Geisterbahn

Freitag, 26. Juni 2009 – Dreiuhrsechsundünfzig, fünfzehnkommavier Grad. Seit kurz nach drei an Deck. Nervenzittrig zwar, aber was soll’s. Michael Jackson ist tot. Als Tribute “Thriller” auf Youtube angeschaut.

Gestern – auf meiner Morgenrunde – sehe ich in Niedererlenbach eine Frau am Straßenrand in der Sonne stehen. Es ist O. Sie ist vollkommen überrascht, lacht, wir freuen und umarmen uns. Drei Minuten später fährt U. mit einem weißen Sportwagen vor. Auch er geradezu perplex, was denn ich hier und um diese Zeit … ? Die zwei wollen für drei Tage nach Prag, sind gerade dabei, in den Wagen zu steigen … Kurz darauf halte ich noch einmal, nun schon am Ortsrand von Massenheim, und winke den beiden Vorüberfahrenden in ihrem schicken Mercedes zu.

Gestern Abend Suche im Netz nach Zitaten aus Fernsehserien. Aber ist ja gar kein Problem, gibt ja ganze Foren und Seiten, die nichts anderes tun, als witzige Dialoge sammeln … Ist eben doch ein Problem, weil die Sammler oft solche Stumpfköpfe mit einem solch schlechten Geschmack sind, dass sie nicht einmal merken, dass die Pointen, die sie ihrer Leserschaft apportieren, schriftlich gar nicht funktionieren können oder so alt sind, dass sie nicht mehr witzig sind oder so doof, dass sie nie witzig waren. Aber unter Garantie finden sich ein paar amüsierwillige Forumsnasen, die ihnen als Dank ein “Geil!”, ein “Supi!” oder gar ein “Endgeil!” zurufen.

Als Krimiautor müsste man eigentlich Spezialist für alles sein. Da man das nicht kann, muss man ständig Leute fragen, die es besser wissen als man selbst. “Eigentlich solltest Du je einen Mediziner, einen Kriminalisten und einen Juristen an Deinen Schreibtisch ketten.” Gute Idee, nur: irgendwer müsste ja auch Fütterung, Pflege und Unterhaltung übernehmen …

Und jetzt, um vieruhreinundzwanzig, dämmert’s schon.

Gestern Volker Weidermanns Text über Tellkamps Debütroman gelesen. Zwei Dinge gelernt: 1. Weidermann kann besser schreiben und ist intelligenter, als ich dachte. 2. Tellkamp ist ein noch größerer Schmock als längst befürchtet.

Von F. der Hinweis auf Moritz Hunzingers Stadthaus in der Wielandstraße 3. Anschauen! Von S. der Hinweis auf einen verkommenen Campingplatz in Heddernheim. Anschauen! Und: “Zum blauen Wasser” in der Franziusstraße.

Ein bißchen über Hunzinger im Netz gelesen. Eine Figur wie aus einem Roman von Zola oder Maupassant. Sollte ich eigentlich kennen lernen.

Heute vor sechsundfünfzig Jahren starb in Uetersen der Rosenzüchter Mathias Tantau.

Sonntag, 21. Juni 2009 – Sechsuhrneununddreißig, dreizehnkommadrei Grad. Bewölkt. Gerade kommt der Brötchenbringservice. Aber nicht zu uns.

Nach dem neuerlichen Konflikt mit G. gestern Mittag mit nachhaltig schlechter Laune alleine auf dem Olmo losgefahren. Dann aber sah ich, als ich sehn anfing, lauter lustige Leute: Ein älteres Paar, das mir von dem Goldfasan auf dem Hauptfriedhof erzählt. An der Ampel ein kleines türkisches Mädchen, das mir vom Arm seines lachenden Vaters zulacht. Und S., die ihre weißen Zähne zeigt und mir nachruft: Strampel für mich mit, dann kommst du wieder runter!”

Vorgestern im Günthersburg-Park. Während die Eröffnungssängerin von “Stalburg Offen Luft” auch ihren zehnten Song einem “Babybabybaby” widmet, wispert uns eine Bekannte ins Ohr: Ob wir schon gehört hätten, ob es nicht unfassbar sei, der Park sei abgesperrt worden, durchsucht, eine Leiche gefunden, ohne Arme, ohne Beine …” Immer wieder prüfe ich seitdem die Nachrichten der Frankfurter Polizei – nichts, noch nichtmal ein Fuß, noch nichtmal ein Finger, ein Zeh … So etwas gibt’s eben doch nur in Wien: abgeschnittene Leichen in öffentlichen Parks.

Schöner Übergang. In Wien sind am 13. Juli 1989 drei Kurden in einer Privatwohnung ermordet worden. Die Täter waren vermutlich Iraner. Sie tauchten in der iranischen Botschaft in Wien unter und durften schließlich auf massiven Druck Teherans ausreisen. Jetzt kursiert das Gerücht, einer der Täter sei der heutige iranische Präsident  Mahmud Ahmadinedschad. Dass das Gerücht allerdings ausgerechnet jetzt laut wird, hat wohl auch etwas zu bedeuten.

Heute vor zwei Jahren ist Georg Danzer gestorben. Angeblich nicht in Wien. Dort aber gibt es, auf Beschluss des Gemeinderatsausschusses für Kultur und Wissenschaft seit März 2009 den Georg-Danzer-Steg.

Dienstag, 16. Juni 2009 – Fünfuhrzwölf, zwölfkommazwei. Nahezu hell.

Um halbdrei aufgewacht. Wie so oft die nächtliche Frage: Cappuccino oder Baldrian? Und wie so oft entscheide ich mich für den Kaffee. Weiter in Grishams “The Pelican Brief”.

Am Samstag in “Orfeos Erben” die Preisverleihung an Hans-Christian Schmid und Bernd Lange für das Drehbuch von “Sturm”. Dann der Film. Bin voller positiver Vorurteile, aber am Ende tief enttäuscht. Läuft alles wie am Schnürchen, eine Dramaturgie wie ein gut geöltes Uhrwerk. Ein Politthriller in Hollywood-Manier. Ja, ja, ganz gut gemacht. Aber so glatt, dass meine Aufmerksamkeit ständig abrutscht. Anamaria Marinca allerdings ist eine Riesen-Entdeckung, hat was von der jungen Jean Seberg. Und Philipp kennt sie bereits, hat in London mit ihr Kaffee getrunken.

Martin Wuttke bringt am Berliner Ensemble Ernst Jünger auf die Bühne und kommt dafür ins Fernsehen. Zu sagen hat er nichts, formulieren kann er’s auch nicht. Was für eine schmuddelige Figur. Unglaublich, wie viele stammelnde Idioten das Theater sich leisten zu können meint.

Nicht vergessen: “The Wire” – wenigstens die erste Staffel anschauen! Soll hier auf Fox-TV gelaufen sein. Nie zuvor von gehört.

Todestag hat Ruedi Walter, der 1990 in Philipps “Bingo” mitgespielt hat.


Donnerstag, 11. Juni 2009Zehnuhrfünfundvierzig, siebzehnkommaneun. Windig, regnerisch, wolkig. Lange, gut, tief geschlafen.

Unter dem Titel “Die Revolution der gebenden Hand” publiziert die FAZ ein liberalistisches Manifest von Peter Sloterdijk, in welchem dieser die Welt verschieden interpretiert, um deren Zustand weder zutreffend beschreiben noch dadurch gar in Frage stellen zu müssen. Der Autor bedient sich dabei zweier zentraler Tricks:
1. Sloterdijk stellt die – im Grunde recht leidenschaftslose – materialistische Gesellschaftsanalyse als das Hirngespinst romantisch-verblendeter Habe- nichtse dar und verschweigt damit Marxens Loblied auf den Kapitalismus und die Segnungen der bürgerlichen Gesellschaft, sowie dessen Spott, mit dem er die idealistischen Weltverbesserer bedachte.
2. Sloterdijk reduziert die weltweite Ökonomie auf die Steuer- und Kreditwirtschaft und verschweigt damit, wie Werte entstehen, was mit ihnen geschieht und welche Verwerfungen das hervor ruft.
Wem er sich nahe fühlt, verrät der Autor quasi unter der Hand: “Inzwischen hat man sich längst an Zustände gewöhnt, in denen eine Handvoll Leistungsträger gelassen mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet.”  Wohl kann man ein Budget kaum “bestreiten”, alles andere an diesem Satz aber wohl.
Sloterdijk simplifiziert, um die gängigen Ressentiments seiner Klientel zu nutzen und kompliziert, um deren bewunderndes Staunen wach zu halten. Um dauerhaft Zustimmung zu erlangen, muss er die Dummheiten seiner Leser bedienen und dabei gerade so schlau klingen, dass nicht jeder hergelaufene Generalsekretär es hätte selbst formulieren können.
Sloterdijks verschämter Aufruf zum fiskalischen Bürgerkrieg ist gar so ernst nicht gemeint, imitiert aber den Carl-Schmittschen Gestus, um den herrschenden Eliten ihren Spaß an der Unverschämtheit zurück zu geben. Insofern ist sein Furor eher ein Pop-Phänomen als eine Anfeuerung zum Handeln, sein Text kaum mehr als Begleitmusik zum privilegierten Muckertum.
Peter Sloterdijk ist der DJ der Generation Westerwelle, nicht unwahr- scheinlich sein Auftritt als Königspudel beim nächsten Dreikönigstreffen. Ob die FDP den Text ihres Kopflangers als Anzeige bezahlt hat, wird noch zu recherchieren sein.

Kerenski ist tot. Aber erst seit 1970.


Mittwoch, 10. Juni 2009Dreiuhrachtundvierzig, zwölfkommaneun. Dunkel. Seit drei an Bord.

Immer dieses ungläubige, fast beleidigte Staunen, wenn ich abends die Online-Nachrichten angeschaut habe und fünf, sechs Stunden später, nach dem Aufstehen, dort immer noch die selben Schlagzeilen lese. Nixpassiert?

Vor fünf Tagen hat mir Apple ein runderneuertes MacBook Air zum selben Preis verkauft, zu dem ich seit gestern ein neues bekommen würde. Wie nennt man das …?

Gestern unzufrieden mit dem Tagwerk, dann abends, kurz vor dem Einschlafen doch noch ein paar gute Notizen.

Kleiner Schrecken, als ich sehe, dass die “Akte Rosenherz” bei den Internet-Buchhändlern bereits angekündigt ist.

Jetzt, um vieruhrneunzehn, dämmert es bereits heftig. Samt Vögeln undsoweiter …

Florian Geyer ist tot. Fassbinder auch. Jahrestag des Massakers von Lidice. Jahrestag des Massakers von Oradour-Sur-Glane. Jahrestag des Massakers von Distomo.

Freitag, 5. Juni 2009Fünfuhrsechs, neunkommazwei. Wolkig, frisch. Soll regnen.

Seit halb vier wach und gleich weiter in Peters neuem Roman. “Die Ängstlichen”. Es verstärkt sich der Eindruck, dass ihm etwas ganz Besonderes gelungen ist. Das sind die Geschichten, die ich schon immer von ihm lesen wollte und die niemand sonst erzählen kann.

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass nicht von je anderen Anrufern der Vorschlag kommt, man könne doch dies und jenes mal “in aller Ruhe bei einer Tasse Kaffee” besprechen. Allein die Formulierung löst bei mir inzwischen panikartige Fluchtbewegungen aus. “In Ruhe bei einer Tasse Kaffee” – ja, mein Gott, was stellen die Leute sich eigentlich vor, wie man seine Tage verbringt.

Das Telefon klingelt. Ich habe den Hörer noch nicht abgenommen, zapple aber schon vor Ungeduld, das Gespräch wieder zu beenden.

Auch die Frau von der Versicherung, meine neue Kundeberaterin: Kaum hat sie die ersten Höflichkeitsfloskeln hinter sich gebracht, schon packt sie die Keule aus: “Das sollten wir mal in einem persönlichen Gespräch …” – Ja, sage ich, gerne, aber frühestens im Herbst, im Moment habe ich keine Minute Zeit. – Eine Information, die sie zum Anlass nimmt, die Plauderei mit mir auf der Stelle einzufordern: “Gell, Sie sitzen an einem neuen Buch. Sie müssen bald abgeben, gell. Darf man denn schon erfahren … ?” – Zwanghaft bemüht, nicht als die Karikatur des hochmütigen Künstlers zu erscheinen, gebe ich freundlich Auskunft. Gesprächszeit: 12 Minuten, 34 Sekunden. Scheiße.

Heute vor 90 Jahren haben sie Eugen Leviné im Gefängnis München-Stadelheim erschossen: “Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub”.

Pfingstmontag, 1. Juni 2009Siebenuhreinundzwanzig, fünfzehn- kommadrei. So gemischt der Himmel.

Freitag Abend im Berger Kino. Schütter besetzt. Wieder so ein Film, den man am liebsten selbst geschrieben hätte. Kommt natürlich aus Frankreich, weil man hier so etwas Schönes, Einfaches nie machen würde. “Le Premier jour du reste de ta vie” von Rémi Bezançon. Und zwei Tage später ist es, wie C. sagt, als habe man ein paar Leute kennen gelernt und interessiere sich doch nun ziemlich für sie. Stimmt, die Gesichter gehen einem nicht mehr aus dem Kopf und immer wieder sinnt man diesen kleinen Geschichten nach. Die Figuren haben sich ins Herz gesenkt und werden dort bleiben.
So müsste wohl “Tage und Nächte” aussehen, wenn er denn je gedreht würde.

Samstag in die Rhön. Nach Bimbach, die Unterlagen für den Radmarathon abholen. Zur Milseburg und den Tunnel fotografieren, soll schließlich Schauplatz werden. Und dann klickert es im Kopf, wie so oft, wenn man den richtigen Ort gefunden hat. Das Künstlerdorf Kleinsassen könnte eine Rolle spielen, ein ehemaliger Bauernhof voller Kunstwerke …

Sonntag um viertel nach drei aufgewacht, duschen, anziehen, Müsli, zwei doppelte Espressi, dann fährt mich C. von Poppenhausen nach Bimbach. Treffpunkt 5.30 Uhr Gulaschkanone. Keiner da. Aber plötzlich lacht mir Iris entgegen, die ich sicher seit zwei Jahren nicht gesehen habe. Und Gipetto fährt über den Platz, wusste gar nicht, dass er mitfährt. Sie trudeln alle ein: Alex, Christian, Jörg & Jörg, die Altköniginnen, später stößt Luzie dazu … Wir fahren 213 Kilometer durch die Rhön, absolvieren dabei 3500 Höhenmeter, Auge und Magen werden ständig aufs Feinste und bis zum Überdruß verwöhnt, wir haben Spaß, können keinen Meter mehr weiter, würden am liebsten absteigen, aussteigen, aufgeben und fahren selbstverständlich weiter und weiter und weiter. Am Ende: Wundes Glück. Triumphale Hinfälligkeit.

Todestag von Anna Seghers.