Geisterbahn

Veranstaltungshinweis: Am Mittwoch, 31.Mai 2006 um 21 Uhr im “Klabunt” in Frankfurt-Bornheim, Berger Str. 228:
Von den Bauernkriegen bis Rosa Luxemburg, von Martin Luther bis Bertolt Brecht …
Atilla & Altenburg
“Ein kleiner Abend Glück”
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Geisterbahn. Tagebuch mit Toten

Mittwoch, 31. Mai 2006 – Vieruhrachtunddreißig, achtkommavier. Die ganze Woche schon wird in einigen Regionen Bodenfrost gemeldet. Gestern und vorgestern hat es stellenweise geschneit. Und immer wieder Regen.
Als wir am Montag geprobt hatten und ich Atillas Haus verließ, kamen aus der Wohnung im Erdgeschoss laute Liebesgeräusche, Lustgestöhn, der Orgasmus einer Frau. Ich hielt den Atem an, lauschte und merkte, dass die Töne aus einem Fernseher kamen. Jemand schaute sich einen Porno an und hatte den Ton so laut gedreht, dass er im ganzen Treppenflur zu hören war. Gestern erzählte Atilla, dass die Eheleute, welche in dieser Wohnung leben, weit über achtzig Jahre alt sind. Und offensichtlich schwerhörig.
Das regelmäßige Schreiben eines Tagebuchs hat auch etwas Stumpfsinniges. Warum, wenn es einem gut geht und die Tage ausgefüllt sind, wird man auch noch zum Buchhalter des eigenen Lebens? Und diese Zuwendung, die ein Journal braucht … schlimmer als ein Haustier.
Am 31. Mai 1669 macht Samuel Pepys wegen seines immer schwächer werdenden Augenlichts die letzte Eintragung in sein Tagebuch: „Im Vorbeigehen auf einen Sprung zu Mrs. Michell, wo ich seit Jahr und Tag nicht mehr war. Ich wusste, dass ihr Mann auswärts war und je did baiser elle. Dann ein weiteres Treffen mit dem Herzog von York, in Whitehall, von wo mich meine Frau abholte. Im `Weltende`eingekehrt, sehr lustig. Spät nach Hause. Und so endet alles …“
Tot sind Tintoretto, Haydn, Friedrich Gerstäcker, Gorch Fock und Raissa Orlowa-Kopolewa, die ich vor vielen Jahren einmal, als sie gemeinsam mit ihrem Mann (bei dem ich damals studierte) in Göttingen eine Straße überquerte und beide nicht auf die rote Fußgängerampel achteten, fast mit Gernots rotem Lada überfahren hätte.
Todestag hat auch Hannah Höch (siehe Eintrag vom 29.Mai).
Montag, 29. Mai 2006 – Dreiuhrsiebenundvierzig, dreizehnkommasechs Grad. Die Meldung ist, dass es augenblicklich mal nicht regnet.

Inzwischen wundert es mich schon, wenn ich an einer Plakatwand vorbeikomme und mir nicht Michael Ballack entgegenglotzt.
Mittwoch über Neu-Isenburg, Sprendlingen, Langen, Wixhausen („Sag Ja zu Wixhausen!“) und Arheilgen nach Darmstadt zur deutschen Vertretung der Firma Assos in der Saalbaustraße („Hinter der Dolly Buster links rein“).
Donnerstag kommt das Höch-Bild.
Freitag am Abend Vorstandsitzung der Autorenstiftung im Verlag, kurz mit Jochen und Kerstin ins Nizza, dann mit dem Taxi ins Horizont.
Samstag durch die Wetterau, dann Gesellschafterversammlung im neuen Literaturhaus, nachmittags Vortrag zum Thema „Zeugenschaft“ von Carolin Emcke, einer Freundin von Stefan, Kriegsberichterstatterin beim „Spiegel“. Später gibt Ingo einen Bericht zum Stand der Filmautoren AG. Abends Fest im Liebighaus.
Sonntag kurz zum Volkslauf am Hessencenter, dann dreimal Röhrborngasse und eine Schleife durch die Wetterau.
In Spanien hat es Festnahmen bei einer Dopingrazzia unter den Radprofis gegeben. Jan Ullrich ist aus dem Giro ausgestiegen. Schweres Erdbeben in Indonesien. Amoklauf eines Sechzehnjährigen bei der Einweihung des Lehrter Bahnhofs als neuem Hauptbahnhof von Berlin.
Tot sind Romy Schneider, Erich Honecker und Jeff Buckley. Am 29.Mai 1993 sterben bei einem Brandanschlag in Solingen fünf türkische Frauen und Mädchen.
Mittwoch, 24. Mai 2006 – Zweiuhrsechsundvierzig, neunkommavier. Gleich beim Einschalten des Rechners: Neues aus der Tchibo-Welt – „Lässige Club-Outfits und Warhol Lithografie zum Superpreis“. Das man noch nicht mal in Ruhe wach werden kann, bevor sie einem ihren Müll … Warhol, na bitte, endlich bei Tchibo angekommen.
Montag: Mittags aus dem Haus, schnell noch in den Supermarkt und einen tragbaren CD-Spieler für unterwegs kaufen, irgend so eine Nullmarke, egal, 39 Euro. In die U-Bahn … und plötzlich sehe ich mich umzingelt von lauter unglaublich dicken, nein, fetten Frauen. Was ist denn das? Kann denn das sein? Die sind zwanzig, dreißig Jahre alt, haben Tätowierungen, Glitzerperlchen in den Lippen und den Nasenflügeln, einen Hamster am Kragen und wiegen jede bestimmt neunzig bis hundert Kilo. Hat die keiner erzogen? Lesen die keine Zeitung? Nee, wahrscheinlich nicht. Haben alle so Babyspeck-Gesichter und diese Münder sehen aus, als würden sie unentwegt das Wort „süüüüß“ sagen.
In den ICE, der erst in einer Viertelstunde fährt, aber schon am Gleis steht. Am Eingang meines Wagens lümmelt ein junges Pärchen, betatscht sich, knutscht – und macht keine Anstalten, mir den Weg freizugeben, beschwert sich aber auch nicht, als ich mich vorbeidränge. Beide sind Anfang Zwanzig, er Südländer, sie Deutsche. Mein Platz gleich am Eingang, die Glasschiebetür schließt nicht, also bin ich gezwungen, den beiden zuzuhören – wobei nur er es ist, der auf sie einredet: “Schatz, isch verspresch dir, du kriegst dein Geld. Isch verkauf die ganzen Pornos, dann bin isch flüssisch. Und die eine Tuss läuft auch gut. Nee, isch schlaf heut nisch bei die Tuss, aber isch muss die locker halten, aber isch verspresch Dir, isch schlaf heut nisch bei die. Schatz, du kennst misch doch …” Alles, was aus diesem Maul quillt, ist Impertinenz, Dummheit, Scheiße.
Also rasch den Kopfhörer auf, den neuen Spieler ausprobieren, wieder das Schostakowitsch-Trio und die erste Sinfonie. Und schon mal die ersten fünfzig Seiten in dem Pfungstadt-Krimi lesen. In Düsseldorf umsteigen, dann im Regional-Zockler nach Gütersloh. Dort, am Bahnhof, gehe ich auf ein Paar zu, das spießig, aber einheimisch wirkt, sage „Entschuldigung“, um die beiden auf mich aufmerksam zu machen. Der Mann sieht mich kurz aus dem Augenwinkel an, dann dreht er mir demonstrativ den Rücken zu und schirmt seine Begleiterin vor mir ab, als könne von mir Gefahr ausgehen – und sei es nur die, dass ich um etwas bitte. Ich sage trotzdem meinen Satz: „Können Sie mir sagen, wo das Parkhotel ist?“ Ahh, jetzt ist man freundlich, wendet sich mir zu, gibt Auskunft. Das Haus scheint eine gute Adresse zu sein. Jaja, gleich da drüben um die Ecke … Und nun doch ein verstohlen-neugieriger Blick dem Fremden hinterher …, der es sich leisten kann …
Lesung in der Stadtbibliothek, vorher zwei Lokaljournalisten, Frau Eckey begrüßt, Lesung, Gespräch, dann gemeinsam mit den Buchhändlerinnen essen, wirklich nett. Es heißt, hier gehöre immer noch alles der Familie Mohn, ja, das Hotel auch, obwohl doch Bertelsmann längst in Berlin residiere: Unter den Linden 1.
Dienstag: Wieder in der Bahn. Der Servicewagen rumpelt durch die Gänge. Die junge Frau, die ihn schiebt: „Haben Sie noch einen Wunsch? Kaffee, Sex oder Kaltgetränke?“ – Ah, nein, sie hat nicht Sex gesagt, sie hat Snacks gesagt. Auf meinem Platz liegt die neue Ausgabe der WAZ, darin ein Prospekt vom Kaufhof, darin eine Werbung für Schuhe, na, sind doch ganz hübsch, die Treter, reiße mir die Seite raus, um in Frankfurt zu kaufen. In Hannover halbe Stunde Aufenthalt, gehe auf den Bahnhofsvorplatz, wo es eine gute Cafébar gibt, aber direkt gegenüber ist ja, wie ich jetzt sehe, auch eine Kaufhof-Filiale, also kein Kaffee, sondern Schuhe. Ja, die sind vorrätig. Ja, die passen. Ja, die nehme ich. Wieder zu Hause. Vollkommen ausgepumpt. All die Mails … nee, heute werden sie nicht mehr beantwortet.
Dreiuhrsechzehn: Will den Text hier ins Netz stellen, geht nicht, Server nicht gefunden. Vieruhrzwanzig: Geht wieder, Danke Servermeister!
Tot sind Jakob Michael Reinhold Lenz und Anette von Droste Hülshoff.
Montag, 22.Mai 2006 – sechsuhrzwei, vierzehnkommanull.
Samstag kurze Tour, um die Schaltung zu überprüfen, scheint zu funktionieren, fängt an zu regnen, also zurück. Abends in die Alte Oper. City of Brimingham Symphony Orchestra unter dem finnischen Dirigenten Sakari Oramo. Eine wunderbare Petruschka-Suite. Tschaikowskis Sechste interessiert mich dann so wenig wie die Zugabe von Sibelius.
Sonntag früh mit Ati in den Taunus. Über Bonames nach Oberursel, von dort auf den Feldberg, dann Schmitten, Seelenberg, Ruppertshainer Berg, Königstein. Dort im Park kleine Riegel-Orgie, dann noch mal Feldberg. 103 Kilometer, 1772 Höhenmeter.
Abends geht die Auktion des Hannah-Höch-Bildes zu Ende … hat geklappt.
Am 22.Mai 1945 stirbt Else Lasker-Schüler in Jerusalem.

Samstag, 20. Mai 2006 – Fünfuhrdrei, elfkommavier Grad.
Gestern: Den ganz Tag läuft Schostakowitsch. Mittags Bombardement von Anrufen aus dem Verlag. Während ich versuche, halbwegs in Ruhe den Text über die Chamber-Music-Tage zu schreiben. Abends „Die Dinge des Lebens“ von Claude Sautet.
Tot sind Christoph Martin Wieland, Bettina von Arnim, Jacob Grimm, John Ruskin, Johnny Weissmuller, Audrey Hepburn.

Freitag, 19. Mai 2006 – Achtuhrfünfzig, vierzehnkommasieben.
Mittwoch: Schnell aufs Rad, Hausrunde, zurück, duschen. Was ist denn jetzt eigentlich los, warum meldet sich „Die Zeit“ nun nicht, obwohl ich doch gestern noch eine lange Mail geschrieben habe? Dann hektische Telefonate: Tut mir leid, in der Musikredaktion wird gesprochen, warten Sie, ich geben Ihnen die Durchwahl. Aber da wird nicht gesprochen, da geht einfach niemand ran. Endlich meldet sich Spahns Sekretariat: Nee, er ist heut nicht im Haus, warten Sie, ich geben Ihnen die Handynummer. Dann hab ich ihn: „Ja, machen Sie! Aber nicht so lang, 150 Zeilen.“ Ok, ich dachte zwar mehr an ein Porträt im Capote-Stil, so dreißig Seiten, gut, egal, weniger Arbeit. Bei der Kronberg-Academy durchfragen zur Pressebetreuung, um Karten für die Probe und das letzte Konzert zu bekommen: Das macht bei uns Frau Dr. Bertling, warten Sie, ich geb Ihnen die Handynummer. – Nein, das tut mir leid, wir sind bis auf den letzten Stuhl ausverkauft, alle Pressekarten längst vergeben, da geht gar nichts mehr. – Scheiße …, ich ackere eine Woche, um das zu verabreden … Entschuldigung, aber ich muss da rein! – Na, dann wollen wir mal schauen. Auf einmal geht es doch … da ist ja noch ein Kärtchen, wie schön.
Mittags kommt Jörg und bastelt mir, ebenso beherzt wie umsichtig, die neue Kassette und Kette ans Rad. Ich stehe wieder daneben, glotze und versuche, mir wenigstens ein bisschen was abzugucken. Zu dritt ins Eiscafé, für mich das erste Mal in diesem Jahr, ein Tartufo nur mit Nusseis bitte, aber jetzt ist der Appetit geweckt … Nee, mehr davon ist verboten!
Schnell nach Hause, umziehen, Unterlagen zusammenkramen. Was ist denn eigentlich da draußen los? Blick aus dem Fenster, ein Polizeihubschrauber kreist unablässig über dem Viertel, auf den Straßen Martinshörner. Runter, wo steht der Wagen? Ah da, aber ich komme keine hundert Meter weit. Der Alleenring ist zu. An der Friedberger wird umgeleitet, keine Ahnung, überall Polizei, Großrazzia oder was, Verkehrssender find ich auch nicht, Antenne ist abgebrochen, ach Mist, also durchschlagen Richtung Ginnheim, Auto an Auto, da geht auch nichts, irgendwie raus hier, Richtung Norden, also über die Nordweststadt nach Oberursel, prima, gleich ein Hinweisschild Richtung Kronberg, aber dann kommt eine Umleitung, nichts mehr mit Beschilderung – und ich weiß nicht mehr, wo ich bin … Na ja, halt in der Autohölle.
Frau Dr. Bertling? Das ist die Dame dort, am Tresen, hinter den Tulpen. Sehr freundlich, hat schon ein paar Unterlagen für mich vorbereitet. Warten Sie, ich stell Ihnen den Chef vor, der kann Ihnen stundenlang erzählen … Mmh, ja, aber ich will … Na wissen Sie, Frau Hecker ist im Moment sehr gefragt, da steht sie ja, Marie, da ist ein Herr, der möchte ein Interview. „Schon wieder? Ist das wichtig?“ Ja, irgendwie schon. „Also gut, fünf Minuten.“ Nee, wirklich, so geht’s doch nicht. Muss aber. Also Interview, dauernd Blick zur Uhr. „Ich glaube, ich muss jetzt zur Probe.“ Probe, Konzert, völlig erledigt nach Hause. Müde, hungrig. Schnell noch eine kleine Portion Spaghetti mit Meeresfrüchten, fast fettfrei. Glas Rotwein dazu. Ins Bett.
Donnerstag: Will nur ein kurzes Bergtraining in der Röhrborngasse machen, aber als ich da bin, fängt es an zu regnen, das Hinterrad rutscht auf dem steilen Anstieg durch, kenn ich ja schon, also doch die lange Hausstrecke. Noch nicht optimal, das mit der Schaltung, rutscht und kracht und springt. Dran arbeiten.
Mails, Telefonate, Steuer usw. Umziehen und los Richtung Marburg. Aber wieder sind die Straßen verstopft, Unfälle, Baustellen, Staus, und als ich in Rauischholzhausen ankomme, habe ich zwei und eine viertel Stunde für hundert Kilometer gebraucht. Verflucht. Aber immerhin dieser kurze, heftige Glücksstoß, als im Autoradio die Nachricht kommt, dass Jan Ullrich das Zeitfahren beim Giro gewonnen hat.
In diesem seltsam-schönen Schloss sitzen dann hundertfünfzig freundliche Lehrer, denen ich aus der “Braut” vorlese, alles sehr gutwillig, sehr nett. Uschi Flacke ist da, die ich noch als Liedermacherin kenne, wann war das, vor zwanzig, dreißig Jahren. Sie wohnt jetzt irgendwo im Taunus, Altenweilnau, so ähnlich. Gespräch über Nacktschnecken und ihre Tötung … Heim jetzt.
Die Toten des Tages: Boswell, Saint-Simon, Hawthorne, José Martí, Hodler, Karl Radek, Charles Ives, Gabriele Münter, Jacqueline Onassis, Hans Mayer.

Mittwoch, 17.Mai 2006 – Fünfuhrsiebenundfünfzig, vierzehnkommavier. Traum: Gemeinsam mit Maxim, den ich seit Jahren nicht gesehen habe, stehe ich vor einem kleinen Wasserbecken. Er erzählt, dass er froh ist, wenn er mal nicht ins Fernsehen müsse, weil sonst seine Kunden immer mehr von ihm forderten. Ich frage, wer seine Kunden sind, die Redaktionen? Er nickt. Wir werfen ausgekaute Kaugummis ins Bassin. Eine Wasserschildkröte taucht auf, kümmert sich nicht darum. Fünfzig Meter entfernt stehen zwei uniformierte Wachleute vor einem eisernen Gittertor. Ein nackter Schwarzer kommt, er befiehlt den Security-Leuten, ihm ihre Rücken zuzukehren. Dann verprügelt er sie mit seinem mitgebrachten Teppichklopfer, wobei sein langer Penis hin- und herschaukelt.

Gestern die Hausrunde. Schon beim Start ein gutes Gefühl, wache Beine, Kraft, alles da. Hält die gesamten fünfzig Kilometer. Sehr befriedigend.

Um zehn zu Stefan wegen der Vertragssachen.
Einkaufen.
Mail von Claus Spahn: Mein Angebot, ein Porträt über Marie-Elisabeth Hecker zu schreiben, war in den redaktionellen Wirren untergegangen. Aber ja, er möchte das haben, braucht bloß einen Anlass, es zu drucken – also eine CD-Veröffentlichung, eine Konzertreise oder ähnliches. Was mach in nun? Rasch schauen, was noch möglich ist, während der Kronberger Kammermusik-Tage.
Mail von Jörg und wir stellen fest, dass wir im Sommer fast anderthalb Wochen gemeinsam in den Pyrenäen sein werden. Klasse, werden wir eine Dependance der „Lokomotive“ dort eröffnen.
Es klingelt, der Paketbote bringt das Päckchen mit neuer Kette und Kassette.
Und gerade habe ich an dieser Stelle zum ersten Mal einen Eintrag zensiert, weil seine Veröffentlichung zu viele Scherereien nach sich ziehen würde.
Ach du Gütiger, was für eine Entdeckung in Degenhardts Gästebuch: „Name: Franz Josef Degenhardt / Datum: Montag, 15 Mai, 2006 um 13:40:04 / Kommentar: Eine Tournee gibt es in diesem Jahr nicht mehr, dafür aber eine neue CD “Dämmerung” (KOCH Universal) und vor allem – oft hier verlangt – meine sämtlichen Lieder mit Noten und Akkorden “Die Lieder” (Eulenspiegel Verlag) – beide in diesem Herbst. Euer Degenhardt“
Dann werde ich also bewegungslos warten, bis die Blätter braun werden. Und wenn beides in meinem Besitz ist, Album und Buch, kann auch dieses Jahrhundert getrost zu Ende gehen. Denn darauf hatte ich schon nicht mehr zu hoffen gewagt.
Am 17.Mai 1944 starb im KZ Ravensbrück die Schriftstellerin Milena Jesenská
Dienstag, 16. Mai 2006 – Vieruhrsechsunddreißig, achtzehnkommein Grad. Es läuft Mozarts Streichquartett K 589 mit dem Quatuor Mosaiques.
Gestern schon wieder den ganzen Vormittag Unterlagen für die Steuer organisiert, Telefonsachen, Mailsachen, Versicherungen, Verträge, kompletter Irrsinn.

Der Dirigent Christoph Eschenbach über den Komponisten Albert Roussel: „Die zweite Sinfonie zum Beispiel ist sehr aufregend. Sie klingt wie Musik zu einem Hitchcock-Film.“ Mit größerer Sicherheit kann man mich gar nicht davon abhalten, diese Sinfonie zu hören … Zumal, wie Piwitt neulich sagte, sowieso inzwischen jede Musik wie Filmmusik klingt. Die ewiggleiche Untermalung für den ewiggleichen Gefühlsmatsch. Überhaupt hat die unentwegte Bezugnahme auf das Medium Film nicht unerheblich zur Verblödung beigetragen.
Nachmittags bei Ati. Wir proben „Ein kleiner Abend Glück“ für unseren Auftritt am 31.Mai im „Klabunt“. Aber, oh Gott, es geht nichts zusammen. Wieder alles vergessen. Wir sind meilenweit davon entfernt, uns auf die Bühne trauen zu dürfen. Üben, üben!
Für den Abend hat sich Th. angesagt. Und? Kommt nicht.

Ja, hier, im Innern des Landes, da leben sie noch.
Tot aber ist Jean Baptiste „Django“ Reinhardt.
Montag, 15. Mai 2006 – Sechsuhracht, zehnkommasechs. Die Vögel machen einen Lärm, dass man glatt das Fenster schließen möchte.
Auch ein schöner Name für einen Sado-Maso-Club: „Happy Aua“.
Am Samstag eine Runde durch den Regen. Ist aber warm, macht Spaß. Erste Ausfahrt mit den Easton-Rädern. Sind wohl sogar ein bisschen schwerer als die Mavics, fühlen sich aber sehr stabil an und sehen chic aus. Die Schalterei ist allerdings eine Katastrophe.
Kurz vor Bonames stelle ich mich an einer Bushaltestelle unter, als so ein kleines, weißes Gefährt neben mir hält. Das Dach wird hochgeklappt und mir schauen entgegen: eine Frau und ein Mann – es ist Thomas, genannt das Rücklicht. Twike, sagt er, heißt das Ding, in dem sie sitzen, eine Art doppeltes Liegerad mit Dach, Scheinwerfern, Hupe und sogar einem Motor. Etwa auch mit Minibar?
Daheim merke ich, dass irgendwas am Hinterrad schabt und kratzt. Also Ritzelpaket runter, alles noch mal säubern, fetten. Und? Besser? Ja, nee, weiß nicht. Aber das mit der Schaltung funktioniert nicht, obwohl ich eine Stunde fummele und mache. Dann keine Zeit mehr.
Abends bei Horst und Sabine. Ich erzähle Pauline, dass ich gerade in den Nachrichten gehört hätte, die Eintracht müsse nun doch in die zweite Liga, weil ein Spiel manipuliert worden sei und deshalb ein Zwangsabstieg verfügt wurde. Einen Moment lang glaubt sie es, lacht unsicher, schaut entsetzt …
Sonntagmorgens eine Mail von Ati: Kurzfristige Ausfahrt, neun Uhr Treffpunkt in Seckbach. Aber das ist ja schon in zwanzig Minuten. Rufe an, ok, Jörg und er kommen her, dann hab ich noch eine Viertelstunde mehr. Schnell die Eastons runter und die Mavics wieder drauf, Schaltung einstellen, funktioniert tadellos. Wir rollen nach Bad Homburg, wo wir Karsten mit seinem Crossrad abholen. Dann übers Köpperner Tal hoch zum Bundeswehrdepot und auf der anderen Seite runter nach Wehrheim, zur Saalburg, wieder nach Bad Homburg, Fototermin vor einem Geschäft mit dem Namen „Moskau“. Weiter durch die Wetterau. Schöne lockere Runde. Neunzig Kilometer. Nachmittags wieder endlose Schrauberei. Bringt alles nichts. Entnervt bestelle ich mir ein Ultegra-Verschleißset mit Ritzelpaket und Kette.
Tot sind der Raubritter mit dem schönen Namen Eppelein von Gailingen, der Maler Kasimir Malewitsch, der Sexualforscher Magnus Hirschfeld, der Maler Edward Hopper, der Schriftseller Bernward Vesper und der Quälgeist Ernst Mosch.
Samstag, 13. Mai 2006 – Dreiuhrsechsundvierzig, siebzehn Grad. Kurz nach zwei aufgewacht. Hab ja geahnt, dass mich diese Geld- und Paragrafensachen wieder nicht schlafen lassen. Jetzt regnet es. Paula kommt schlaftrunken ins Arbeitszimmer gestapft und will ihren Finger neu verbunden haben.

Gestern Anruf Peter Brunner, ob ich gemeinsam mit Justizministerin Cypries die Präsentation des Kollektivkrimis übernehmen möchte. Dabei stellen wir fest, dass Brunner ein alter Freund von Rainer D. ist, an den ich gerade eine Mail schreibe wegen Norringtons Einspielung von Mahlers Erster. Lustig. Oder auch nicht … Gerade läuft Eisslers Orchestermusik, Gott, wie gut diese kleinen B&W-Lautsprecher klingen.

Zum Bahnhof. Eine Hitze ist das. Der Zug aus Mannheim hat Verspätung. Alex ist auf dem Weg ins Sauerland zu einem Sippen-Treffen, macht Zwischenstopp – Bundeswehrrucksack, zwei Mavic-Laufradtaschen. Wir gehen zum Auto, kurzer Blick auf die Easton-Räder, dann kommen sie in den Kofferraum. Wirkt wie ein illegaler Parkplatzdeal. In die Kaiserstraße zum Cola trinken. Wieder zu Hause wird das Ritzelpaket gesäubert, ich baue die Räder ein, sehen schick aus, aber keine Zeit zu fahren. Kochen, essen, dabei unentwegt Telefon, hinterher Günthersburg-Park. Daheim: Mist, der Schlauch des Hinterreifens hält die Luft nicht. Also wechseln, aber was für ein Gewürge mit diesen hohen Aero-Felgen.

Todestag von Gisela Elsner, die sich am 13.Mai 1992 aus dem Fenster ihrer Münchner Klinik stürzte.

Freitag, 12. Mai 2006 – Sechsuhrfünfundvierzig, vierzehnkommaeins. Im Hintergrund Boccherinis Cello Sonaten.

Traum: Ein Rabe kreuzt von links nach rechts im Tiefflug die Straße. Versuche noch auszuweichen, aber das Tier, ungeübt im Straßenverkehr wie es ist, fliegt mir direkt in die Speichen des Vorderrads, verfängt sich darin, wird herumgeschleudert, bis ich endlich zum Stehen komme. Da liegt der Vogel auf dem Boden, schlägt mit den kaputten Flügeln und schreit und schreit. Bis ich auf seinen Hals trete, damit er tot ist und ruhig.

Gestern gar keine Lust zu fahren. Aber wenn das erst die Frage wird, Lust … Man fährt immer, das andere sind die Ausnahmen. Trotzdem war die Tour entsprechend – noch schlechter als am Dienstag. Echter Absturz der Form.
Tote des Tages: Der Komponist Bedrich Smetana, der Maler und Holzschneider HAP Grieshaber, die Historikerin Renate Riemeck, Pflegemutter von Ulrike Meinhof.
Donnerstag, 11. Mai 2006 – elfuhrzwanzig, achtzehnkommasieben Grad.
Am Dienstag Hausstrecke mit müden Beinen. Zäh, das Ganze, schwerfällig. Der Schnitt wird nicht verraten. Petacchi hat sich beim Sturz die Kniescheibe zertrümmert.
Abends mit M. in der „Nr.16“, einst Stammlokal der Frankfurter Grünen-Prominenz. Der Wein wird gebracht, die Gläser randvoll, und sofort hat das weiße Tischtuch rote Flecken. „Isse so Tradition bei unse inne Sardinien“. Na dann. Was für ein Klotz dieser Wirt aber auch ist, mit seinem rasierten Kugelschädel und der ewig brummigen Visage. Dann kommt er noch mal zurück und erklärt die Flecken: der große ist Sardinien, die kleineren irgendwelche umliegenden Inseln, der allerkleinste ist Italien. Wie oft er den wohl schon zum Besten gegeben hat.
So geht Glück: Gestern Morgen in der Kronberger Stadthalle öffentliche Proben bei den Kammermusiktagen. Fünfzehn, zwanzig Leute schauen und hören zu wie Gidon Kremer und der Klarinettist Eduard Brunner mit sechs jungen Musikern Schuberts Oktett einstudieren. Die Junioren sind allesamt Preisträger wichtiger internationaler Wettbewerbe, spielen ihre Instrumente zumeist schon zehn, fünfzehn Jahre, trotzdem gibt es hier keine Allüren, keine Eitelkeiten – nur konzentrierte Arbeit und Spielfreude. Und zwischendurch immer wieder schnelle Blicke hin und her, ein kurzes Lächeln, wenn wieder eine Passage gelungen ist. Nach einem längeren Dialog zwischen Cello und Klarinette fragt Kremer den Bläser, was er für Änderungswünsche an die Cellistin Marie-Elisabeth Hecker habe. Brunners Antwort: „Was soll ich denn dazu sagen? Es ist einfach wunderbar gespielt.“ Nach zwei Stunden: Pause, dann weiter mit Schostakowitschs Trio für Piano Nr.2.
Wieder mit Hecker und der Geigerin Alissa Margulis. Pianist ist der 83jährige Menahem Pressler. Pressler wurde 1923 in Magdeburg geboren, ist 1938 mit seiner Familie nach Palästina geflohen und gründete in den fünfziger Jahren in den USA das Beaux-Arts-Trio. Ein kleiner runder Mann, energisch, vital, sehr bestimmt: „Sie sollen nicht singen mit ihrer Geige, Sie sollen beten … Hier stirbt jemand, und Sie versuchen, es mir gemütlich zu machen…Schreien Sie! … Was war das jetzt? Ich höre etwas, aber ich spüre nichts. Sie spielen nur mit den Händen. Ich will Ihre Gedärme spüren und keine schönen Töne hören … Was ist? Tun Ihnen die Finger weh vom Zupfen? Dann nehmen Sie eine Wurzelbürste und schrubben so lange über die Fingerspitzen bis die eine Hornhaut haben … Was heißt hier, das können Sie nicht spielen? Schostakowitsch hat es aber gewünscht, also sollten wir es wenigstens versuchen …Ich will pawumm, pawumm hören, nicht dawimm, dawimm!“ Am Ende steht er auf und bedankt sich bei den beiden Musikerinnen: „Seien Sie beruhigt: Was wir hier machen, wird wunderschön werden“. Und Hecker spielt nach dem berückend-melancholischen Schubertschen Wirtshausgeschrammel auch dieses todschwere Stück mit einer solchen Inbrunst und zugleich mit so überlegener Beherrschung des Instruments, dass man fast ein wenig Angst um sie bekommen könnte.
Am 11.Mai 1920 wurde Giacomo Colosimo, genannt „Big Jim“, in New York erschossen. Er war Chef der Unterwelt von Chicago und Vorgänger von Al Capone, der zu den Auftraggebern dieses Mordes gehörte.
Dienstag, 9. Mai 2006 – Fünfuhrvierzig, dreizehnkommachtGanzen Tag Hin und Her, Gefummel, Gewerkel gestern. Schneller Einkauf, schnelle Mails, was ist jetzt schon wieder mit dem Fahrradcomputer, hoffentlich nur die Batterie – aber welche? Also los zu dem kleinen Türken an der Höhenstraße. „Ich habe alles“, sagt er, „und alles günstig“. Einsfünfzig.
Das Bild ist da, Anette bringt es grinsend runter. Gott, wie riesig. Aber schön.
Will die Wandhalterung der kleinen Lautsprecher abschrauben, geht nicht, also aufstemmen, faustgroße Löcher in der Wand, wieder losfahren, Gips und Kleister kaufen. Mit zwei Packungen Füllspachtel glätten, tapezieren, streichen.
Von Ingo keine guten Nachrichten, will sich noch diese Woche mit uns treffen, um über „Tage und Nächte“ zu sprechen. Aber abends öffne ich dann das Päckchen von RB mit seinem Tagebuchtext; lese das beigelegte Kärtchen: er ist in Russland, also geht es diese Woche nicht.
Auf der Homepage der Kronberg Academy werden die öffentlichen Proben erst ab Mittwoch angekündigt … Was heißt jetzt das wieder? Na ja, hab ja eh keine Nachricht aus der Redaktion. Ob mein geplantes Porträt der jungen Cellistin niemanden interessiert? Sie werden alle bereuen, nicht die ersten gewesen zu sein.
Und dann erfährt man auch noch aus den Nachrichten, dass dieser windige Stefan Schumacher Tagessieger beim Giro d’Italia geworden ist …
Manchmal bilden die Toten eines Tages eine bemerkenswerte Gesellschaft – heute: Friedrich Schiller, Ulrike Meinhof, Aldo Moro, Nelson Algren.
Montag, 8.Mai 2006 – Vierzehnuhrachtundreißig, vierundzwanzigkommafünf.
Gestern morgen um acht Abfahrt mit zwei Autos und vier Rädern nach Hattersheim/Kriftel. Dort Start auf dem Gelände einer Farbenfabrik. Erstmal durch ödeste Industrielandschaften östlich von Wiesbaden. Ein Liedchen singend drehen Lutz und Jörg in Niedernhausen ab, um die 70-Kilometer-Runde zu fahren. Alex und ich strampeln weiter in den Maingau-Taunus-Kreis. Mit jedem Ort, den wir durchfahren wird die Gegend schöner, deutscher, märchenhafter. Ständiges Auf und Ab, eine Achterbahn. Das alles hat nichts mehr mit Frankfurt, mit Großstadt, mit einundzwanzigstem Jahrhundert zu tun. Hügel, Bäche, Täler, Weiden, Flieder, Obstbäume, Ziegen, Schafe, Fachwerk, zum Herzerweichen. Strinz-Margarethä, Hennethal, Ketternschwalbach, Kirberg. Wo sind wir bloß? Hinweisschilder nach Limburg, Runkel, Weilburg. Tenthousand miles from home. Bei Kilometer 94 an der Kontrollstelle Münster hecheln, stöhnen, ächzen wir bereits. Wenigstens gibt es noch ein paar Schmalzbrote. Wie weit denn noch, wie hoch denn noch? „Ohh“, sagt der freundliche Herr, „bis jetzt habt ihr euch warmgefahren, jetzt kommen die Steigungen.“ Es war keine Drohung, sondern die Wahrheit. Ein verfluchter Anstieg nach dem anderen. Wir fantasieren von Jägerschnitzeln und Honigbroten. Dreißig Kilometer weiter ist Alex kalkweiß. Pause, verdammt. Riegel, Gummibärchen, Wasser. Die drei letzten Fahrer überholen uns und rufen: „Die rote Laterne gehört euch.“ Nochmal zehn Kilometer weiter, kurz vor der letzten Kontrolle, gibt Alex auf. Schließlich kommt der freundliche Herr und packt ihn samt Rad in seinen Wagen. Den Rest alleine weiter. Also bin ich nun der allerletzte. Doch ab jetzt geht es nur noch durch die Ebene. Kurz hinter Eppstein auf der langen Geraden sehe ich in der Ferne die drei anderen Fahrer. Ich bolze mich in den Windschatten: „Hallo, die rote Laterne ist wieder da.“ Dann setze ich mich auf die erste Position, in den Wind, und merke nach einiger Zeit, dass wir nur noch zu zweit sind. Vier Kilometer vor Kriftel lässt auch mein Mitfahrer abreißen. Endlich im Ziel. Erschöpft, glücklich und randvoll mit diesem blöden, kleinen Stolz, die drei Hochmütigen doch noch überholt zu haben. Einhundertdreiundfünfzig Kilometer, eintausendsiebenhundert Höhenmeter.
Tot sind: Paul Gaugin, Henning Mankell, schwedischer Komponist und Großvater des gleichnamigen Schriftstellers, Bob Marley, John Fante, Luigi Nono.
Sonntag, 7. Mai 2006 – Sechsuhrsechsunddreißig, dreizehnkommaacht.
Gestern durch die Wetterau, wegen der Umleitung über Bruchköbel werden es 48 km. Starker Wind. Auf der Abfahrt von Bergen Richtung Maintal, wo man sonst auf 55 bis 60 Stundenkilometer kommt, schaffe ich mit Mühen 35 km/h. Reichlich PS-Idioten unterwegs.
Im Autoradio ein Gespräch mit der Sängerin Katharina Frank. Sie sagt, ihre Stimme müsse noch schlampiger, weicher werden. Sie arbeite hart daran. „Oh Gott“, sagt Paula, „schalt das aus, die will sich doch nur selber loben.“
Jeder hat seinen Radius, über den er nicht hinauskommt. Aber selten habe ich jemanden so hartnäckig darüber reden hören wie R., die sich gestern immer wieder die Frage nach ihresgleichen stellte. Die gesamte Umgebung scheint unentwegt auf dem Prüfstand zu stehen: Passen die zu uns, passen die nicht zu uns? Da gibt es den „Chefsektretärinnentyp“, den „Typ Unternehmensberater“, den „Typ Sozialarbeiter“, da weiß man dann schon … Weiß man denn?
Tot sind Caspar David Friedrich, Charles de Coster, Jean Carrière.
Samstag, 6. Mai 2006 – Vieruhrdrei, fünfzehnkommasechs.
Gestern durch die Wetterau, Hausstrecke, aber zwischen Schöneck und Mittelbuchen ist die Straße gesperrt, wahrscheinlich während des gesamten Sommers, fahre trotzdem weiter, um wenigstens bis zur Hohen Straße zu kommen. 42 Kilometer.
Entdecke beim googlen, dass die junge Cellistin Marie-Elisabeth Hecker nach Kronberg kommt, zu den „Chamber Music“–Tagen, rufe sofort dort an, ja, man nennt mir die voraussichtlichen Probentermine, aber alles unsicher. Mail an Claus Spahn, ob ich nicht ein Porträt über Hecker schreiben soll … Keine Antwort.
Philipp erzählte, dass er vor über zwanzig Jahren, als er noch jung und langhaarig gewesen sei, eine Zeit lang in Westberlin gelebt habe und oft in den Ostteil der Stadt gefahren sei. Einmal habe er an einem schönen Tag am Müggelsee in einem Ausflugslokal in der Sonne gesessen und Kaffee getrunken. Den Kellner nach einer Extraportion Milch fragend, habe dieser ihn gemustert und erwidert: „Weißt du was, Junge, wichs dir doch einfach in die Tasse“. Die Gäste rundum an den anderen Tischen hätten statt mit Widerspruch mit Gelächter reagiert. – Ein Staat, in dem sich so etwas abspielen kann, verdient nichts anderes als unterzugehen. Freilich verdient jeder Staat unterzugehen.
Tot: Alexander von Humboldt, Henry David Thoreau, Helene Weigel, Irmtraud Morgner, Marlene Dietrich, Pim Fortuyn.

Freitag, 5.Mai 2006 – Dreizehnuhrfünf, einundzwanzigkommavier. Gestern Hausrunde mit kleinem Schlenker über Seckbach. Das Rennen steckt noch in den Knochen, nein, eher in den Muskeln. Warum sind heute lauter schwarzgekleidete Frauen mit ihren kleinen schwarzen Hunden unterwegs? Alles Witwen, Trauernde? Und viele Schwangere, junge Mütter mit Kinderwagen. Na, das ist ja immer im Frühjahr so … An der Bushaltestelle in Bornheim gegenüber der Agip-Tankstelle: zwei dicke Frankfurter Krähen in dieser trögen Rentnerinnen-Kleidung, die zu sagen scheint: Hauptsache, nicht auffallen. Daneben zwei etwas jüngere, aber ebenso dicke Musliminnen mit Kopftüchern und in langen Für-die-Jahreszeit-zu-warm-Mänteln, die zu sagen scheinen: Hauptsache, nicht integrieren. Aber diese vier unterhalten sich angeregt, lachend, scheinbar entspannt. Nur aus dem Augenwinkel im Vorbeifahren sehe ich für eine Sekunde die Szene und erwische mich, wie ich den Satz denke: „Na also, geht doch!“

Tot sind: Napoléon Bonaparte, Ludwig Erhard, Wolfgang Neuss
Donnerstag, 4. Mai 2006 – Fünfuhrsechsundvierzig, fünfzehnkommaein Grad.
Mit M. unterwegs wegen der Verfilmungspläne. Ja, freilich, größtes Interesse an der „Braut im Schnee“, aber erst einmal müsse man jetzt abwarten, was Färberböck aus „Ein allzuschönes Mädchen“ mache. Aber wie mich das alles anmacht und erschöpft, diese ganze Branche, diese Mischung aus Eigeninteressen, Nebenabsichten, Faulheit, Eitelkeiten, Feigheit, Scheeläugigkeit, bea
mtenhafter Zähigkeit. Wie lange da alles dauert, keiner weiß etwas, niemand entscheidet etwas, ständige Vertröstungen, Entscheidungen werden revidiert, die Revision wird zurückgenommen … Immer gibt es noch Vorbehalte, die Quote, die Werbepartner, das Senderprofil, die Redakteurin, deren Chef … Aber alle duzen sich, lachen sich ins Gesicht, sind toll drauf … Geplapper und Schweigen, Schweigen. Bin wie erschlagen, den ganzen Tag schlechte Laune. Zum hundertsten Mal schwöre ich mir, jeden Kontakt mit diesem Wahnsinn zu unterlassen.
Im Tengelmann packt mich eine hohe Stimme im Nacken. Klar, es ist der kleine Typ mit Vollglatze, den im Viertel alle Löckchen nennen. Er hat mich gesehen, im Fernsehen, “unser radelnder Krimigoethe”, sagt er. Jeder der schreibt, ist Goethe; jeder der malt, Picasso. Und Schauspieler werden, wie man seit Peter Kuper weiß, in dieser Stadt grundsätzlich ‘Hamlet’ genannt. Nebenbei parliert Löckchen mit den Verkäuferinnen, immer wieder höre ich sein keckerndes Lachen. Vor der Tiefkühltheke treffe ich ihn wieder: Er sei bekennender Psychopath, nicht verrückt, aber krank, erblich belastet von Vaterseite her, zwei seiner Schwestern im Euthanasieprogramm der Nazis umgebracht, der Vater Musiker, Akademiker, kluger Kopf, aber leider etwas neben der Spur, wie er selbst nun eben auch, das habe er schriftlich. „Der Mensch zwischen Harmonie und Chaos“, kluges Buch, solle ich mal lesen, von einem gewissen Walter Birkmayer, DOKTOR Walter Birkmayer, ein Wiener, wie die meisten Großen seines Fachs, sagt er, Freud, Adler, Jung, er kennt sie alle, Juden zumeist … Beim Bezahlen sehen wir uns ein drittes Mal. Er steht zwei Kassen weiter und blinzelt mich unter dem Schirm seiner Baseballkappe an, dann reißt er eine Zeitschrift hoch, es ist der „Spiegel“, auf dem Titelblatt ein Bild von Freud. Und wieder schickt er sein schrilles Keckern in den Tag, plaudert sogleich mit der Kassiererin, hilft der Dame hinter sich beim Einpacken ihrer Ware. Ob sie ihm denn dafür ihre „Herzchen“ solle, die Rabattmarken, die es hier gibt? Aber gerne, sagt er, jedoch nur, wenn er im Gegenzug ihr sein Herz schenken dürfe … Vielen Dank, erwidert die Dame, aber ich fürchte, das ist mir zu groß … Ein letzter, rascher Blick herüber … Kecker, kecker, kecker …
Tot sind Carl von Ossietzky, George Enescu, Josip Tito.
Dienstag, 2.Mai 2006 – dreizehnuhrneunundfünfzig, siebzehnkommasieben Grad.
Gestern das Henningerturmrennen. Treff der Lokomotive Rotes Ritzel um 8 Uhr an der Deutschen Bibliothek. Kalt. Und schon ärgere ich mich, dass ich nur die kurzen Hosen angezogen habe. Naja, Hauptsache die Beine sind frisch rasiert. Durch die noch leere Stadt sechzehn Kilometer zum Main-Taunus-Zentrum. Vor dem Kinopolis Aufstellung zum Foto. Alle sind fickerig vor Aufregung. Über dem Taunus dunkle Wolken. Aufstellung in den Startblöcken, zwischen Metallgittern eingepfercht. Dreitausenddreihundert Teilnehmer. Ach du Mist, das wird eine Hatz. Warten, frieren, Palaver, ein bisschen Anmache und Materialvergleich. Blöde Technomusik und ein nerviger Sprecher durch den Tour-Lautsprecher.
Schon kurz nach dem Start sind nur noch Atilla und ich zusammen, reihen uns in ein Band etwa gleichstarker Fahrer ein, forcieren immer mal wieder, und merken nach zwanzig Kilometern, dass wir aufpassen müssen, uns nicht zu übernehmen. Kraft einteilen! Die „Hölle von Epstein“ kommt näher, eine steile, kurze Rampe, bei der schon einige absteigen und schieben. Bloß rasch eine Lücke finden, um nicht aus den Pedalen zu müssen. Wir kommen gut hoch. Steile Abfahrt, und schon hören wir das Martinshorn des ersten Notarztwagens. An den Rändern bereits Pannen. Wieder geht es bergauf, ein junger Schnösel auf teurem Gerät blafft einen älteren Mann an, der vor ihm fährt: „Na Alter, dreifach wär wohl doch besser“. Kurz darauf überhole ich den Schnösel: „Na Junge, dreifach wär wohl doch besser!“. Vor dem Ruppertshainer Berg haben wir einen Schnitt von 31 Stundenkilometern. Wenn jetzt nichts passiert, kann uns nichts mehr passieren. Hoch jetzt, oben winkt und ruft uns Joebucks Freundin zu, wie klasse das ist, die letzten kleinen Steigungen überstehen, dann hängen wir uns an eine Gruppe und bleiben dran bis zum Henningerturm, wieder bergab und stadtauswärts, flach und bolzen, einfach weiter, durchhalten, durchkommen, dranbleiben. Ausgepumpt die letzten Meter, wir reichen uns, grinsend, im Ziel die Hände. Das war’s. Was für ein irrwitziges Glücksgefühl.
Wieder Treff vor dem Kinopolis. Alex hat als erster das Ziel erreicht, jetzt steht er da, schweigsam, sein Gesicht weiß und salzig wie eine Saline. Er habe sich im Fahren vom Rad aus erbrochen, einfach so, in den Straßengraben und weiter. Dann auf der gemächlichen Rückfahrt in den Frankfurter Norden merke ich erst, wie sehr mein Hintern schmerzt, alles wund, und ich schwöre mir, nun doch die teuren Assos-Hosen zu kaufen.
Später im „Rad“ in Seckbach große Ritzelrunde, wie schön, wie glücklich und immer noch aufgekratzt alle sind. Alex, unser stummer Stolz, hat einen Schnitt von fast 37 km/h geschafft, Atilla und ich sind immerhin auf 33,5 gekommen, und damit sogar noch fast einen Kilometer besser als im vorigen Jahr.
Wer heute tot ist, ist mir mal egal.
Montag, 1. Mai 2006 – Fünfuhrfünfzehn, siebenkommaneun.
Am Freitag windige Tour in die Wetterau bis zur Ronneburg. Nirgends kommt mir Deutschland deutscher vor. Diese Festung auf dem Hügel, die kaputten Fachwerkdörfchen rundum, die Namen der Ortschaften, das Restaurant heißt: „Deutscher Hof“, ein Hinweisschild zur „Falknerei“ und eins zum „Judenfriedhof“. Wenig Menschen, schnelle, aufgedrehte Autos, hölzerne Kreuze an den Rändern, manchmal nabelfreie Mädchen, schielen, drehen sich weg, kichern. Und der Frühling macht seine Sachen. Auf dem Rückweg, in Bruchköbel ,kann ich dann sogar Armlinge und Beinlinge abstreifen. Ja, Leute gafft doch nicht so schamlos. Achtzig Kilometer.
Abends mit Christiane, Jürgen und Philipp ins Restaurant „Zum dicken Fritz“ am Bornheimer Markt. Ochsenbrust mit grüner Soße. Halbgetäfelte Wände, Resopaltische, Plastikdeckchen, Plastikblümchen im Keramikväschen, aber alles ehrlich, echt, verbindlich, verschmiert, ein Familienbetrieb – wie es die kühlen Rechner mögen, Holzauge, da kriegste noch was für Dein Geld. War’s denn recht so? Feuchtes Lächeln. Dann noch zum Schöneberger, hier, am oberen Ende, spielt die Bornheimer Jugend Schwabing, Leopoldstraße, Gel in den Haaren, Küsschen, Küsschen, lachen, Zähne zeigen, ciao, ciao, ich bin der Jens, hi, Küsschen. Kein Platz, no problem, klar könn’ Sie’n Kaffee haben, ha, wass denn sonst? – wo noch jede Freundlichkeit wie eine Unverschämtheit klingt.
Samstag verdämmert, kalt, windig. Während des Pilzeputzens, Knoblauchschneidens, Petersiliehackens bisschen in die Tour de Romandie, aber unkonzentriert. Und nebenbei wehen immer die Zustandsberichte über Jan Ullrichs körperliche Verfassung ins Ohr. Wieviel Rückstand? Wird er im Limit bleiben? Desaströs, ein Bild des Jammers. Alles Quatsch. Dann ruft Anette an und erzählt, dass FM jemanden suche, der einen Roman oder ein Drehbuch über das andere, das gute Frankfurt und seine Geschichte schreiben wolle. Hat nicht Nadolny im Auftrag von Ullstein …, Mendoza über Barcelona … Ja, da müsste man einen Stadtarchivar zum Helden nehmen, der entdeckt ein altes Dokument, eine Geschichte kommt in Gang … Verwicklungen, Intrigen, Leidenschaften … ahh. Das man noch ins Sprudeln komme vor Phantasie.
Um halbsechs klingelt Jürgen, dann Thomas. Zu viert ins Auto nach Gießen, wo im Stadttheater Philipps Neufassung des „Menschenfeind“ uraufgeführt wird. Wir gehen rein, der Schauspieldirektor begrüßt, aber alles verdrückt, verdruckst, niemand kümmert sich um den Autor, da wird man so stehen gelassen, so weggeschickt. Ja, wir können ja nach oben gehen, noch einen Schluck trinken. Aber auch da kommt dann niemand. Eigentlich alles eine Unverschämtheit, schlechtes Benehmen, dass sich als Lässigkeit tarnt. Kein Milieu ist uneigentlicher, verlogener als diese Theaterleute. Eine Mischung aus Kindergarten, Irrenhaus und Zuchtanstalt. Scheeläugig, schiefmäulig, abgestanden monarchistisch, vordemokratisch. Vor allem schmuddelig. Wenigstens ist Uwe Lischper mit den Seinen da, so dass man einen Anker für die Seele hat. Philipp hatte modern reimen sollen, hat dem Text einen Rap-Sound gegeben, aber inszeniert ist alles konventionell, also werden die meisten Pointen verpatzt, weil viel zu langsam gespielt wird, auch viel zu knallig. Hätte man das Tragische der Figuren stärker betont, dann hätte auch das Komische komischer gewirkt. Da hat mal wieder jemand gar nichts verstanden. Spaß macht aber der Sänger, der die Figur ganz auslotet; und endlich erkenne ich, dass es Christian ist, der vor knapp zwei Jahren moderiert hat, als Nemec und ich in dieser Sparkasse hier das „allzuschöne Mädchen“ vorgestellt haben. Später erfahre ich, dass ausgerechnet der beste Schauspieler des Abends seinen Vertrag nicht verlängert bekommt, weil er Ensemblesprecher war und sich mit der Intendantin angelegt hat, so eine vollkommen kommunikationsunfähige Person, grau, unfreundlich, maulfaul, stur, herrisch, die später, nach der Vorstellung wieder alle nur rumstehen lässt, sie, die doch die Gastgeberin des Abends ist … Was für Krücken, ach, was reg ich mich auf. Dass sie aber auch noch nicht mal Umgangsformen gelernt haben … Mit den Lischpers ins Kult, müde, zurück, halbdrei in Frankfurt.
Sonntag. Bringe Philipp zu seinem Bus am Bahnhof. Das Schwarze muss noch für morgen geputzt werden. Dann aufs Weiße, so bisschen an den Rändern des Taunus entlanggezockelt, um fünf ins Main-Taunus-Zentrum, auf der Zufahrt zum Dorint-Hotel kommt mir Biker entgegen im neuen blauen Touran, mit Anzug und Krawatte. Dann auf dem Parkplatz Pepper, Rascel und Atilla. Rein zur Nudelparty. Schon von weitem riecht hier alles nach Aldi-Bolognese, ein Saal, Stehtischchen, erstmal zur Anmeldung, Startnummer abholen, Transponder, dann essen, trinken, Henninger-Radler, was denn sonst. Alex erkennt diesen bayerischen Türken, der den Ironman auf Hawaii gewonnen hat, Christian geht hin und lässt ihn auf dem Ritzelschild unterschreiben. Lustige Rückfahrt, aber todmüde. Trotzdem noch ein wenig Brahms, Sinfonie Nummer 3, die DVD mit den Stuttgartern unter Norrington. Dann, zum Vergleich, eine Aufnahme aus den frühen sechziger Jahren unter Scherchen. Gefällt mir deutlich besser, zugleich leidenschaftlicher und analytischer. Was man so sagt.
Tot sind Antonín Dvorák, Joseph Goebbels, Aram Katschaturian.