Geisterbahn

Freitag, 31. März 2006 – Zehnuhrvier, dreizehnkommaeins. Eigentlich Radwetter, aber schon wieder angeschlagen. Wahrscheinlich von der Stunde Kraftausdauer gestern auf der Rolle.

 

Am Abend war Lesung in der Buch-Ecke in Freigericht–Somborn. Freundlich, konzentriert, überfüllt, taktvoll … alles, wie es sein soll. Es ist immer das Gleiche: Wie gut eine Veranstaltung wird, merkt man schon bei der Begrüßung. Und immer kommt es darauf an, wie eng der Kontakt der Buchhändler, Bibliothekare usw. zu ihrem Publikum ist.  – Alex und seine Freundin sind da. Jemand grüßt von Oki und Bettina. Später noch in eine Osteria, aber essen darf ich ja bis zum Henninger-Rennen am 1. Mai nichts mehr.

 

Tot sind John Donne, Egon Erwin Kisch und Gisèle Freund.

 

 

Donnerstag, 30. März 2006 – Neunuhrneunundfünfzig, achtkommaneun Grad. Dauerregen.

 

 

Am Mittwoch mit dem ICE nach München zum Krimifestival. Heike steht am Gleis, freue mich riesig. Wir fahren nach Schwabing, schlendern die Schellingstraße entlang auf der Suche nach einer Mahlzeit, nee, nicht diese Schnösel-Osteria, wo ich vor Jahren mit Maxim mal war, auch nicht ein paar Meter weiter in die Bierschwemme, angeblich Hitlers Lieblingskneipe. In einer Seitenstraße finden wir einen Koreaner, eine Mischung aus Imbiß und Restaurant, einfach, gut, vor allem schlank und scharf. 

Dann zum Salvatorplatz ins Literaturhaus. Schon durch die Scheibe sehe ich Kathrin Fischer an einem der Tische sitzen; angenehm, wenn man sofort jemanden sieht, den man kennt und nett findet. Dann erstmal hoch in den ersten Stock. Die Frau an der Kasse fragt, wo wir hinwollen: zur Krimilesung oder zu Ransmayr? Ich habe das Gefühl, mir fällt ein Stein auf den Kopf. Die haben wirklich parallel eine Ransmayr-Lesung hier angesetzt. Einen Ricard, bitte. Zur Vorbesprechung. Tobias Gohlis kommt mir auf dem Gang entgegen, guckt ein bisschen mürrisch, ich frage, was los ist, auf einmal lacht er, nee, nichts, und ist ganz aufgeräumt. Zu viert – mit Oliver Bottini und Jan Costin Wagner – besprechen wir den Ablauf. Bisschen angespannt, wir kennen uns nicht, wissen nicht, was wir voneinander halten sollen – löst sich aber rasch auf, wird schon werden. Bernd ist jetzt auch da, wir begrüßen uns, lachen. Dann die Lesungen, noch bisschen reden. Habe dauernd das Gefühl, dass wir die Leute langweilen. Oder? Also ein bisschen den Kaspar machen. Was, schon nach halbzehn? Signieren, dann runter ins Restaurant. Einen Ricard, bitte, nee lieber einen doppelten. Eine Frau setzt sich neben mich, aufgekratzt, stellt sich vor, Angela Eßer, sie ist die Organisatorin des Festivals und außerdem Sprecherin des „Syndikats“, dieser Krimiautorenorganisation. Aha. Dann versucht sie sofort ziemlich offensiv, mich für das „Syndikat“ zu werben, was ich erstmal gar nicht glauben will. Sie haben den ganzen Herbst versucht, mich als Mitglied zu gewinnen, ich war reserviert, aber freundlich. Als ich schließlich gesagt habe, dass solche Autoren-Stammtische einfach nicht so mein Ding sind, erschien eine Woche später auf der Startseite der Syndikat-Homepage diese Riesenpolemik gegen mich. Und jetzt soll ich beitreten? Na ja, es würde halt gelegentlich mal über die Stränge geschlagen. Ja. Mmmh. Ich bin ein wenig hilflos, weiß nicht, was ich sagen soll. Irgendwie unglaublich. Dann noch mal hoch zu Heike und Bernd, wo sie an einem großen Tisch mit ihren Freunden sitzen. Schon Klasse, sie haben wirklich zehn Leute mit zu der Veranstaltung gebracht. Noch ein wenig plaudern, dann fahren wir nach Perlach, und ich schaue gleich ins Netz, um zu sehen was aus der Auktion geworden ist. Ach wie toll, Christiane hat das Bild ersteigert: Max Hüntens „Lesende Frau“. Könnte taumeln vor Freude. Ins Bett. 

Am Donnerstag mit Heike in die Neue Pinakothek. Wir gehen durch alle Räume, aber eigentlich hätten uns Manets „Frühstück im Atelier“ und Liebermanns riesige „Ziegenbäuerin“ gereicht. Ganz voll davon. Zu Fuß zum Bahnhof. Gehe zum Gleis, schaue mich immer wieder um, aber Heike guckt nicht mehr. Auf dem Gleis gegenüber steht: Ransmayr. In den ICE, nach Hause.

 

Christof ruft an, munter, war gerade auf Sardinien, wo er für das Reiseblatt der „Zeit“ in fünf Tagen fünf verschiedene Sportarten absolviert hat. Wir verabreden, dass ich vielleicht doch mal was über diesen Fritz-Wunderlich-Radweg mache.

 

Todestag der Schauspielerin Helga Anders, in die ich als Fünfzehnjähriger, nachdem ich „Tod in Scheveningen“ gesehen hatte, ganz verliebt war. Sie starb als unglückliche Wirtin einer Münchner Kneipe.

 

 

Dienstag, 28. März 2006 – Siebenuhrzweiunddreißig, zehnkommasechs.

 

Eine Mail von Barbarella-Entertainement: „John Malkovich ist Gustav Klimt“. Könnte ein Tag mit größerem Schrecken beginnen?

 

Die Abstraktion in der Malerei war eine folgerichtige, notwendige Entwicklung. In den vorhergehenden Jahrzehnten lief alles darauf hinaus, Farbe und Form vom Gegenstand, von der Illusion des Gegenstandes zu trennen. Also musste auch dieser Versuch unternommen werden. Die Polemiken der Gegenständlichen gegen die Abstrakten waren somit unsinnig. Sie gingen davon aus, dass es sich bei der neuen Malweise um eine Mode, einen Spleen, eine freiwillige Entscheidung handelte. Aber die Abstraktion war eine historische Notwendigkeit. Ebenso sehr war sie auch eine Sackgasse. Aber was heißt das schon.

 

Gestern neunzig Minuten Rolle, heute 43 Kilometer aus dem dunklen Frankfurt in die Wetterau, ins Licht. Ziemlich windig. Drei Fasanenweibchen auf einer Wiese, eine zermalmte Katze auf der Fahrbahn, ein Bussard im Graben, bäuchlings. Auf der Abfahrt von den Hühnerbergen nach Niederdorfelden heftiger Wind von links, Flattern, Schwanken. Ein Motorengeräusch von hinten, ein Schatten, ein LKW. Schiebt sich an mir vorbei, ich gerate kurz in den Sog seines Windschattens und sofort steigt die Geschwindigkeit um zwei, drei, um vier Stundenkilometer. Dass man Lastwagen mögen kann …

 

Vor neun Jahren starb Baronin Maria Augusta von Trapp, deren Lebensgeschichte, verfilmt unter dem Titel „Die Trapp-Familie“, zu den Mythen der späten fünfziger und der sechziger Jahre gehörte. Vor tausendeinhunderteinundfünfzig Jahren wurde Paris von den Wikingern gebrandschatzt.

 

Montag, 27. März 2006 – Vieruhrdreißig, dreizehn Grad.

Gestern noch eine schöne, nasse Runde durch die Wetterau. Langsam kommt die Kraft zurück. Noch vier Wochen bis zum Henninger-Turm. Jetzt muss es aber auch wirklich ein Blitz-Training sein. Und am besten eine Blitz-Diät.

 

“Wie du rumläufst, willst du dir nicht mal eine neue Jacke leisten?” – “Ja, ich weiß. Andererseits bin ich nicht so unglücklich, dass ich mir unbedingt was kaufen müsste.”

 

Angeboten wird zum Preis von 18.000 Euro ein „Spachtelbild“ des Malers Arwed Balcke, über den es heißt: „Unter der Herrschaft des Spachtels zwingt Balcke die Gewalten des Farberlebens und peitscht in stets virtuoser Technik alle Varianten farblicher, psychologischer Darstellung.“ Das nennt man wohl eine beherzte Sprache.

 

Todestag von Charles Willeford, Ian Dury, Billy Wilder. Und von Matthias Beltz, dessen Grab ich nachher besuchen werde.

 

 

Sonntag, 26. März 2006 – Neue Zeit: Sechsuhrneun. Neue Temperatur: zwölfkommaein Grad. Alter Regen.

 

 

Am Donnerstag in den ICE nach Berlin. Vom „Magazin der Bahn – mobil“ glotzt mir sentimental entgegen: Xavier Naidoo – „Pop mit Seele“. Quatsch mit Soße. Auf den Ohren wieder die Sonaten von Jakob Klein. 

Aus dem Fenster: Wie unglaublich schön dieses Land ist, von hinten gesehen, trotz seiner Versehrtheit. Immer wieder Rehe, Schwäne, Feldhasen, ein Reiher. Das, was wir Bäume nennen, ist so vielgestaltig, so vielfarbig, dass ich mich manchnmal  wundere, dass wir jedes einzelne Exemplar, egal, wie sehr es sich von seinem Nachbarn unterscheidet, doch immer als „Baum“ erkennen. 

In Spandau ins Ibis. Schrecklicher Kasten. Dann durch die Einkaufsstraße zur Kirche St. Marien am Behnitz. Schon durch die Glastür sehe ich Herrn Kissner, der die alte Backsteinkirche gemeinsam mit seiner Frau gekauft und restauriert hat. Ok, noch ein wenig Zeit, ins Zollhaus, ein Lagerbier, bitte. „Bloss keene Semantik“, sagt der gewitzte Berliner am Nebentisch, als er sich die Spitzfindigkeiten seines Begleiters verbittet. Mir gegenüber an der Theke ein Mann im weißen Hemd mit spitzen Stiefeln. Er beäugt mich, dann geht er. Wieder zur Kirche. Der Mann im weißen Hemd steht jetzt oben auf der Empore. Es ist der Organist, er komme, heißt es, zu jeder Veranstaltung (außer wenn ein fremder Organist hier ein Konzert gebe), bleibe aber immer oben bei seiner Orgel sitzen. Ein Österreicher halt, als sei damit alles gesagt. Lesung. Hinterher wieder Zollhaus. Herr Kissner schwärmt von den guten Frankfurter Gref-Völsing-Rindswürsten. Muss daran denken, ihm ein paar zu schicken. Schwer ins Bett.

Am Freitag Frühstück in diesem öden Ibis-Saal, am Nebentisch zwei laute Geschäftsleute mit drängenden, insistierenden Stimmen, Terror, absolut rücksichtslos. Über der Straße ein riesiges Schild: www.der-billigbestatter.de. Fahre nach Charlottenburg, Savignyplatz, laufe in die Weimarer Straße, um meine Tasche bei Miss Marple abzustellen. Nette Begrüßung. Dann bis Friedrichstraße, dort zu Fuß weiter. Schon wieder so ein Schild, diesmal an einem Laden: www.komplexannahme.de Dann: Was denn jetzt, alles abgesperrt, riesige Barrikaden, alles voller Polizisten? Kommt man hier nicht durch, oder was? Ach so, ja, die amerikanische Botschaft. Ist mir ja schon mal passiert hier, war aber abends. Zum Brandenburger Tor. Sonne. Nee, ich gucke nicht hoch, mir reicht schon der Doofi-Trubel hier unten mit all den Faxenmachern, einer lebenden Statue als NVA-Soldat verkleidet, dem Drehorgelspieler mit La Paloma Blanca, den amerikanischen Touristen.

Ins Liebermann-Haus, um mir die Paul-Cassirer-Ausstellung anzuschauen. Wirklich beglückend. Gleich rechts ein paar Porträts, die alle Tilla Durieux zeigen. Am schönsten das von Corinth: Tilla Durieux als spanische Tänzerin. Die Schauspielerin war mit Cassirer verheiratet. Als sie sich 1926 von ihm trennen wollte, hat er sich im Vorzimmer des Scheidungsanwaltes erschossen. Sie hat bis 1971 gelebt und liegt jetzt ganz in der Nähe ihres Exmannes auf dem Friedhof Heerstraße. Werd ich aber wohl nicht mehr schaffen, mir die Gräber anzuschauen. Immer wieder renne ich zu einem Porträt, das Max Slevogt 1913 von seiner Tochter gemalt hat: „Nina als Indianer“. Notizen: Hans Ostwald, Vagabonden. Corinth-Porträts von Meier-Graefe und Peter Hille. Willi Geiger: Porträt Ernst Bloch, 1924.

Dann zu Fuß zum Potsdamer Platz, eine windige Hölle, die von vielen begafft wird, wo sich aber niemand aufhalten mag. Zur Neuen Nationalgalerie. Davor eine zweihundert Meter lange Schlange. Laufe dran vorbei. Ich will gar nicht in diese Melancholie-Ausstellung, sage ich zu dem Uniformierten, will eigentlich nur die ständige Ausstellung sehen. „Dann müssense wohl nach Tokio fliejen“. Also in die Gemäldegalerie im Kulturforum. Riesig. Aber ich begreife die Ordnung hier nicht. Das Mittelalter interessiert mich jetzt mal gerade gar nicht. Aber wie immer habe ich Angst, das eine Bild zu verpassen, das alles ganz neu zeigen würde. Also muss ich durch, verlaufe mich aber immer wieder. War ich hier schon? Nee, doch. Aber das ist mir jetzt alles zu viel. Nach zwei Stunden wieder raus. Eigentlich habe ich nichts gesehen.

Wieder in die Stadt, durch den Osten, bis zur Bernauer Straße usw. Aber die CD mit den alten Liedern von „Jahrgang ’49“ finde ich trotzdem nicht. Zionskirche, wo Bonhoeffer gepredigt hat. Zurück in den Westen, Bahnhof Zoo. Schlendere über den Kudamm, öde. Wieder Richtung Savigny-Platz, viele leere, verrammelte Geschäfte, Ladeninhaber, die sich die Nasen an den Scheiben plattdrücken und auf Kundschaft lauern. In den „Zweibelfisch“, das ist doch mal was Altes, Reelles. Kommt mir gerade recht, nicht eine von diesen blöden leeren „Café-Bar-Lounges“, die hier alle paar Meter so tun, als wären sie was. 

In die Weimarer Straße. Am Eingang steht Bernd (aber duzen tun wir uns ja erst am nächsten Morgen), und dann kommt auch Cornelia raus, ein wenig nervös, aber guter Dinge, alles ist so nett, dass ich mich gleich entspanne. Die kleine Buchhandlung randvoll. Eine Kundin hat ein Brot gebacken, das so gut schmeckt, dass ich es am liebsten abonnieren würde. Später dann in ein chilenisches Restaurant mit den Bildern von Victor Jara, Pablo Neruda und Salvador Allende an der Wand. Und ein paar Tische weiter ein Typ, der aussieht wie der junge Fidel Castro. Spät ins Bett. Schwer müde.

Samstagmorgen Frühstück, munteres Geplauder über Montparnasse, die Pariser Friedhöfe und über Lissabon. Bernd bringt mich zum Bahnhof. Heimfahrt. Nebenan im Abteil sechs Motorrad-Rocker in Kluft. Laut, betrunken, jedes Mal, wenn eine Frau an ihrem Abteil vorbeikommt, geht ein Gegröle los. Immer wieder Obszönitäten und danach blechernes Gelächter.  

 

Todestag von Max Ophüls, Raymond Chandler, B.Traven, Roland Barthes.

 

 

 

 

 

 

 

Donnerstag, 23.März 2006 – Vieruhreinunddreißig, nullkommaneun Grad. 

Wer diese vier Leute sind, die um diese Uhrzeit gerade online gemeldet werden, wüsste man schon gern. 

Und das Fußballspiel gestern? Wie ist es denn nun ausgegangen? Ah, ist mir so was von egal. Fußball finde ich eigentlich immer nur dann lustig, wenn die Deutschen sich ärgern.

 

Die Fenster sind geöffnet, trotzdem ist es ungewöhnlich still. Dann höre ich das leise Weinen eines Kindes, kein Baby, sondern ein vielleicht vier-, fünfjähriges Kind. Ganz und gar kläglich, wimmernd. Es hört sich an, als komme es aus dem Nebenzimmer. Sofort beginnt mein Herz zu rasen. Ich gehe durch die Wohnung, schaue in jeden Raum, idiotisch, natürlich ist hier kein weinendes Kind. Dann hört das Weinen auf. Aber mein Herzrasen bleibt.

 

Todestag von August von Kotzebue, Stendhal, Peter Lorre und Guiletta Masina. Tot ist auch Walter Stahlecker, SS-Brigadeführer, und Befehlshaber der „Einsatzgruppe A“, deren Aufgabe es war, die „Säuberung der befreiten Gebiete von marxistischen Volksverrätern und anderen Staatsfeinden“ im Baltikum zu gewährleisten. Stahlecker galt als einer der „effektivsten“ Massenmörder.

 

 

Mittwoch, 22. März 2006 – Sechsuhrvier, zweikommasechs.

 

Auf Einladung Sylvia von Metzlers gestern Abend mit Annette und Stefan ins Haus Metzler nach Bonames, wo Minka Pradelski liest. Viel schwarzes Tuch, viel guter Wein.

 

In der Sprache eines Menschen manifestiert sich sein Bewußtsein. Bei Anne Chaplet alias Cora Stephan liest sich das so: „Was ist das für eine Welt, in der es ‚soziale Spannungen’ auslöst, wenn Arbeitnehmer unter 26 Jahren nicht schon mit dem ersten Job ins Sicherheitskorsett der Festanstellung von der Wiege bis zur Bahre fallen?“ Freilich war es auch Frau Stephan nicht in die Wiege gelegt, dass sie ohne Korsett und Sicherheitsgurt auf ihrem Metaphernsalat ausrutschen und dabei kopfüber auf der Bahre der „Welt“ landen würde. Abzusehen war es allerdings schon länger. Wie würde Kommissar Wallander sagen? „Jetzt wissen wir auch das …“

 

Aus der Serie Knalldoof des Tages: „Wo bist Du? Gefühlsechte Animationen. Zauberhafte Liebeslogos warten hier.“ Kaum zu glauben, dass man auf so engem Raum so viel Müll verbreiten kann.

 

Was? Goethe ist tot?

 

 

Dienstag, 21.März 2006 – Vieruhrsechsunddreißig, dreikommafünf.

 

Wieder die Geschichte von M., die erzählte, sie habe auf einer Party stundenlang neben einem ungeheuer langweiligen Herrn Schmidt gesessen. Am Ende des Abends habe sie dann erfahren, dass es sich um einen Fernsehmoderator gehandelt habe: Harald Schmidt. Ein Name, der ihr, da sie keinen Fernseher besitze, allerdings auch nichts gesagt habe.

 

Ein anderer Schmidt, Herr Alfred Schmidt aus Wien, der gerade „sein“ Tamino-Klassikforum geschlossen hatte, hat es wieder geöffnet. Es scheint, als habe er lediglich ein wenig Zuwendung gebraucht. Nun steht Herr Schmidt aber, wie er schreibt, vor der Entscheidung zwischen 

„2 Übeln:

1) Aufrechterhaltung der restriktiven Mitgliedsbedingungen. (Nachteil: Wir verlieren viele User ans Konkurrenzforum)

2) Öffnung des Forums (Nachteil: wir haben in Kürze hunderte bis tausende Karteileichen als Mitglieder, Fakes etc und jede Menge Gesindel)“

Da möchte man doch auf jeden Fall zum Gesindel gehören, das unter dieser Fuchtel weder geduldet wird noch sich aufhalten mag. Fenster auf!

 

In der Cinemathek der Süddeutschen Zeitung diese Woche: Lars von Triers „Breaking the Waves“. Auch so ein grandioser Film, den ich kein zweites Mal aushalten würde.

 

Am 21. März 1910 starb, fast neunzigjährig, der Fotograf Nadar. Wie kein anderer hat er das Bild bestimmt, das wir uns heute von Balzac, von Daumier, Baudelaire und den Brüdern Goncourt machen. Todestag auch von Jeffrey Wise, amerikanischer Indianer und Nazi, der vor einem Jahr im Reservat Red Lake neun Menschen und dann sich selbst erschoss.

 

 

 

 

 

 

 

Montag, 20. März 2006 – Fünfuhrdrei, zweikommazwei Grad. Gestern morgen 8.45 Uhr Treff in Seckbach, dann weiter nach Niederdorfelden zur ersten Radtourisitkfahrt des Jahres. Fast das gesamte Sportradkollektiv der “Lokomotive Rotes Ritzel” ist da. Aufgekratzte Stimmung, Gruppenfoto. Dann los. Temperatur kein Problem. Große Schleife durch die Wetterau und die Ränder des Vogelbergs: Florstadt – Bad Salzhausen – Selters – Rommelhausen –Bruchköbel … An den Kontrollstellen stürzen wir uns wie Süchtige auf die Kekse, Bananen, Gummibärchen. Nach achtzig Kilometern kommt mein Einbruch. Bin vollkommen leer und kann nur noch um Nachsicht betteln. Im gemäßigten Tempo weiter. Am Ende sind auf dem Tacho 130 Kilometer und auf der Stirn ein erster Sonnenbrand. Vollkommen platt.

 

Abends, liegend, noch ein wenig Rostropovich und David Peace.

 

Eine Mail vom Webmaster des Tamino-Klassikforums: 

„Liebe Mitglieder – Auf Grund der unerfreulichen Tatsache, daß einige Mitglieder seit neuester Zeit feindlichen Foren als Mitglieder Beitreten . was meinen Plan das Tamino – Forum zum einzigen und Grössten Klassikforum des deutschen Sprachraums auszubauen zum Scheitern bringt ,habe ich mich entschlossen das Forum zu schliessen. Feinde gab es stets – In den eigenen Reihen ertrage ich sie jedoch nicht.Gruß aus Wien Alfred Schmidt“. 

Was ja heißt: Wenn ich nicht die Sieben Weltmeere beherrschen kann, gehe ich auch nicht mehr in die Badewanne.

 

Tot sind all jene, die im so genannten dritten Golfkrieg starben, der heute vor drei Jahren begann.

 

Sonntag, 19. März 2006 – Fünfuhrachtzehn. Nullkommanull Grad.

 

 

Gestern zwei Stunden durch die Wetterau. Mühsam. Schön. Der letzte Widerstand des Winters: zwecklos. Tot: ein Fuchs (zweigeteilt), ein Fasan (geköpft), eine Katze (aufgeplatzt). Die Schützen schießen wieder, die Gärtner werkeln, die Autofahrer hupen, die Sonne schaut mal kurz vorbei. Der Hundeübungsplatz ist noch leer. Die Straßen werden gekehrt. Es ist Kommunalwahlkampf; ein Plakat fordert „ordentliche, saubere Schulen!“ Nazis? Von wegen, das Plakat stammt von der Linkspartei. Also muss man auch die bekämpfen!

 

Abends dann in das Theatermagazin von 3sat reingeschaut: „Foyer“, mit der albernen Minh-Khai Phan-Thi. Habe die ganze Zeit das Gefühl, Kinderkanal zu schauen. Selten so ein affige Moderation gesehen.

Dann „8 Frauen“ von Ozon. Hübsche Kostüme, hübsche Chansons, schlafe trotzdem ein. Ok, ins Bett.

Und nun, da alle „1977“ von David Peace loben, fange ich mal mit dem ersten Band an: „1974“. Nee, hat keinen Zweck, zu müde.

 

5:44 – In drei Stunden wird es ernst. Erste große Ausfahrt der „Lokomotive Rotes Ritzel“ in diesem Jahr.

 

Todestag von Marcel Callo, Drucker aus Rennes, Mitglied der katholischen Arbeiterjugend, Zwangsarbeiter, KZ-Häftling, gestorben in Mauthausen.

 

 

 

Samstag, 18. 3. 2006 – Sechsuhrelf, minus nullkommavier.

 

 

Lese fünfzig Seiten in Simon Becketts „Die Chemie des Todes“. Aber nein, meine Sache ist das nicht. Ich mag im Kriminalroman keine Ich-Erzählungen. Ich glaube nicht, dass es „unnatürliche Sommer“ gibt. Ich nehme den Häusern nicht ab, dass sie „trist aneinanderkauern“, und den Fenstern nicht, dass sich in ihnen „blankes Misstrauen spiegelt“. Und spätestens bei „Schmetterlingen im Bauch“ steige ich aus und suche nach dem Insektenspray.

 

Nach den „Zehn Geboten für den Kriminalroman“ von Stefan Brockhoff stoße ich jetzt zufällig auf den Dekalog von Ronald Knox („Ten Commandment List for Detective Novelists“) aus dem Jahr 1924, nebst Überarbeitungsvorschlägen von Grobius Shortling von 2001. Und gleich auch noch auf Van Dines „Twenty Rules for Writing Detective Stories“ aus dem Jahr 1928. Und damit das alles mal beisammen ist, richte ich gleich eine neue Kategorie ein: Gesetze. Dort kann man alles nachlesen und kennt künftig wenigstens die Regeln, gegen die man zu verstoßen hat.

 

Tot sind: Ferdinand Freiligrath, August Bebel und Henri Cornet, der 1904 die Tour de France gewann, aber seinen Siegertitel erst zugesprochen bekam, nachdem einige Fahrer disqualifiziert worden waren, weil sie streckenweise die Eisenbahn benutzt hatten. Todestag hat auch Emma Cotta, die Erfinderin der gleichnamigen Panna. Und Tamara de Lempicka, die nicht wenig zu den Geschmacklosigkeiten des 20.Jahrhunderts beigetragen hat.

 

 

 

Freitag, 17. 3. 2006 – Sechsuhrfünfzehn. Nullkommaein Grad.

 

„Ich würde gerne zu einer Randgruppe gehören“, sagt die Kollegin B. „Lesbisch oder schwarz oder eingewanderte Türkin. Dann würde ich wenigstens zu diesen Randgruppenkongressen eingeladen, die dauernd überall stattfinden. Am besten vielleicht lesbische, türkische Negerin.“

 

Kann es eigentlich sein, dass Robbie Williams verrückt ist? Ich weiß nichts über ihn, außer dass es ihn gibt und wie er aussieht. Aber jedes Mal, wenn er mir von einem Plakat, von einem Zeitschriftenfoto oder – schlimmer – vom Bildschirm entgegenschaut, muss ich mich abwenden, so sehr schaudert mich vor diesem Gesicht, vor diesem flackernden Blick. Es ist, als hätte ich Angst vor ihm.

 

Gerade kommt eine Mail von Atilla. Er eröffnet die Rennradsaison: 

Jetzt reicht’s!

Am Sonntag geht’s nach Niederdorfelden.

Schon gehört?

Um neun Uhr bei mir vor der Haustür.

Kein Scheiß!

Bis dann, Ati 

 

Todestag von Luchino Visconti und René Clement. 

 

 

 

 

Donnerstag, 16.3.2006 – Dreiuhrdreiundfünfzig, einkommasechs Grad. Schon zwei Besucher online. Auch schlecht geschlafen?

 

 

 

 

Eine Katze hat sich in meinem Handgelenk verbissen. Ich packe sie am Nacken, drücke ihr das Maul auf. Endlich gibt sie mich frei. Ich wache auf. Dämmere wieder ein. Aber da hat doch eine Diele geknackt? Lauschen. Nein, nichts. Da schleicht doch jemand durch die Wohnung? Nein, schlaf weiter. Aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken. 

 

 

 

 

 

Bin mit dem Irving-Roman durch und muss nun endlich den Text dazu schreiben. Hatte selten so sehr das Gefühl, meine Zeit zu verschwenden. 

 

In “Kulturzeit” ein Beitrag über den Göttinger Psychiater Borwin Bandelow und sein Buch “Celebreties”. Er sagt, dass viele Stars unter dem Borderline-Syndrom litten, und dass die Krankheit ihren Erfolg überhaupt erst ermögliche. Nicht uninteressant, auch zur Frage: wie wirkt etwas, das gespielt ist, im Unterschied zu etwas „Authentischem“? Kann man Authentizität simulieren …? Gut, Schauspieler versuchen das dauernd, aber wann gelingt es, wann nicht? Womöglich merkt man eben doch sehr genau, ob sich jemand auf der Bühne preisgibt oder ob er Hingabe spielt.

 

Auf der Titelseite der FAZ-Literaturbeilage wird Feriduns neuer Roman besprochen. Schon komisch, dass mich überhaupt nicht interessiert, was sie dazu schreiben. Stattdessen freue ich mich einfach, so ein fettes Foto von ihm dort zu sehen.  

 

Todestag von Joseph Christian Freiherr von Zedlitz und Nimmersatt, der auf dem Sterbebett gesagt haben soll: “Es sind schon so viele gestorben, ich werde das auch noch überleben”. 

Tot ist ebenfalls der Schriftsteller Börries Freiherr von Münchhausen, der sich vehement bemühte, die jüdische Abstammung seines Konkurrenten Gottfried Benn nachzuweisen. Als sich die alliierten Truppen Münchhausens Gut im ostthüringischen Windischleuba näherten, nahm er sich am 16. März 1945 das Leben.

 

 

 

Mittwoch, 15.3.2006 – Siebenuhrneunundzwanzig. Minus einkommaein Grad. Kopfschmerzen.

 

 

Gestern Abend zum ersten Mal mit K. unterwegs, einem hohen Beamten der Frankfurter Kriminalpolizei. Sehr nett, sehr klug, sehr informativ. Als ich erzähle, was ich vorhabe – das Schiff im Nebel auf dem Main, die Leichen – steigt er sofort ein, und wir fangen an, die Szenerie auszumalen: Wie viele Opfer? Welche Waffe? Wurde der Täter beobachtet? Von wem? Macht Riesenspaß. – Mehr dazu nicht.

 

 

Lustig, dass im Gästebuch alle geadelt werden: Cornelia von Heddernheim, Herta von Hofheim, Renate von Idstein.

 

Zwei Wochen nach dem Frankfurter Theaterskandälchen um die Oberbürgermeisterin Petra Roth wird auf der Internet-Seite „Watching the detectives“ berichtet, dass der Düsseldorfer Oberbürgermeister eine Lesung des Krimiautors Horst Eckert in der dortigen Stadtbibliothek abgesagt hat, weil der eine kommunale Korruptionsaffäre zu einer fiktionalen Erzählung verarbeitet habe. Horribel daran ist vor allem die Vorstellung, dass nun – nachdem sich die Oberbürgermeister zu Kunstkritikern erklären – die Künstler auf die Idee kommen könnten, als Bürgermeister zu kandidieren. 

 

 

Todestag von Wolfgang Koeppen, der mir einmal so wichtig war, von dem ich aber dachte, dass er mir nun gar nichts mehr sagen würde. Bin vollkommen überrascht, dass ich mich sofort festlese, als ich heute morgen wieder in seinen Büchern blättere.

 

  

 

Dienstag, 14. 3. 2006 – Sechsuhrvierzehn, minus fünfkommanull. Schon die zweite Nacht gut geschlafen. Dank Baldrian-Hopfen von St. Benedikt.

 

 

„Hier zieht es ja wie Hechtsuppe“ – Ja, tut es, aber wo diese Redewendung wohl herkommt?

 

In „Kulturzeit“ gestern ein Interview mit Oskar Negt zu den Streiks im öffentlichen Dienst, zu den Verhältnissen im Land und zur Rolle der Gewerkschaften. Werde mir um 9.05 Uhr die Wiederholung anschauen. Dann mehr dazu …

 

10:12 Uhr – Also: „Kulturzeit“. Tina Mendelsohn moderiert. Sie kündigt den einleitenden Filmbericht mit folgenden Worten an: „Vor meinem Gespräch mit Oskar Negt fasst Sarah Zierul die Thesen der Arbeitnehmerseite zusammen“. 

Doch Sarah Zierul tut das Gegenteil. In ihrem Beitrag kommt einzig der Verhandlungsführer der Länder zu Wort. Und sie zeichnet dasselbe Schreckbild, das wir seit Wochen auf allen Kanälen sehen: Staus, Müllberge, geschlossene Krankenhäuser. Wir sehen dunkelhaarige Frauen über einen Fußboden wischen. Dazu der Text: „Im öffentlichen Dienst gibt es immer mehr Kollegen zweiter Klasse … die für Privatfirmen arbeiten – mit weniger Geld, mit weniger Rechten und teilweise ohne Arbeitsvertrag“. Ja, denkt man, schlimm, eine solche Entwicklung muss von starken Gewerkschaften bekämpft werden. Stattdessen überrascht uns der Film mit der Schlussfolgerung: „Der Streik könnte dieses Outsourcing fördern … Sägt Verdi womöglich am Ast, auf dem die eigenen Mitglieder sitzen?“ Hä, was heißt jetzt das? Soll die Gewerkschaft ihren Kampf einstellen, weil sonst alles noch schlimmer wird? Soll sie einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zustimmen, weil es sonst noch schlechter wird. Soll das Schaf nicht mehr blöken, wenn es zur Schlachtbank geführt wird? 

Dann das Gespräch mit Oskar Negt. Aber was für Fragen bekommt dieser kluge, bedächtige Mann gestellt: „Warum gelingt es den Gewerkschaften nicht, die Zustimmung der Bevölkerung zu erlangen?“ Na ja, bei dieser Berichterstattung. „Müssen die Gewerkschaften nicht helfen, ein gesundes Nationalbewusstsein zu entwickeln?“ Ein was? Damit man das Elend nicht so spürt? Damit man den billigen Polen die Schuld geben kann? „Muss die Gewerkschaft sich nicht komplett erneuern?“ Als seien in den letzten zwanzig Jahren die Worte “Erneuerung”, “Flexibilisierung” und “Reform” nicht immer nur Synonyme gewesen für: zu Kreuze kriechen. 

Oskar Negt bemüht sich geduldig zu bleiben, erklärt das kleine Einmaleins, zeigt Zusammenhänge auf, gibt Nachhilfeunterricht in Gesellschaftsanalyse. Und am Ende ist man sogar froh, dass er wenigstens hier noch mal zu Wort kommen darf. Und fragt sich zugleich, welche Antworten er zu geben in der Lage wäre, wenn ihm mal ein paar intelligente Fragen gestellt würden.

 

Todestag von Karl Marx. Und von Will Vesper, Schriftsteller, fanatischer Nazi, Bücherverbrenner und Vater von Bernward Vesper, der einige Jahre mit Gudrun Ensslin zusammenlebte, die ihn für Andreas Baader verließ, der dann … Na ja, deutsche Geschichten eben… 

 

 

 

Montag, 13. März 2006 – Sechsuhrdreizehn. Minus fünfkommaein Grad, in elf Tagen ist Weihnachten.

 

 

Heute gibt’s doch mal ein Bild. Es ist der „Hammermann“. dargestellt ist im Stil der Neuen Sachlichkeit: ein Bildhauer mit seinem Fäustel, Öl auf Leinwand. Monogrammiert mit den Buchstaben „K.B.“ und datiert mit der Jahreszahl „33“. Wer eine Idee hat, um wen es sich bei dem Künstler handelt, soll sich melden. Ich weiß es nämlich nicht.

 

 

Heute im Angebot des großen Auktionshauses in der RubrikAntiquitäten und Kunst: ein “nackter Akt” und eine “seltene Rarität”. Wer da nicht zugreift …

 

 

Im neuen „Spiegel“ ein Artikel über Autorentagebücher. Hm, ja, interessiert einen doch. Aber kein Wort, kein Schimmer, dass sich die Form des Tagebuchs im Laufe der letzten zweihundert Jahre gründlich verändert hat. Okay, vielleicht zu kompliziert für den Spiegel-Leser. Kein Wort aber auch über das vielleicht wichtigste Autorenjournal der letzten Jahre, über Piwitts „Steinzeit“. Und nicht mal erwähnt wird die interessanteste, schnellste, beweglichste, einflussreichste, inzwischen am meisten verbreitete und offenste Form des Tagebuchs: das Weblog. Aber angekündigt wird der Text im Inhaltsverzeichnis mit der prickelnden Formulierung: „Die Lust deutscher Schriftststeller am Tagebuch“. Lust, ja, Himmel, Llllust.

 

 

Anruf Klaus Modick, ob ich Llllust habe, im November an einem Literaturgespräch in Oldenburg teilzunehmen. Gemeinsam mit Bernd Schroeder. Klar, gerne, freut mich.

 

 

Tot sind: die Frankfurter Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Johanna Tesch (gestorben an den Folgen ihrer Haft im KZ Ravensbrück). Louison Bobet, der als erster Radrennfahrer die Tour de France dreimal hintereinander gewonnen hat. Bernhard Grzimek, Steinlausdompteur.  John Holmes, die Riesenschlange. Krzysztof Kieślowski, Filmregisseur. Fred Zinnemann, ebenfalls Filmregisseur, der nicht nur „Zwölf Uhr Mittags“ gedreht hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

Sonntag, 12. März 2006 – Dreiuhrneunundfünfzig, wieder minus dreikommafünf.

 

 

Nachtrag: Am Freitagabend um 18.30 Uhr zum Hauptbahnhof. Schimmel kommt mit dem Regionalexpress aus Kassel, er zetert, weil die Sitze zu eng sind, der Zug Verspätung hatte, seine digital gesteuerte Heizung zu Hause ausgefallen war …

Gemeinsam zockeln wir ins Gewerkschaftshaus, wo die große Feier zu Peter Gingolds neunzigstem Geburtstag stattfindet. Der Saal ist überfüllt, die Veranstaltung hat schon begonnen. Freue mich, ein paar der Alten wieder zu sehen: Kurt hinter seinem Büchertisch, Erich Schaffner, Wolfgang Repp, im Saal irgendwo Vincencia. Der dreiundneunzigjährige Bruder von Peter Gingold spricht ein paar rührende Grußworte und entschuldigt sich für seinen französischen Akzent. Drei der sechs Geschwister sind inziwschen tot, zwei davon deportiert und in Auschwitz ermordet. Sarah Wagenknecht lässt sich mit dürren Worten entschuldigen; Heinz Stehr hält eine plumpe Rede – „ein Auslaufmodell“, sagt Schimmel. Aber dann spricht Gingold selbst, dieser kleine Riese, schüttelt seine Fäuste, freut sich, lacht und ist so unverstellt stolz und gerührt über diese Feier … Zu dritt fahren wir ins Burga; Schimmel empfiehlt mir Andrew Vachss, den ich eigentlich schon abgetan hatte: „Blossom“ und „Safe House“.

 

 

Samstagmorgen nach Fulda-Neuenberg, wo wir die ottonischen Fresken in der Krypta der Andreaskirche gezeigt bekommen – von Pfarrer Abel, einem kleinen flinken Mann, dessen religiöser Ernst seinem Kunstsinn nicht nachzustehen scheint. Zum Abschluss führt er uns in eine Kapelle, die erst jüngst von einem Ikonenmaler ausgestaltet wurde – der Künstler ist anwesend und sieht aus wie die Vorstellung, die man sich macht, wenn man die Augen schließt und jemand das Wort „Ikonenmaler“ sagt. Eine Karikatur, wie seine Bilder auch.

 

 

Dann nach Poppenhausen. Blanche erzählt von dem elsässischen Dörfchen Lettenbach, in der Nähe von Abreschviller, wo ihre Eisenbahnerfamilie herstamme, nicht weit vom ehemaligen KZ Struthof, in das sie, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, ihren Mann geschleppt habe, was dieser ihr bis heute nicht verziehen … Und von einem kleinen provencalischen Ort namens Tourtour, wo ein Schloss der Familie von Simone Weil stehe, das nach Erbstreitigkeiten leergestanden habe, jetzt von dem flotten Hausmeister und seiner Sippe bewohnt werde, einem ehemaligen Schäfer, der die einzige Tochter des örtlichen Schlachters geheiratet habe, nun den Trüffel der Schlossbesitzer ernte und deren Wild jage, darüber reich geworden sei, ein Haus gebaut …, wo er derweil seine Mätresse untergebracht …, mit der er jeden Morgen vor den Augen der Welt auf der Place frühstücke, weshalb seine Frau das Dorf nicht mehr betrete … Und umgebracht habe sich in dem kleinen Ort Bernard Buffet – weltberühmter Maler des grauenhaften traurigen Clowns – indem er, der unter der parkinsonschen Krankheit litt, sich eine Plastiktüte über den Kopf … Geschichten, ach, Geschichten, dass man am Ende noch ins Erzählen … und womöglich ein Buch ….

 

 

Am Spätnachmittag im Schneetreiben zurück. Aber die Autobahn ist frei, und während die Rhön wieder im Schnee versinkt, scheint in Frankfurt keine Flocke gefallen zu sein.

 

 

Zuhause eine halbe Stunde in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ geschaut, dann auf 3sat „Dido und Äneas“ in der Inszenierung von Sasha Waltz. Schlechtes Orchester, schlechte Sänger, aber schön getanzt, schöne Kostüme und ein ansehnliches Bühnenbild. 

 

 

Heute vor einem Jahr ist Lisa Fittko in Chicago gestorben.

 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 10. März 2006 – Fünfuhrsechzehn, sechskommavier Grad plus. Wenn das so weitergeht mit den Temperaturen, muss ich wieder jeden Morgen aufs Rad steigen. Bald gibt es keine Ausrede mehr. Ahh, doch, eine gibt es noch: … ist noch zu dunkel um diese Uhrzeit.

 

 

 

Gestern Abend zum zehnten Mal über dem neuen Roman von John Irving eingeschlafen. Ich kann mich nicht erinnern, je ein so langweiliges Buch gelesen zu haben. Tausendeinhundertvierzig Seiten, die einfach kein Ende nehmen wollen. Und ich muss sie lesen.

 

 

„Faszination Erotik“, „Freche Frauen wollen alles“, „Lust auf Wellness pur“. – Darauf steht jetzt aber auch mal ein bisschen Todesstrafe.

 

 

Atilla hat einen neuen Editor in das Programm für die Homepage gebaut. Dort gibt es einen Extraknopf für das “Aufräumen von Word-Texten”. Mal sehen, was passiert … NEEEEEIIIIIN !!!! Niiiicht! Alles weg … Wieder da? Ok, nochmal gut gegangen. 

 

 

Tauben sind schöne Vögel. Fliegen so rum, haben ein hübsch gezeichnetes Gefieder, das niedlich schimmert mit Blau und Grün und Rot und allerlei Farben drin. Wenn Picasso Tauben malt, sind sie sogar regelrecht überirdisch schön. Oder wenn Menschen für den Frieden demonstrieren. Aber Tauben sind auch ziemlich blöde Vögel. Stehen überall im Weg rum, kacken alles voll, fressen Gift, wenn man es schön verpackt. Nie antworten die Tauben, wenn man sie was fragt. Sie sagen nicht, wie es ihnen geschmeckt hat, ob sie Angst vorm Sterben haben oder ob sie an Gott glauben. Nichts, keine Antwort. Nicht mal über die Vogelgrippe wollen sie mit mir reden. Ich glaube, Tauben sind: Schön. Blöd. Und darin unterscheiden sie sich kaum von manchen Menschen.

 

 

Todestag von: Michail Bulgakow, dessen „Meister und Margarita“ wir während des Studiums bei Lew Kopelew lesen mussten. Otto Modersohn, Maler. Robert Siodmak, Coregisseur von Billy Wilder bei „Menschen am Sonntag“. Kurt Querner, Maler. Ivo Robic, Sänger („Mit siebzehn fängt das Leben erst an“).

 

 

 

 

 

 

Donnerstag, 9. März 2006 – Fünfuhrfünfzehn, vierkommaeins, immerhin.

 

 

Gestern kam ein Päckchen, als Absender nur ein Wort: „Fiete“. Ah, schön, ok, denke ich, hat er mal wieder eine selbstgebrannte CD mit seinen Lieblingsreggae-Stücken geschickt. Aber innen klebt dann auf der Plastikhülle so ein gelber Zettel, auf dem steht: „DVD“. Sonst nichts, keine Karte, kein Anschreiben, nichts. Schiebe das Ding ins Notebook und plötzlich läuft da ein uralter Film, auf dem alle Freunde von damals zu sehen sind: Kühnhackl, Fiete, Larry, Groß, Elli, Schaak. Fahren mit ihren Mofas durch Baunatal – so wie wir es in „Easy Rider“ gelernt haben. Das muss mehr als dreißig Jahre her sein. Sieht alles ein bißchen aus wie in Fassbinders: „Acht Stunden sind kein Tag“. Was für ein Flash aus der Vergangenheit. Superschön.

 

 

Danach mit Jürgen ins Burga. Es ist innerhalb von ein paar Wochen das zweite Mal, dass wir allein dort hocken. Zerbröselt die Mittwochsrunde? Weiß nicht, kann sein, scheint so. Hat ja auch länger gehalten als mancher Staat. Aber man könnte mir ja auch mal was sagen. Habe das Gefühl man hat sich geeinigt, aber ich weiß von nichts.

 

 

“Die Geisterbahn …, machst du ja jetzt immer so Fotos rein?” – Mmmh, ja, dachte, dass man was für die Augen hat. Findest du’s blöd? – Jürgen ist zu freundlich, zu diskret, um es so deutlich zu sagen, aber er findet es blöd. Und da keiner gesagt hat, dass er es gut findet, kommen sie halt wieder raus. Oder?

 

 

Ob man ein Tagebuch schreibt, insgeheim, für sich, oder ob man das hier macht, öffentlich, jeden Tag, ist halt doch ein Riesenunterschied. Man stellt sich dauernd unter Beobachtung. Noch dazu, ohne zu wissen, ob jemand wirklich hinguckt. Manchmal regt mich das richtig auf, der Gedanke, dass hier täglich ein paarhundert Leute so zum Gaffen vorbeikommen, immer wissen, was ich mache, was ich denke, was ich fühle, ohne zu reagieren. Sie sagen nichts, sie drehen wieder ab und denken sich ihren Teil. Ach was, egal. Ich rede wie ein Exhibitionist, der sich darüber beschwert, dass es Voyeure gibt.

 

 

9:31 Uhr – Fummele jetzt seit kurz nach fünf an dieser Seite rum. Die Formatierungen sind einfach lächerlich. Jedesmal sieht es anders aus als ich wollte. Dann hängt sich die Seite immer wieder auf. Obwohl ich alle Fotos rausgeschmissen, alles neu geladen habe, funktioniert gar nichts mehr. Dauernd Warnmeldungen. Ok, Rechner neu starten … nützt auch nichts. Schließlich werfe ich die ganze Kategorie raus, lege sie neu an. Ja, endlich, jetzt geht’s. Aber warum? Vodoo!

 

 

Was? Juliette Binoche ist tot? Nee, sie hat nur Geburtstag, zweiundvierzigsten. Tot aber ist Leopold von Sacher-Masoch, an dessen letztem Wohnhaus in Lindheim wir schon öfter mit den Rädern vorbeigekommen sind. Und immer mal wieder gefragt, wo sein Grab ist, aber niemand wusste es. Gestern eine Mail an den Belleville-Verleger Michael Farin, und kurz darauf kam seine Antwort: “In Kürze: 1895 gestorben, im Krematorium in Heidelberg verbrannt, Urne bis zum Tod seiner Frau im Haus in Lindheim, danach nebst Nachlass bei Nachbarn untergestellt, 1923 dann bei Hausbrand zum zweiten Mal verbrannt!“

 

 

 

 

 

Mittwoch, 8.3.2006 – Neunuhrzweiunddreißig, einskommafünf.

 

 

Gestern Abend: „Heimat Nordend“ – Eine Veranstaltung der SPD in der Lutherkirche. Lächeln, Händeschütteln. Ein bisschen aus der „Braut im Schnee“ gelesen. Fühle mich unwohl mit dem Thema. Dem netten Michi Herl scheint es ähnlich zu gehen. Irgendwann sagt er den schönen Satz: „Heimat ist da, wo man beerdigt sein möchte“. Für ihn sei das der Frankfurter Hauptfriedhof, weil dort schon Matthias Beltz und Anne Bärenz liegen. Als hinten jemand winkt und ich endlich erkenne, dass es Jörg ist, fange ich an, mich zu entspannen. Und wenn Pfarrer Haberstock in der Nähe ist, wird sowieso jede Runde angenehmer. Sonst: Bestellte Statements, kein Interesse an irgendeiner Form von Debatte, an Widerspruch, an Erkenntnis. Seltsam unpolitisch das Ganze. Als was werden wir hier gebraucht? Als Stehgeiger?

Es ist das Trauma der Linken, das aus dem 19.Jahrhundert herrührt, als man ihre Vertreter als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichnete. Seitdem reißen die eilfertigen Bekenntnisse zu Heimat und Nation nicht mehr ab. Die Tränen, die Hans Eichel vergoß, als Merz  im Bundestag behauptete – was leider eine Lüge war – dass es mit Ausnahme Willy Brandts keinen führenden Sozialdemokraten gegeben habe, der die Wiedervereinigung gewollt habe …

Später kommt eine alte Dame auf mich zu und erzählt, dass kurz nach dem Krieg am Kleinen Friedberger Platz tatsächlich ein Zahnarzt ermordet worden sei.  

 

 

Todestag von Erich von dem Bach-Zelewski, ein dem kaschubischem Landadel entstammender Militär und SS-Obergruppenführer. Er hat allein am 31.Oktober 1941 in Riga 35.000 Juden ermorden lassen. 1942 erlitt er einen Nervenzusammenbruch infolge der „Vorstellungen im Zusammenhang mit den von ihm selbst geleiteten Judenerschießungen“ – wie ein SS-Arzt ihm attestierte. Zwei Jahre später erhielt er für die Zerschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto das Ehrenkreuz. 1962 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, aber nicht wegen seiner Schuld als Völkermörder, sondern weil er an der Ermordung dreier Kommunisten im Jahr 1933 beteiligt war. „Als einziger NS-Massenmörder, der öffentlich bekannte, was er getan hatte, wurde er niemals wegen seiner Beteiligungen an der Ermordung unzähliger Juden belangt“, schreibt das „Lexikon der Wehrmacht“.

 

 

 

 

 

Dienstag, 7.3. 2006 – Vieruhrundfünf, ein Grad.

 

 

Wenn irgendwo ein Verriss erscheint, erfährt man das seltsamerweise immer sofort. Binnen Stunden erhält man einen Anruf: “Hast du schon gesehen, bei amazon hast du aber echt eine beschissene Bewertung kassiert” – Nee, ehrlich gesagt … ich kann ja später mal schauen.  –  “Ach, komm, Du sitzt doch gerade am Rechner, oder, mach doch die Seite rasch mal auf” – Gut, also … – “Hast Du’s?” – Ja, mmh, nicht gerade nett. – “Und willst Du wissen, wer hinter dem Nickname steckt? Ahnst Du, welche Kollegin dir da einen reingewürgt hat?” – Du meinst …, ach so, ja, ich ahne es … Aber ich will es nicht wissen. Habt ihr gehört: ICH WILL DAS ALLES NICHT WISSEN!

 

 

In „Kulturzeit“ ein irritierender Bericht über den Dirigenten und Musiker Clive Wearing. Durch einen Virus hat er sein Gedächtnis verloren. Sein Erinnerungsvermögen reicht gerade mal zehn Sekunden. Er erkennt seine Frau und seine Musik – sonst nichts.  Er lebt, wie es heißt, „im ewigen Jetzt“. Eine grauenhafte Vorstellung: das komplette Erlöschen der Vergangenheit.  

 

 

Beim Malen und Zeichnen treibt die Technik die eigene Entwicklung an. Selbst das rein Dekoraktive, Abstrakte ist plötzlich denkbar. Nein, nicht denkbar, es ist einfach da, auf dem Papier. Aber eigentümlich, man sucht doch immer wieder nach dem Gegenstand, nach der Aussage.

 

 

Tot ist Alice B. Toklas, die Köchin und Geliebte von Gertrude Stein. Beide sind gemeinsam auf dem Pére Lachaise begraben. Außerdem: Konrad Wolf, Filmregisseur. Martin Kippenberger, Künstler.

 

 

Montag, 6.3.2006 – Fünfuhrachtunddreißig, nullkommasieben.

 

 

Tut mir ja leid, wenn ich hier ein Minderheitenprogramm sende, aber es lässt sich nicht ändern: Mehr braucht es nicht für einen schönen Abend –  Gestern auf arte der Film über den Pariser Cello-Wettbewerb, der alle vier Jahre unter der Leitung von Rostropovitch stattfindet. Gewonnen hat ihn die junge Marie-Elisabeth Hecker (Foto oben), Tochter einer Pfarrersfamilie mit acht Kindern aus Zwickau. Im Wettbewerb spielt sie gemeinsam mit ihrem Bruder Prokofjevs Sonate für Cello und Klavier, die 1950 von Rostropovitch und Richter uraufgeführt wurde. Und als Siegerbeitrag Schostakowitschs Cello-Konzert 0p 107. Ich gebe den Namen der Preisträgerin in die Google-Suche ein: Gerade mal 175 Treffer. Das wird sich gründlich ändern. (Der Film wird am 11.März um 8.00 Uhr auf arte erneut gesendet. Wer ihn dann verpaßt – auf dessen Hauswand schreibe ich “doof”). 

 

 

Todestag von August Merges, Führer der Novemberrevolution, Präsident der Sozialistischen Republik Braunschweig, Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Starb 1945 an den Folgen der fortgesetzten Misshandlungen durch die Gestapo. Bei einem der Verhöre fügte man ihm einen Beckenbruch zu.  Die Behandlung seiner eiternden Wunden wurde verboten. Als einer seiner eifrigsten Verfolger tat sich Dietrich Klagges hervor, braunschweigischer Ministerpräsident von 1933-1945. Klagges lebte nach dem Krieg als Verfasser rechtsradikaler Schriften bis 1971 in Bad Harzburg. Ein Jahr vor seinem Tod sprach ihm das Bundesverwaltungsgericht eine Nachzahlung seiner Ministerpräsidenten-Pension in Höhe von DM 100.000 zu.

 

 

 

Sonntag, 5.3.2006 – Sechsuhrneunundfünfzig, minus einkommaein Grad.

 

 

Gestern abend die schöne DVD mit den Proben zu Brittens Nocturnes für Tenor und kleines Orchester. Im Interview erzählt Britten, dass er seine Werke im Kopf durchkomponiere. Dass er sich keine Notizen machen müsse, weil er gute Einfälle sowieso nicht vergesse. 

 

 

Beim Blättern in alten Unterlagen stoße ich unverhofft auf einen Namen, der mir bekannt vorkommt. Ah ja, richtig, der Mann war Kulturredakteur einer linken Wochenzeitung, auf die ich als Jugendlicher abonniert gewesen bin; später hat er das „ökotest“-Magazin mitgegründet und –geleitet, und damals muss es gewesen sein, dass ich einmal, aus vergessenen Gründen, in seiner Frankfurter Wohnung hockte. Nun gebe ich seinen Namen in die Suchmaschine ein und gerate auf eine Homepage, wo der Mann seine Dienste als schreibender Kopflanger anbietet: „Am liebsten recherchiere und schreibe ich über Themen aus der Gourmet-Szene, über stilvollen Genuss und wertige Produkte“. Ah ja, vom Genossen zum Genießer, man kennt das. Und die „wertigen Produkte“ lesen sich so: „Hammerhart – Keller- oder Wohnungswände, die für einen Dübel aufgebohrt werden müssen, bescheren Männern Albträume. Wirksam hilft dagegen nur ein realer Traum – ein roter Bohrhammer von Hilti.“ Freilich, jeder muss sehen, wie er über die Runden kommt. Allerdings könnte man auch versuchen, es mit Anstand zu tun.

 

 

Heute vor dreiundfünfzig Jahren starben am selben Tag Josef Stalin und Sergej Prokofjev.

 

 

 

 

Samstag, 4.3.2006 – Siebenuhrvier, minus zweikommazwei.

 

 

Gesternabend beim Zappen auf einen Filmbericht über Xavier Naidoo gestoßen. Diese blöden, weichgespülten Rappergesten. André Heller und Peter Ustinov nennt er als seine Vorbilder. Aber er ist nur ein eitler Zeremonienmeister seines sinnhungrigen Publikums. Doch, es sind wirklich seine bis ins Letzte kalkulierten Gesten, die mich schaudern lassen. Ein Simulant durch und durch.

 

 

Dann aber auf dem ZDFdokukanal ein Film von Gabrielle Pfeiffer: „Im Angesicht des Todes“, eine Dokumentation über die verschwundenen Gesichter der Stalinopfer. Nicht nur die Menschen selbst verschwanden in den Lagern und wurden exekutiert. Es sollte auch nichts mehr an sie erinnern. Alle Fotos wurden vernichtet, und wer das Foto eines verhafteten Angehörigen besaß, war selbst mit dem Tod bedroht. Ja, ja, man weiß das. Aber die Bilder, die Gabrielle Pfeiffer dafür findet, die Musik, die Gesichter, die Landschaften, das alles ist so elektrisierend, das ich sofort ganz zappelig werde. Übrig blieben von den „Angeklagten“ oft nur die Fotos, die die Geheimpolizei von ihnen machte: Todtraurige, verräterische Fotos, die das Verhältnis von Ankläger und Angeklagtem umkehren. Frage einer jungen Frau, deren sämtliche Familiedokumente während der „Säuberungen“ vernichtet wurden: „Wie kann man glücklich sein, ohne zu wissen, woher man kommt?“

Was soll man eigentlich davon halten, dass auf den Brötchentüten des Bäckers jetzt für die “Vagina-Monologe” geworben wird? 

 

 

Gestorben ist B.Traven. Von dem es auch nur wenige Fotos gibt.  

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Freitag, 3.3.2006 – Sechsuhrdreiundzwanzig, minus nullkommasieben. Es schneit und schneit. Kopfschmerzen, Halskratzen.

 

 

Aus Österreich ist ein dickes Paket mit CDs gekommen: Der Akkordeonist Klaus Paier mit wechselnden Musikern.

 

 

Beim Frühstück mit Stefan K. so ein bisschen politisches Geplappere. Klar, sind wir für den  Föderalismus. Andererseits wäre es doch auch ganz gut, wenn ab und zu mal jemand ein Machtwort spräche. Zum Beispiel in der Bildungspolitik oder bei der Rechtschreibreform. Also brauchen wir einen König! Ja, gut, ein König. Und Sozialismus wollen wir auch. Mmmh, okay, her damit! Also: die erste föderale sozialistische Monarchie auf deutschem Boden. So dass man „Genosse König“ sagen könnte. Und wer wird König? Am besten doch gleich der wiedergeborene Rio Reiser.

 

 

Günter Pütz ruft an, um zu erzählen, dass sein Film für “Bilderbuch Deutschland” nun endlich am 27.März um 13.45 in der ARD läuft. Wir mußten zweimal drehen, weil der Sendetermin um ein ganzes Jahr verschoben wurde. Gerade, sagt er, sei ein Gespräch mit Anne Chaplet im HR gelaufen, wo die Kollegin ganz unvermittelt gegen mich geschossen habe. Mal wieder. Na, soll sie, in Gottes Namen.

 

 

Am 3.März 1931 starb in Düsseldorf Otto Reutter,  einer der bekanntesten Schauspieler, Komiker und Sänger des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Seinem Lied „In fünfzig Jahren ist alles vorbei“ hat Degenhardt eine kleine Verneigung gewidmet. 

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Donnerstag, 2. März 2006 – Vieruhrachtundzwanzig, nullkommaein Grad.

 

 

In „Kulturzeit“ ein Interview mit dem Pianisten Lang Lang: ein glattes Pausbäckchen, an dem jeder Einwand abrutscht. Aber er hat es schon gelernt: viel lachen, viel quatschen, nichts sagen. Gert Scobel, statt seinem Gegenüber klar zu machen, was er von ihm hält, formuliert um die Ecke: „Es gibt Kritiker, die Ihnen vorwerfen …“ Lang Lang strahlt: Jede Aufmerksamkeit, sagt er, egal, ob Lob oder Kritik, nütze ihm. Da die Redaktion von „Kulturzeit“ das weiß, hätte sie den Pianisten ignorieren müssen. Aber nein, man will „das Phänomen“, dass „in der Öffentlichkeit so kontrovers …“ und „die Kritiker polarisiert“ … blabla.

 

 

Kein Wunder, dass ich mich gewundert hab – die gestrigen Toten waren schon am 1.Februar gestorben. Heute aber denken wir an den Frankfurter Arzt Samuel Thomas von Sömmering, Freund und Briefpartner von Georg Forster. Und an die Malerin Berthe Morisot.

Geburtstag hat John Irving, dessen dicker neuer Roman, den ich leider lesen muss, mir jeden Abend nach zwei Seiten Lektüre auf die Stirn fällt.

 

 

 

 

 

Mittwoch, 1. März 2006 – Fünfuhrachtunddreißig, nullkommanull.

 

 

Gestern Nachmittag bei Atilla, um an der neuen Homepage zu fummeln. Aber ich hocke nur daneben und glotze, wie seine Finger über die Tasten flitzen, wie er mit den verschiedenen Programmen und Masken jongliert. Dann ist er fertig, will die neue Seite freischalten, und … es geht gar nichts mehr. Die alte Seite ist weg, die neue nicht da … Ach du Mist. Und jetzt? Wieder daheim, schon klingelt das Telefon: Alles ok. Und wie schön es geworden ist.

 

 

Zum Weghören: Das Meiste, was gerade auf der Klassik-Bestsellerliste im kultur-Spiegel steht. Liest sich wie ein Gruselkabinett der E-Musik: Anne-Sophie Mutter, Anna Netrebko, Lang Lang, Nigel Kennedy, Christian Thielemann. 

 

 

Zum Hinhören: Die neue Aufnahme von Schuberts Fantasie D. 934 mit Isabelle Faust (Violine) und Alexander Melnikov (Klavier). 

 

 

Todestag von Sergej Eisenstein, Buster Keaton und Hildegard Knef (schon wieder? Kann ja wohl nicht sein!). Und Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, geboren im nordhessischen Breitenau, in Kassel zur Schule gegangen, in Stalingrad gefangen genommen, in Dresden unauffällig bis 1957 gelebt. Wie das so ist mit den Schurken.