Frauen …”

  Wieder alles im Schnee versunken.

  1877 stirbt Gustave Courbet.

 

Freitag, 30. Dezember 2005 – Kurz nach Heiner Müllers Tod, oder schon zuvor, nachdem ich den dritten Band seiner “Gesammelten Irrtümer” herausgegeben hatte, war mein Interesse an Müller erlahmt. Seltsam dann noch mal die Hysterie um sein Begräbnis. Tout le monde scharte sich nun um “den Heiner”, wie sie ihn alle blöde-vertraulich nannten. Dabei war er doch nun endgültig zu “Müller.Deutschland” geworden. Gestern Abend, aus Anlaß seines heutigen zehnten Todestages, eine Sendung auf 3sat. Die Ausschnitte aus den Inszenierungen seiner Stücke, die dort gezeigt wurden, waren durchweg unerträglich: dürr, hölzern, zugleich prahlerisch und bedeutungsschwer. Kaum, dass mal die Schönheit einer einzelnen Wendung aufblitzte. Das Meiste Asche. Ganz anders, wenn Müller selbst ins Bild kam und sprach. Sofort war ich wieder elektrisiert. Jeder Satz funkelte. Offenbar konnte nur er selbst die Sensation seiner Texte auf angemessene Weise transportieren.

  Simenon berichtet, wie er den Maigret erfunden hat: “Eines Morgens an Bord meines Bootes … versuchte ich wieder einmal einen Detektivroman zu schreiben. Es war so etwas wie eine Stufe auf der Leiter zur ‘Literatur’, sosehr ich dieses Wort hasse. Eigentlich ist nichts leichter als das Schreiben eines Detektivromans.”

  Spät klingelt es nochmal. Der Postbote bringt die schöne Tuch-Litho. Und Stunde um Stunde versinke ich tiefer in den Recherchen zur bildenden Kunst des letzten Jahrhunderts. Und an jedem Namen, der mir neu begegnet, hängt ein Künstlerleben, das einen taumeln läßt. 

  Patti Smith hat Geburtstag.

 

Donnerstag, 29. Dezember 2005 – Die halbe Nacht in der Simenon-Biografie gelesen. Dafür muss sogar Connelly weichen.

  Es schneit und schneit und schneit. Nullkommanull Grad.

 Schönes Zitat von Max Liebermann: “Nichts trügt weniger als der Schein.” 

  Gerade kommt die niederländische Ausgabe des ersten Marthaler: “Een al te mooi meisje – Misdaadroman”. Nett.

  MA: “Es gibt Leute, die es nicht einmal wert sind, dass man sie ignoriert”. Aber wie – um Himmels Willen – begegnet man diesen?

  Vor 115 Jahren: 350 ermordete Lakota bei Wounded Knee.

 

Mittwoch, 28. Dezember 2005 –  Auf Lesungen immer wieder die Klage, dass in so vielen Texten “das Erotische” fehle, wahlweise auch: “das ästhetisch Erotische”. Vorgebracht wird die Beschwerde bevorzugt von gebildeten Damen um die sechzig. Und ich dachte, die würden sich vor allem interessieren für: “Wellness pur”.

  Gerade wird bei ebay von Mitglied Aloisius versteigert die Ölmalerei: “Sexy Negerin nackt”. Ein Gebot gibt es schon.

  Heute ist der “Tag der unschuldigen Kinder”. Mmmh?

 

Dienstag, 27. Dezember 2005 – Alles dick verschneit. Die Lithographie von Kurt Tuch zum Einstandspreis ersteigert.

  Heute vor 55 Jahren ist Max Beckmann gestorben (mit dem Tuch 1912 in Magdeburg gemeinsam die Künstlervereinigung “Börde” gegründet hat).

 

 

Montag, 26. Dezember 2005 – Die schöne Reiter-Lithographie von Ubbelohde hab’ ich mir wegschnappen lassen. Nachhaltig verärgert.

  Eine Stunde auf der Rolle – Trittfrequenz trainiert. Dabei Dvoraks Cellokonzert mit Queyras.

  Spaziergang im Sonnenschein am Mainufer. Die Schaufenster sämtlicher Galerien abgeklappert. Kurz in die Alte Nikolaikirche. Vor der Paulskirche treffen wir auf D. und S. Gemeinsam Eis essen.

  Zu Hause ein wenig in dem alten Band “Über Simenon” gelesen, ein Interview von 1975. Ich wußte gar nicht, dass Simenon ein Linker war. Und freue mich darüber, wie sehr er Stevenson und “Die Schatzinsel” geschätzt hat.

  Bei ebay steht ein Aquarell von Hitler auf 11.000 Euro.

  Todestag von Karl Hubbuch.

 

Sonntag, 25. Dezember 2005 – Auf der Wasserkuppe bei etwas unter Null Grad. Fremde, graue, weiße, schwarze Welt. Kalt, verschneit, neblig, heiligstill. Dann dieses Paar mit seinen Steppjacken und den riesigen bunten Plastikstiefeln. Dabei haben sie einen nervösen Pudel im Strickleibchen, der immer wieder über die dicke Schneedecke läuft, schließlich einbricht und darin versinkt.

  Alles ein bisschen nazi hier oben.

  Abends zum wiederholten Mal “Was vom Tage übrigblieb”. Wie viele Fehler dieser Filmnicht macht.

  Vor achtundzwanzig Jahren ist Charlie Chaplin gestorben.

 

Samstag, 24. Dezember 2005 – Gestern Abend den langen ersten Teil von „No Direction Home“ gesehen, Scorseses Film über Dylan. Ein Lehrstück darüber, wie sich jemand als Künstler konstruiert. Was für ein begnadeter Schnösel. „Eigentlich habe ich nie etwas erfunden“, sagt Dylan. „Etwas Neues zu machen, hat mich nicht interessiert.”

  Eine Stunde auf der Rolle. Dabei “Treasure Island” gehört. Grauenhaft in Form. Muss Grundlagenausdauer und Trittfrequenz trainieren.

  Im SZ-Feuilleton ein Plädoyer von Lothar Müller für eine Laokoon -Debatte. Angenehm. Seit hundert Jahren werden nun “Entgrenzung”, “Tabubruch” und “Subversion” alsHauptkriterien der Kunst gefeiert – allesamt Vokabeln des Übergriffs.   

  Todestag von Dutschke und Aragon.

  (34927)

 

Freitag, 23. Dezember 2005 – Es ist 4.46 Uhr, keine vier Grad Celsius. Hinter mir der Gasofen müht sich redlich. Und wie immer in der Weihnachtszeit geistern die Toten durchs Haus. Ihre Zahl nimmt zu.

  Bestelle bei einem Berliner Antiquariat: Patrick Marnham, “Der Mann, der nicht Maigretwar”. Und gleich noch hinterher: Simenons “Intime Memoiren” und die “Tagebücher” aus den frühen sechziger Jahren.

  Eine Stunde durch den Park. Mühsam.

  Zwei Highlights des Tages: Das Interview mit Zabel in der “Zeit”. Und Mendelssohn-Bartholdys dritte Sinfonie mit dem RSO Stuttgart unter Norrington.

  In der SZ ein Text zu aggressiven Schlafwandern, die, ohne es zu merken, vergewaltigen und töten.

  Wenigstens das chinesische Sprichwort, das Dexter zitiert, soll nicht vergessen werden: “People can share the same bed but not the same thoughts.”

  Antoni Tàpies wird 82 Jahre alt. Und vor zweihundertundeinem Jahr wurde Beethovens Violinkonzert op. 61 uraufgeführt.

 

Donnerstag, 22. Dezember 2005 – Die so überaus hilfreichen “Alligatorpapiere” weisen auf einen Verriss der „Braut im Schnee“ hin. Der Rezensent konzentriert sich in seiner Kritik vor allem auf den ersten Absatz, in welchem er „Placebo-Sätze“  und „Deklamatorenprosa“ entdeckt. Allerdings hat er nicht gemerkt, dass es sich bei der gesamten Passage um eine Paraphrase auf den Anfang von Kafkas „Verwandlung“ handelt.

  Konkurrentes Verhalten verläuft immer nach demselben Muster: Zuerst wird der neue Konkurrent ignoriert. Geht das nicht mehr, versucht man ihn zu umarmen. Gelingt auch das nicht, wird er attackiert.

  Leicht entnervt lege ich Dexters „Remorseful Days“ beiseite. Die allzu selbstverliebte Sophistication ist der Spannung auf Dauer doch ziemlich abträglich. Stattdessen der neue Michael Connelly: „The Lincoln Lawyer“. Leider kein Harry-Bosch-Roman, leider eine Ich-Erzählung. Trotzdem hat er mich schon nach den ersten Seiten am Haken.

   Wenig Ermunterndes über den Fortgang von “Tage und Nächte”. Dafür eine Mail von Cyril mit der umwerfenden Formulierung “Maschinisten des Glücks”. Das reicht, um übers Jahr zu kommen.

  Todestag von Joe Strummer und Samuel Beckett. Lebt eigentlich Shane McGowan noch?

 

Mittwoch, 21.Dezember 2005 – Früh morgens den alten, anregenden Simenon-Artikel von Thomas Wörtche gelesen. Auch hier geht es weite Strecken um die Kategorisierung: Was ist ein Kriminalroman und handelt es dabei um Kunst? Er sagt, die sprachliche Schlichtheit der Maigret-Romane (die letztlich mitverantwortlich für deren Erfolg ist) sei nicht der Schlichtheit des Autors geschuldet, sondern dessen literarischem Verfahren – dem des bewussten Minimalismus. Dem würde die Anekdote Recht geben, der zu Folge Simenon geradezu panisch reagiert haben soll, wenn er dafür gelobt wurde, diesmal aber ein „literarisches“ Maigret-Manuskript abgeliefert zu haben. Sofort habe er sich an die Überarbeitung gemacht, mit dem Ziel, alles Literarische zu tilgen. (Wäre mal zu überprüfen, ob das stimmt.) Interessant ist, dass Wörtche genau an der Stelle kapituliert, wo er die Frage stellt, wie denn eine erzählende Literatur zu nennen sei, die weltweit mit großem Erfolg aus den Konstituenten „Kriminalität“ und „Realität“ Romane mache, und dabei die ästhetische Entwicklung der Gattung seit der Moderne bewusst ignoriere.

In der öffentlichen Diskussion ist die Unterscheidung zwischen U- und E-Literatur seit zwanzig Jahren aufgehoben. Meiner These, dass es sich bei Kriminalromanen im besten Fall um kunstvolles Handwerk, nicht aber um Kunst handele, stimmt niemand mehr zu. Das könnte daran liegen, dass ich Unrecht habe. Es könnte aber auch daran liegen, dass der Markt sich dahingehend entwickelt hat, dass alle an ihm Beteiligten (Autoren, Verleger, Kritiker, Wissenschaftler, Leser), diese Unterscheidung aus distinkten, vor allem aber aus merkantilen Gründen nicht mehr wollen: Es soll Krimi drin sein, aber es soll nicht Krimi draufstehen. Dann würde die Verwischung der Grenzen ihre Berechtigung zwar aus dem Marketing beziehen, aber noch lange nicht aus der Philologie.

Heute haben Stalin, Böll und Frank Zappa Geburtstag. Und vor siebzig Jahren hat sich Kurt Tucholsky in Schweden das Leben genommen.

 

Dienstag, 20.Dezember 2005 – Suche lange nach der Erzählung von Garcia Marquez, wo ein sehr reiches, sehr junges Paar von Spanien nach Paris auf Hochzeitsreise fährt. Dann endlich finde ich sie. Es ist die letzte der „Zwölf Geschichten aus der Fremde“. Verliere mich für Stunden im Pariser Stadtplan. Und in Erinnerungen. – Material: Grand Guignol, Musée Marmottan, Jardin du Ranelagh, Marché d’Aligre, Sorbonne IV.

  Mit dem Rad in die Stadt – dass einem noch die Hände abfrieren. Wieder vor der Galerie Teutschmann. Das kleine Aquarell mit der “Winterlandschaft bei Amsterdam” hängt noch. Der Eversen ist weg. Im Raum brennt zwar Licht, aber die Tür ist verschlossen. Ah, die Galeristin hat mich gehört; sie schließt auf. Und ist freundlich. Ja, wunderschön durchgearbeitet, der Pothoven; soll 4.800 Euro kosten. Doch, doch, der Eversen ist auch noch da, aber seeehr teuer, sagt sie. Sie holt ihn. Ich gehe in die Knie, und verliere fast augenblicklich das Interesse an dem Wasserfarbenbildchen. Über 50.000 Euro.   

Wieder zu Hause finde ich im Angebot des Wiener Auktionshauses Dorotheum eine vergleichbare Stadtansicht. Schätzwert: € 15.000 – 18.000.

  Von O. aus Köln eine nette Weihnachtskarte, über die ich mich sehr freue.

  Todestag von John Steinbeck. Hochzeitstag von Brigitte Bardot und Roger Vadim.

 

Montag,  19. Dezember 2005 – Am Abend länger im Netz wegen Johanna Kirchner, sehe, dass sie mit Lore Wolf befreundet war – und stoße dabei auf immer mehr Namen der alten Frankfurter Linken. Und erfahre, dass hier ganz in der Nähe, in der Usinger Straße, einer ihrer Treffpunkte war.

  Dann, nachts, eine Entdeckung: Drei Freunde, die unter dem Namen Stefan Brockhoff gemeinsam geschrieben haben, veröffentlichen am 5.Februar 1937 in der Zürcher Illustrierten „Zehn Gebote für den Kriminalroman“. Bin enttäuscht. Mehr als ein paar zweifelhafte Selbstverständlichkeiten stehen nicht drin. Und Glausers Erwiderung sechs Wochen später ist ebenfalls seltsam kraftlos.

Wieder weist mich jemand auf H. Eckerts Angriffe auf der Seite von „Das Syndikat“ hin. Es ist schon seltsam. Den ganzen Herbst haben sie versucht, mich als Mitglied zu gewinnen. Kaum habe ich – nicht aus Hochmut, sondern aus Ruhebedürftigkeit – abgelehnt, schon wird attackiert. Sei’s drum. Ich werde nicht reagieren, sondern bleibe dabei: „Nie beschweren! Nichts erklären!“

  Endlich die seit dem Sommer erwartete Mail, dass es mit den Verfilmungsplänen für „Ein allzu schönes Mädchen“ voran geht.

  Noch ein paar Seiten in Colin Dexters „Remorseful Days“. Mein Gott, ist das hochbeinig.

  Neunzigster Geburtstag von Edith Piaf. Neunter Todestag von Mastroianni.

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