Geisterbahn

Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Roman

Samstag, 31. März 2006 – Sechsuhrsiebenundzwanzig, achtkommadrei Grad. Noch dunkel. Draußen Amsel-Song-Contest.

Nach einem Vierteljahr mal wieder in der Stadt – Kleinmarkthalle, Sportarena, Zeil. Die schiere Menge an Menschen bringt mich aus der Fassung. Bin ich denn wirklich schon so jenseits alles Sozialen? Und als mich bei Zweitausendeins an der Kasse eine Frau anspricht – freundlich, zurückhaltend, charmant – reagiere ich äußerlich zwar höflich, innerlich aber hilflos, fast panisch.

Gegen die so genannten Gutmenschen kann auf Dauer auch nur mit großer Hingabe polemisieren, wer noch keinen wirklich schlechten Menschen kennen gelernt hat. Oder selbst einer ist.

Mit Ronell Wilson ist zum ersten Mal seit 50 Jahren wieder ein Angeklagter von einem New Yorker Gericht zum Tode verurteilt worden. “Justice for Ronell Wilson is the death penalty,” said Brooklyn U.S. Attorney Roslynn Mauskopf.

Todestag des Adrian Dietrich Lothar von Trotha, der im August 1904 als Kommandeur der Kaiserlichen Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika Zehntausende Herero in der Omaheke-Wüste verdursten ließ. Die Stadt Bonn schenkte ihm ein Ehrengrab.

Donnerstag, 29. März 2006 – Fünfuhrzweiundvierzig, neunkommazwei.

Die New Yorker Polizei veröffentlicht ein Video, auf dem zu sehen ist, wie in einer Straße in Greenwich Village zwei unbewaffnete Hilfspolizisten von einem Randalierer erschossen werden, als sie versuchen, sich hinter den am Bürgersteig parkenden Autos in Sicherheit zu bringen.

Gestern den ganzen Tag Daliah Lavi gehört. Und dabei zerflossen.

Todestag von Ludwig Marum, der einer spanisch-jüdischen Familie entstammte, als junger Mann der SPD beitrat und nach der Novemberrevolution Justizminister der Badischen Landesregierung war. Er wurde am 10. März 1933 von den Nazis verhaftet, ins KZ Kislau gebracht und am 29. März des darauffolgenden Jahres im Auftrag seines langjährigen politischen Gegners und nunmehrigen Reichsstatthalters Robert Wagner erdrosselt.

Mittwoch, 28. März 2006 – Zehnuhreins, neunkommaacht. Frisch, blau, schön.

Zwölf Tonnen schwerer Kran in Brunsbüttel gestohlen. Ein vierundzwanzigjähriger Amerikaner stiehlt 42 Kilogramm Damenunterwäsche. Unbekannte Diebe stehlen im mittelfränkischen Unterheckenhofen 350 Karfreitagskarpfen. Ladendiebin in Herne versteckt 130 Schachteln Zigaretten in ihrer Jogginghose.

Gestern mit Herl im Horizont. Über todestrunkene Wagnerklänge, trauernde Kinder, teure Küchen, trinkende Freunde, transusiges Kneipenpersonal … Guter Feigenschnaps.

Todestag von Friedrich Stoltze. “Un es will merr net in mein Kopp enei: wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!”

Dienstag, 27. März 2006 – Sechsuhrdrei, achtkommaeins. Dunkel. Seit vier Stunden wach.

Recht hat er, der Max aus dem Gästebuch. Aber meint er es auch so?

“Gnade für Christian Klar – und dann Schluss mit der Geisterbahn”, fordert Klaus Kreimeier in der “Tageszeitung” – Wenigstens gegen den zweiten Teil dieses Satzes bitte ich die Leser dieser Seite, massenhaft bei der “taz” zu protestieren.

Erste Meldung: “Vorstandsgehälter kräftig gestiegen. In einem Jahr um durchschnittlich 16,9 Prozent.”
Zweite Meldung vom selben Tag: “Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, warnte unterdessen vor überzogenen Forderungen. Eine Erhöhung der Löhne um mehr als drei Prozent sei nicht machbar.”

Fünfter Todestag von Matthias Beltz.

Montag, 26. März 2006 – Siebenuhrsieben, achtkommasechs. Fast schon vollständig hell.

Tour durch die Stadt. Der Narr am Heddernheimer Busbahnhof. Überall kleine, leere Flachmänner unter den Bänken. Müll unter den Koniferen. Eine Frau im Rollstuhl, raucht, wird ständig von anderen Passanten begrüßt. Bleibt an der Ampel vor der Döner-Bude stehen, trinkt Bier.
Durch die Römerstadt. Gibt es sogar ein Ernst-May-Haus, das man besichtigen kann. Da brennt doch Licht. Aber nee, wohin mit dem Rennrad? Lieber weiter, schau ich mir ein anderes Mal an … Also wahrscheinlich nie.
Praunheim, am Nordwest Krankenhaus vorbei über die Steinbacher Hohl ins Feld und nach rechts Richtung Niederursel. Links ein paar Häuser in einer Senke, wie abgeschnitten von der Welt und rechts ein riesiges, schönes Backsteinanwesen, eine Gerüstbaufirma, zahlreiche Wirtschaftsgebäude, ein Wohnhaus, umzäunt alles.
Dann Hausen. Tot, kaputt. Kann man sich nur schönreden.
Aber guck mal, da. Ein erster Zitronenfalter schaukelt über die Gänseblümchen.

Tot ist Anthony Frederick Blunt – Homosexueller, Kunsthistoriker, Kommunist, Agent des britischen Geheimdienstes MI5 und des sowjetischen NKWD, bekennender Gentleman, von der Queen zum Ritter geschlagen, von Margaret Thatcher öffentlich gebrandmarkt.

Sonntag, 25. März 2007 – Siebenuhrzwanzig, sechskommavier.

Gestern kleine Tour. In Petterweil Rast auf einer Bank an der Friedhofshecke mit Blick auf die Rückseite des alten Dorfes und auf diese kleine verstruppte Senke, wo sich sechs Elstern im nassen Gras vergnügen. Eigentlich seltsam, dass diese Vögel, denen man nachsagt, sie seien intelligent wie Schimpansen, den Menschen so verhaßt sind. Die stockdoofen Tauben hingegen gelten als Symbole des Friedens. Ist der Frieden doof?

Am 25. März 1955 starb in Dießen am Ammersee der Schriftsteller, Fotograf, Seemann und Bauer Heinrich Hauser. Ich stöbere so ein bißchen rum und entdecke einen der wenigen grundlegenden Texte, die es über den Vergessenen gibt. Geschrieben hat ihn: Rolf-Bernhard. Dann öffne ich die Mails und finde auch noch eine lange Mail von RB.

Samstag, 24, März 2007 – Siebenuhrfünfunddreißig, fünfkommafünf. Alles nass. Im Baum der Elster gefällts, sie duscht und putzt sich ausgiebig.

Am Mittwoch in Rainalds “Klage”-Blog ein ebenso wütender wie treffsicherer Ausfall gegen den stumpfen Matussek. Und schon möchte ich mit Goetz am liebsten eine Partei gründen. Geht aber nicht. Nicht mit ihm, nicht mit mir.

Bayerns Innenminister Beckstein: “Der Linksextremismus ist noch immer eine ernstzunehmende Gefahr.” Ach, wär das schön.

Es ist ja nicht so, dass man dauernd heult. Aber alles ist unterlegt mit dieser ziehenden Trauer. Selbst wenn man mit Freunden plaudert, selbst wenn man lacht. Sofort wieder dieses Wanken, das Loch, dieses minutenlange Starren. Asche.

Tot: Friedrich Hecker. Oder?

“Wenn die Leute fragen, lebt der Hecker noch?
Sollt ihr ihnen sagen, Ja, er lebet noch.
Er hängt an keinem Baume, er hängt an keinem Strick.
Er hängt nur an dem Traume der deutschen Republik”

Freitag, 23. März 2007 – Elfuhrelf, fünfkommafünf. Grau, nass.

Eine Frankfurter Richterin hat die schnelle Scheidung einer von ihrem Ehemann misshandelten Marokkanerin abgelehnt, weil der Koran ausdrücklich die Züchtigung der Ehefrau erlaube. Vielleicht spinnt diese Richterin, vielleicht hatte sie einen Blackout, vielleicht ist sie böswillig. Dass sich nun aber jeder drittklassige Redakteur über dieses Urteil empört, nachdem (!) sich die halbe Republik bereits darüber ereifert hat, zeigt nichts anderes als die Verkommenheit der Journalisten. Jeder Text eine Anpassungsleistung, ein Zwinkern in Richtung Chefredaktion: “Ich bin ein Guter, auf mich ist Verlass.”

Am selben Tag gemeldet: “Junge Führungskräfte schwärmen für Standort Deutschland”. Dazu passend ein Bericht des DIW, in dem festgestellt wird, dass die Armut in Deutschland in den letzten sechs Jahren deutlich zugenommen hat. Inzwischen gelten 17,4 Prozent der Bevölkerung als arm. Betroffen sind besonders Arbeiterfamilien mit mehreren Kindern.
Gleichzeitig hat der UN-Sondergesandte Muñoz eine Rede vor der Vollversammlung des Menschenrechtsrats gehalten, in der er das deutsche Schulsystem als “sehr selektiv und diskriminierend” kritisiert. Das Recht auf Bildung werde in Deutschland in mehrfacher Hinsicht verletzt. “Systematisch benachteiligt” würden Schüler aus sozial schwachen Familien, Migrantenkinder und Behinderte.

Tot: Karl, Landgraf von Hessen-Kassel.

Donnerstag, 22. März 2007 – Neunuhrfünf, vierkommanull. Grau, trüb, nass.

“Mutter eines toten Säuglings im Plastiksack festgenommen”. Kann sich die Polizei keine Handschellen mehr leisten?

Gestern kam das neue “konkret”. Darin kaum ein Text, der nicht wenigstens lesenswert, kaum ein Gedanke, der nicht wenigstens bedenkenswert wäre.

In Rainalds Blog der Satz: “Den Kindern wurde das Faktum des Todes der Tante Ingrid mitgeteilt”. Und was ist das? Ein Zitat? Oder preußische Beamtenprosa?

Todestag: Harry Fisher, Mitglied der amerikanischen Abraham-Lincoln-Brigade im spanischen Bürgerkrieg. Hans Kohlhase, Vorbild von Kleists Michael Kohlhaas. Goethe.

Mittwoch, 21. März 2007 – Sechsuhrfünfundzwanzig, zweikommasieben. Fast schon hell. Lange geschlafen. Aber gegen Morgen waren die Gespenster wieder da.

Die Bezeichnung “Lustmörder” wird meist falsch gebraucht. Wenn ein Sexualstraftäter einen Mord begeht, so geschieht dies in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht aus Lust, sondern um das Opfer einer Vergewaltigung zum Schweigen zu bringen. Diese Morde sind Verdeckungsdelikte. Wirklich sexuell motivierte Tötungen finden in der Fiktion häufig, in der Realität aber überaus selten statt. Um einen dieser Ausnahmetäter scheint es sich bei dem Lastwagenfahrer Volker E. zu handeln. E., der aus dem fränkischen Hof stammt und am 17. November in der Nähe von Köln festgenommen worden war, hat bereits sechs Frauenmorde gestanden. Jetzt gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dass in weiteren dreizehn Fällen gegen ihn ermittelt wird. Bei seiner Festnahme habe sich E. erleichtert gezeigt. Er habe nicht aufhören können zu töten. Beim Sex habe es für ihn dazugehört, den Todeskampf der von ihm gewürgten Frauen zu beobachten.
Seit 2003 sammelte E. Trophäen seiner Opfer. Er schnitt den Frauen Haarsträhnen ab und fertigte Polaroid-Fotos ihrer Leichen an. Sein LKW war mit den Insignien des 1.FC Bayern München geschmückt.

Todestag von Leo Fender (Stratocaster …).

Dienstag, 20. März 2007 – Fünfuhrzweiundzwanzig, einkommasieben Grad. Seit anderthalb Stunden wach.

Immer wieder das Bild dieser alten Frau mit den kurzen, grauen Haaren, wie sie da in ihrem verschlissenen Jogginganzug so verloren an den Briefkästen steht und uns aus verweinten Augen anschaut: “Jetzt hab ich niemanden mehr”, sagt sie.

Im Fall des sogenannten Kannibalen von Rotenburg hat der Potsdamer Professor für Strafrecht Wolfgang Mitsch Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Das Frankfurter Landgericht hatte Meiwes zu lebenslanger Haft wegen Mordes statt wegen Tötung auf Verlangen verurteilt. Ein unverhältnismäßiges Urteil, das gegen die Grundrechte verstoße, sagt Mitsch.

Heute vor einhundert Jahren sank vor der niederländischen Küste das Dampfschiff “Berlin”. 129 Passagiere ertranken.

Montag, 19. März 2007 – Fünfuhrsieben, dreikommazwei Grad. Dunkel.

Gestern um halbneun Treffen mit Jörg und Atilla in Seckbach. Zur Saisoneröffnung nach Niederdorfelden. Erstes großes Ritzeltreffen des Jahres. Regen, Wind. Unterwegs entscheiden wir, doch nicht die größte Runde zu fahren. Trotzdem am Ende drei Stunden und fünfundvierzig unterwegs. Am schlimmsten zum Schluss die Viecherei auf der Hohen Straße, wo wir uns mit 12 km/h zurück nach Bergen quälen. Merken: Florststadt / Staden! Schöner Ort.

Dass der Tod manchmal die bessere Lösung sei und in M.s Fall ganz sicher gewesen sei – alle sagen es und alle haben recht. Ein Trost ist es dennoch nicht.

Interview mit Patti Smith im “Spiegel”.

An einer Haustür in der neuerbauten Reihenhaussiedlung das Schild: “Hier toben Lea und Max.” Das ist er wohl, der Terror der “Generation Ikea”.

Heute vor elf Jahren wurde die Ehe zwischen Winnie und Nelson Mandela geschieden.

Sonntag, 18. März 2007 – Vieruhrsiebenundfünfzig, neunkommavier. Dunkel, windig.

Treffe E. auf dem Bürgersteig. Einmal in der Woche gehe sie auf den Friedhof, um alles mit ihrer Mutter zu besprechen. Je länger diese tot sei, desto enger werde ihre Bindung zu einander. Auch fülle sie an den Geburts- und Todestagen im Gedenken an die Verstorbene immer einen Lottoschein aus. Diesmal sei ein Dreier dabei herausgekommen. Immerhin genug, um neue Stiefmütterchen fürs Grab zu kaufen.

Vorgestern zwei und eine viertel Stunde über Marköbel, Ronneburg, Erlensee durch die Wetterau, Schnitt 30,5 km/h. Gestern eine lockere Stunde.

Heute steht mal die Todesstrafe auf: “Schlemmer-Point”.

Siebenundzwanzigster Todestag der Malerin Tamara de Lempicka, deren Schaffenskraft zum Glück schon in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts ermattet war.

Donnerstag, 15. März 2007 – Sechsuhrvier, sechskommasechs. Erstes Dämmerlicht.

Wenn sich die Welt in Design auflöst, bleibt von der Sprache nichts übrig: “Sehr geehrte Kunden, wir bedanken uns recht herzlich für Ihren Besuch zu unserer Veranstaltung Tradition und Moderne – Design aus Japan, das am 08. Juni und 10. Juni statt gefunden hat.”

Dazu passt auch diese Kapitulation: “Designermöbel – für alle Stiele etwas dabei”.

Der Mangel an Geschmack im akademischen Mittelstand ist enorm. Stattdessen gibt man sich stylish. Der gerade angesagte Stil hat den guten Geschmack ersetzt. Eigentlich eine Sklavenhaltung – dass man lieber den Agenten des Zeitgeistes folgt, als mit einer Hose von C&A erwischt zu werden.

Todestag von Johann Christian Günther (“Der Winter soll mein Frühling sein”).

Mittwoch, 14. März 2007 – Dreiuhreindundvierzig, neunkommadrei. Seltsam, der Mopedfahrer, der sonst erst gegen sechs hier auf der Straße rumknattert, ist schon jetzt hier, um kurz vor vier.

Die Bilder sind gekommen. Wilhelm Bükers “Bäume am Wasser” von 1922.

Und Knud Jespersens “Haus am Strand” von 1942.

Karl Marx ist tot.

Dienstag, 13. März 2007 – Fünfuhrsechsundfünfzig. Und jetzt schon siebenkommadrei Grad. Noch dunkel, aber die Vögel …

Es ist, als hätten diese zwei Wochen Monate gedauert. Als sei man der Welt abhanden gekommen. Wenn man erzählt, was passiert ist: hilflose Ausweichbewegungen, Schweigen, bei manchen sogar panische Flucht. Bei den wenigsten: Zuwendung.

Nachdem am Wochenende dieses riesige “Figaro”-Paket von Piwitt gekommen ist, gestern Abend auch noch die wunderbare Christine Schäfer als Cherubino unter Harnoncourt. Umwerfend ihr “Voi che sapete”. Ein stumpfer Bock, wer da nicht vergeht.

Elfter Todestag von Krzysztof Kieslowski.

Montag, 12. März 2007 – Zwölfuhrneunzehn, zehnkommafünf Grad. Sonne.

Nach zwei Wochen zurück im Reich der Lebenden. Und plötzlich ist Frühling. Wie zum Trost. Wie zum Hohn.

Vor zwei Jahren ist Lisa Fittko gestorben. Und vor einer Woche M.