Geisterbahn

Ein kleiner Abend Glück – Die Texte

Jan Seghers & Atilla Korap: Ein kleiner Abend Glück

1. Manchmal in durchwachten Nächen

Manchmal, in durchwachten Nächten, denkt man, wie es wohl wäre, wenn alles noch mal ganz anders käme. Dann ist es, als ob der Blitz eines Gewitters die dunkle Landschaft für einen Moment in helles Licht tauchte und dadurch Möglichkeiten sichtbar würden, von denen zu träumen, wir längst vergessen hatten.

Zum Beispiel kann es passieren: siehst du dich sitzen auf einem Stein am nächtlichen Wegrand, die Beine übereinander geschlagen und über dies und jenes nachdenkend. Hinter dir das schlafende Dorf. Die alte Mühle im Mondlicht, das Käuzchen sitzt auf dem toten Ast der großen Buche. Darunter das silbern schimmernde Wasser des Weihers. Die Luft noch immer warm von der Sonne der ersten Maientage. Plötzlich hörst du von Ferne Musik: Maultrommeln und Flöten, ein Tambourin und eine Schalmei. Ein bunter Haufe nähert sich über das Kopfsteinpflaster, Männer und Frauen, ein Pferd und ein Wagen, ein paar Greise und Kinder. Die Kleider geflickt, die Schuhe zerfetzt, die Augen ein wenig wilder als du es kennst von den Leuten im Dorf. Es wird getrunken und getanzt. Ein Junge jongliert mit Bällen aus Lumpen. Das Mädchen im roten Kleid schlägt ein Rad und blinzelt dir zu. Mittendrin eine alte Frau mit schwarzem Haar, ihr schönes Gesicht leuchtet im Schein der Fackeln.
Lange siehst du dem Treiben der Fremden zu. Und fragst dich, wie es kommt, dass die hier so unbeschwert scheinen. Und warum deine Trauer nicht weicht.
Du fasst dir ein Herz und bittest die alte Frau, dir ihr Geheimnis zu verraten.
Sie schaut dich an.
Die Musik verstummt, und die Alte beginnt zu sprechen.

Wir sind, sagt sie, wie Sterbende, und seht: wir leben
Wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet
Uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir fröhlich.
Wir sind arm  und machen doch viele reich.
Wir haben nichts und haben doch alles.
Unsere Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen
Das Netz ist zerrissen, und wir sind frei.

Die Musik setzt wieder ein, der bunte Haufe zieht weiter. Langsam verklingen die Lieder im dämmernden Morgen. Und in den Hecken im Ried schreien die ersten Vögel.
Du bleibst auf deinem Stein am Wegrand sitzen, die Beine übereinander geschlagen und denkst über dies und jenes nach. Zum Beispiel denkst du, wie es wohl wäre, wenn du im nächsten Frühjahr doch mit ihnen zögest.

(Jan Seghers)

2. Eine Kuhmagd. Die Götter

Unser Grab erwärmt der Ruhm.
Torenworte! Narrentum!
Eine beßre Wärme gibt
Eine Kuhmagd, die verliebt
Uns mit dicken Lippen küßt
Und beträchtlich riecht nach Mist.
Gleichfalls eine beßre Wärme
Wärmt dem Menschen die Gedärme,
Wenn er Glühwein trinkt und Punsch
Oder Grog nach Herzenswunsch
In den niedrigsten Spelunken,
Unter Dieben und Halunken,
Die dem Galgen sind entlaufen,
Aber leben, atmen, schnaufen.
(Heinrich Heine)

Denn Alles
Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
(Johann Wolfgang von Goethe)

3. Fahrt in den Süden
Der Bundschuh war eine Fußbekleidung: ein Stück Leder, das mit einem Riemen am Knöchel befestigt wurde. Die Germanen trugen sie und später die Bauern. Und so machten die südwestdeutschen Landbewohner den Bundschuh zum Zeichen ihres Kampfes, als sie sich um das Jahr 1500 unter der Führung von Joss Fritz gegen die Willkür der Fürsten auflehnten. Ein Aufstand des Volkes, der mit einer der blutigsten Niederlagen unserer Geschichte endete.
Wie rasch man doch vergisst. Wie lange das doch wirkt.
Auf unserer Fahrt in den Süden machen wir Halt, packen am Waldrand den Campingtisch aus und die Kühlbox mit Käse und Wein. Nicht weit von uns in der Senke ein Dorf, eine Wiese, ein Bach. Und ein uralter Friedhof, über den jetzt die Autobahn führt. Die Stelen aus Sandstein zerbröselt, der Efeu wuchert, eine Katze duckt sich ins Gras. Kinder, was geht’s uns gut, sagst du, ganz im Tonfall deiner Mutter. Und wir lachen und prosten uns zu.
Das eiserne Gittertor quietscht, ein alter Mann tritt hervor, bleibt stehen, blinzelt und kommt zu uns rüber. Sein Lächeln ein wenig verrutscht und die Augen mit Tränen gefüllt. Wir sollens nicht sehen. So lässt sich’s leben, sagt er und dass er hier Lehrer war. Mit dem Kopf zeigt er rüber zum Friedhof: Da gibt es Tote, sagt er, die sind älter als fünfhundert Jahre, aus jener Zeit, als hier die Männer des Bundschuh Unterschlupf fanden und der Fürst seine Reiter schickte. Naja, sagt er, na ja. Und wackelt davon.
Du schaust mich an.  Und einen Moment lang meinen wir ihn zu riechen, den beißenden Qualm aus den lodernden Katen. Und das verbrannte Fleisch. Im sanften Frühlingswind schaukeln die Erhängten in den Bäumen, aus deren Zweigen gerade das erste Grün der neuen Blätter sprießt. Fünfhundert Jahre.
Ein junges Paar auf Rädern kommt vorbei und sucht nach einem Platz für … na ja.. Die beiden wollen uns nicht sehen. Natürlich nicht. Noch lange hören wir aus dem Wald ihre leiser werdenden Rufe. Und auch den dummen Eichelhäher, der die Welt vor den Liebenden warnt.

(Jan Seghers)

4. Der Herr ist mein Hirte

Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

(Martin Luther)

5. Der Prinz von Homburg

Das Leben nennt der Derwisch eine Reise,
Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen
Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter.
Ich will auf  halbem Weg mich niederlassen!
Wer heut sein Haupt noch auf der Schulter trägt,
Hängt es schon morgen zitternd auf den Leib,
Und übermorgen liegts bei seiner Ferse.
Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch,
Und über buntre Felder noch, als hier:
Ich glaubs; nur schade, dass das Auge modert,
Das diese Herrlichkeit erblicken soll.

(Heinrich von Kleist)

6. Golden Boys

Manchmal gehe ich ins Café, um bei meinen drei Alten im Schatten zu sitzen. Vor allem im Frühling, wenn draußen alles lacht und blüht und Beine zeigt. Verkrieche ich mich.
Die Jungen sagen mir nichts mehr. Ihr Fleisch, na gut, ist nicht zu unterschätzen. Aber in Kürze wird auch das bloß noch Erinnerung sein. Die schönste Erinnerung vielleicht. Vielleicht die einzige.
Aber so lange sie reden, sind die Jungen kaum zu ertragen. Quatschen alles voll. Wollen sich noch klarwerden. Wollen staunen. Wollen Hoffnung haben, Kinder, Und Geld. Zappeln rum. Und suchen einen Sinn. Kann man ja auch verstehen, müssen ja fast noch ein ganzes Leben hinter sich bringen. Wollen wissen, wen man besser findet: Merkel oder Schröder. Brad Pitt oder diCaprio. DJ Bobo oder Stefan Raab. Das ist schon alles, was ihnen an Alternativen einfällt. Tun lässig und haben feuchte Hände.  Machen auf Cleverle und kriechen jedem Kasper auf den Leim.
Die Alten schweigen wenigstens oder haben sich in ihren Sprüchen eingerichtet, weil sie wissen, daß das, was kommt, keine Worte mehr braucht, keine ernstgemeinten jedenfalls, keine, deretwegen es sich lohnen würde, die Denkmaschine nochmal anzuwerfen. Träumen vielleicht noch ein bißchen von Marlene Dietrich oder Clara Zetkin. Oder Pipi Langstrumpf. Lesen die Todesanzeigen. Und lachen. Zählen ihre Toten. Stehen an den Gräbern ihrer Liebsten und strecken für einen Moment ihre schönen häßlichen alten Gesichter in die Sonne und sagen: Bis bald.
Jetzt hocken sie da, wo sie immer hocken, und trinken ihren Pfefferminzlikör. Der eine war Portier, der andere Kunstprofessor und der dritte Busfahrer. Aber das war damals. Haben sie alles vergessen. Wie das meiste, was nach ihrer Kindheit passiert ist.
Nur nachts, wenn sie im Bett liegen, allein, und wenn der Schlaf vor lauter Müdigkeit nicht kommen will, denken sie schonmal an früher. An ihre Zeit, wie sie das nennen, die großen Tage, als oben noch oben und unten noch unten war. Und als alle das noch wußten.
Daß man so alt sei wie man sich fühle? Papperlapapp! Mit solchen Sprüchen aus der Seniorenzeitung darf man ihnen nicht kommen. Denn Angst vorm Sterben haben sie immer noch. Und jeden Tag ein bißchen mehr. Jetzt, wo ihre Zeit knapper wird und die Tage immer länger.
Manchmal gehen sie zusammen zum Steinmetz und suchen sich jeder einen Grabstein aus. Geben ihre Bestellung auf und unterschreiben dann mit falschem Namen.
Wenn sie so durch die Stadt wackeln, kann es schonmal passieren, daß ein paar Junge stehenbleiben, sich anstoßen und sie auslachen. Aber meine Alten, statt böse zu werden, lachen zurück. Verstehen nur noch, was sie verstehen wollen. Allerdings, wenn irgendwo paar junge Nazis lungern und Zeitungen verteilen, gehen sie hin und fangen Streit an. Das nicht, sagen sie dann, das nicht mehr. Und schimpfen auf die Gaffer, die bloß dastehen, mit den Achseln zucken und blöde grinsen. Als ob man dieses Pack gewähren lassen dürfe.
In den Supermarkt gehen sie nur abends. Wenn alle da sind, wenn richtig was los ist. Kaufen zwei, drei Teile, suchen an der Kasse fünf Minuten lang ihr Portemonnaie, bis hinter ihnen alles murrt und meckert. Dann freuen sie sich und sagen: „‘Schuldigung, komme gleich nochmal wieder.“
Fernsehen? Ja, so viel wie reingeht. Bei „Alf“ können sie die meisten Dialoge mitsprechen. Von „Golden Girls“ verpassen sie keine Folge, können sie noch was lernen. Ab und zu „Bezaubernde Jeannie“. Und zum Ablachen: Fernsehpastor „Fliege“.
Sex ist auch vorbei, so gut wie. Höchstens, daß sie sich mal anfassen, jeder für sich und im Stillen. Und heimlich im Supermarkt die Zeitschriften durchblättern. Mal durch den Park streifen und gucken, wer so liegt. Oder mal die neue Pflegerin in den Hintern kneifen. Und dann gekichert, als wär man gaga. Was man natürlich auch ist.
Schön stumpf sind die Alten. Dröhnen. Schaukeln ein bißchen mit dem Kopf. Trommeln den Radetzkymarsch auf die Tischplatte. Oder das Einheitsfrontlied. Rufen sich Stichworte zu. Oder die Nummern von Witzen. Kennen ja sowieso schon alles. Was soll man ihnen noch vormachen, nach all den Eiszeiten und Kriegen und Irrtümern?
Der Busfahrer weint jetzt. Er hat ein wenig von seinem Pfefferminzlikör auf den Tisch geschüttet, um die Fliegen betrunken zu machen. Jetzt torkeln sie, und er schlägt nach ihnen. Er ist halt auch bloß verrückt. Er ist halt auch bloß ein Mensch.
Neulich, erzählen die drei, waren sie im Kaufhaus zum Klauen. Und haben sich erwischen lassen. Nur so. Zur Abwechslung. Und als ihnen dann der junge Abteilungsleiter eine Standpauke gehalten hat, haben sie ihm mal was von damals erzählt, von Not und Hunger und Stalingrad. Später hat sie dann ein Polizeiwagen nach Hause gebracht. Ins Heim. Haben sie den Fahrer gebeten, mal eben das Blaulicht anzuschalten. Und sich gefreut, als die anderen Alten am Fenster standen und vor lauter Staunen die Nüstern blähten.

(Jan Seghers)

7. Liebestrilogie

Als ich nachher von dir ging
An dem großen Heute
Sah ich, als ich sehn anfing
Lauter lustige Leute.

Und seit jener Abendstund
Weißt schon, die ich meine
Hab ich einen schönern Mund
Und geschicktere Beine.

Grüner ist, seit ich so fühl
Baum und Strauch und Wiese
Und das Wasser schöner kühl
Wenn ich`s auf mich gieße.
(Bertolt Brecht. Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages)

Da kommt ein Mädchen, lacht,
nein, weint
Und hat Sandalen an.
Da weht auch Wäsche an den Stangen
Der Ruf der Mutter hell herüber über ungezählte Blüten
Die Lok rangiert
Und auf den Kohlehalden
Sitzt müd ein Mann
Der denkt an Beine
Isst sein Brot
Und weiß nichts von dem Himmel
Wo jetzt ein Flugzeug lautlos … explodiert.
(Jan Seghers)

Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen andern erwählt;
Der andre liebt eine andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.
Das Mädchen heiratet aus Ärger
Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen;
Der Jüngling ist übel dran.
Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.
(Heinrich Heine)

8. Was aber ist die Liebe?

Was Prügel sind, das weiß man schon; was aber die Liebe ist, das hat noch keiner herausgebracht.
Einige Naturphilosophen haben behauptet, es sei eine Art Elektrizität. Das ist möglich; denn im Momente des Verliebens ist uns zu Mute, als habe eine elektrischer Strahl aus dem Auge der Geliebten plötzlich in unser Herz eingeschlagen.
Ach! diese Blitze sind die verderblichsten, und wer gegen diese einen Ableiter erfindet, den will ich höher achten als Franklin.
Gäbe es doch kleine Blitzableiter, die man auf dem Herzen tragen könnte, und woran eine Wetterstange wäre, die das schreckliche Feuer anderswo hin zu leiten vermöchte.
Ich fürchte aber, dem kleinen Amor kann man seine Pfeile nicht so leicht rauben, wie dem Jupiter seinen Blitz und den Tyrannen ihr Zepter.
Außerdem wirkt nicht jede Liebe blitzartig; manchmal lauert sie, wie eine Schlange unter Rosen, und erspäht die erste Herzenslücke, um hineinzuschlüpfen; manchmal ist es nur ein Wort, ein Blick, die Erzählung einer unscheinbaren Handlung, was wie ein lichtes Samenkorn in unser Herz fällt, eine ganze Winterzeit ruhig darin liegt, bis der Frühling kommt, und das kleine Samenkorn aufschließt zu einer flammenden Blume, deren Duft den Kopf betäubt.
Dieselbe Sonne, die im Niltal Ägyptens Krokodileier ausbrütet, kann zugleich in Potsdam an der Havel die Liebessaat in einem jungen Herzen zur Vollreife bringen – dann gibt es Tränen in Ägypten und Potsdam.
Aber Tränen sind noch lange keine Erklärungen – Was ist die Liebe? Hat keiner ihr Wesen ergründet? hat keiner das Rätsel gelöst?
Doch vielleicht bringt solche Lösung größere Qual als das Rätsel selbst, und das Herz erschrickt und erstarrt darob, wie beim Anblick der Medusa.

(Heinrich Heine)

9. Unter jedem Grabstein
Aber ach! Jeder Zoll, den die Menschheit weiter rückt, kostet Ströme Blutes; und ist das nicht etwas zu teuer? Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht eben so viel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt – unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte – Still davon, so würden die Toten sprechen, die hier gefallen sind, wir aber leben und wollen weiter kämpfen im heiligen Befreiungskriege der Menschheit.

(Heinrich Heine)

10. Die Zeit der Kirschen

Im Kampf um die Pariser Commune von 1871 zog das Volk zum ersten Mal in der Geschichte nicht für eine andere Klasse in die Schlacht, sondern für sich selbst. Siebzig Tage nur hielt man die Macht. Siebzig kurze Tage, siebzig lange Nächte – dann war man geschlagen.
Die letzten Kommunarden verschanzten sich im Osten von Paris auf dem Friedhof Père Lachaise, wo sie an einer Mauer erschossen und in einem Massengrab verscharrt wurden.
Neben ihnen begraben liegt auch Jean-Baptiste Clément, der Autor jenes Liedes, das die Commune zu ihrer Hymne  gemacht hatte: Le temps des cerises – Die Zeit der Kirschen. Ein kleiner Schlager nur, aber bis heute, allen Umfragen zu folge, noch immer das Lieblingslied der Franzosen. Allein dafür möchte man unser Nachbarland beneiden.

Von all dem, wie von so vielem anderen, wusste ich nur wenig, als ich an einem Frühlingsabend vor fast dreißig Jahren in einer Bar im Pariser Stadtviertel Belleville die Krankenschwester Marie-Helene kennen lernte.
Sie mache gerade, sagte sie, als sie sich bei mir unterhakte, einen kurzen Urlaub vom Leben. Und sagte nicht, was das heißt.
Als ich am nächsten Morgen in unserem kleinen Hotelzimmer erwachte, stand sie schon vor dem Spiegel, kämmte ihr Haar und sang dieses Lied von der Kirschenzeit, die so süß, so kurz und so schmerzensreich sei.
In den kommenden elf Tagen zeigte mir Marie-Helene ihr Viertel und ihre Stadt. Und immer wieder liefen wir über den Friedhof Père Lachaise, legten mal bei Chopin eine Rose nieder, grüßten den dicken Balzac und winkten der kleinen Piaf, die hier im Viertel geboren wurde und gestorben ist und die jetzt – wie immer – von Bewunderern umringt war.
Über die hässliche Sphinx auf dem protzigen Grab von Oscar Wilde lachten wir und zogen rasch weiter. Bei dem großen Proust allerdings blieben wir lange, bis wir merkten, dass hinter uns eine alte Frau stand, die darauf wartete, ihre Feldblumen abzulegen. Marie-Helene zog mich fort. Das, sagte sie, war seine Haushälterin. Sie hat ihn um mehr als fünfzig Jahre überlebt und kommt doch noch immer hierher.

Am nächsten Morgen war Marie-Helene verschwunden. Ein paar Tage später brachte mir der Concierge eine Karte. Ihr Urlaub sei zu Ende, schrieb sie. Und dass sie zurückgekehrt sei zu ihrem Mann und den Kindern. Aber auch: dass sie nichts bereue. Darunter, statt ihrer Unterschrift, ein Kußmund aus Lippenstift. Und ein Postkriptum: Auch dir, wenn die Kirschenzeit kommt, wird die Liebe viel Schmerzen bereiten. Doch die Kirschenzeit lieb ich noch immer, wenn ich an dich und an uns mich erinner.

(Jan Seghers)

11. Später im Jahr

Später im Jahr
Wenn der Staub über den Feldern liegt
Und die Spreu in alle Poren dringt
Wenn der Sommer ein letztes Mal trügerisch brennt
Bevor der Herbst seine Winde bringt
Dann bist du da.

Später im Jahr
Wenn die letzten Schwimmer
Schon Fröstelnd dem Wasser entsteigen
Und die Tage sich mittags in Müdigkeit neigen.
Bist du noch da.

Später im Jahr
Wenn die Gärten ihre Früchte verschwenden
Und Fragen in Gewissheiten enden
Bist du da.

Später im Jahr
Wirst du immer noch da sein

Wirst du … immer noch da sein?

(Jan Seghers)

12. Meine Seele ist so wund
Deine Briefe haben mir das Herz zerspalten, meine teuerste Marie, und wenn es in meiner Macht gewesen wäre, so versichre ich Dich, ich würde den Entschluß zu sterben, den ich gefaßt habe, wieder aufgegeben haben.
Aber ich schwöre Dir, es ist mir ganz unmöglich länger zu leben. Meine Seele ist so wund, daß mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert. Das wird mancher für Krankheit und überspannt halten; nicht aber Du, die fähig ist, die Welt auch aus andern Standpunkten zu betrachten als aus dem Deinigen.
Dadurch daß ich mit Schönheit und Sitte, seit meiner frühsten Jugend an, in meinen Gedanken und Schreibereien, unaufhörlichen Umgang gepflogen, bin ich so empfindlich geworden, daß mich die kleinsten Angriffe, denen das Gefühl jedes Menschen nach dem Lauf der Dinge hienieden ausgesetzt ist, doppelt und dreifach schmerzen. …
Ich habe meine Geschwister immer von Herzen lieb gehabt … Nun ist es zwar wahr, es war in den letzten Zeiten, von mancher Seite her, gefährlich, sich mit mir einzulassen, und ich klage sie desto weniger an, sich von mir zurückgezogen zu haben, je mehr ich die Not des Ganzen bedenke, die zum Teil auch auf ihren Schultern ruhte.
Aber der Gedanke, das Verdienst, das ich … habe, gar nicht anerkannt zu wissen, und mich von ihnen als ein ganz nichtsnutziges Glied der menschlichen Gesellschaft, das keiner Teilnahme mehr wert sei, betrachtet zu sehn, ist mir überaus schmerzhaft. Wahrhaftig, es raubt mir nicht nur die Freuden, die ich von der Zukunft hoffte, sondern es vergiftet mir auch die Vergangenheit.
Und die Allianz, die der König jetzt mit den Franzosen schließt, ist auch nicht eben gemacht mich im Leben festzuhalten. Mir waren die Gesichter der Menschen schon jetzt zuwider, … nun würde mich gar, wenn sie mir auf der Straße begegneten, eine körperliche Empfindung anwandeln, die ich hier … nicht nennen mag.

Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allen anderen, meine teuerste Ulrike, mir Dir versöhnt zu haben. Laß sie mich, die strenge Äußerung, die in dem Briefe an die Kleisten enthalten ist, laß sie mich zurücknehmen.
Wirklich, Du hast an mir getan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß. Dein Heinrich.
Stimmings bei Potsdam – am Morgen meines Todes.

(Heinrich von Kleist)

13. Winterlandschaft

Unendlich dehnt sie sich, die weiße Fläche,
bis auf den letzten Hauch von Leben leer;
die muntern Pulse stocken längst, die Bäche,
es regt sich selbst der kalte Wind nicht mehr.
Der Rabe dort, im Berg von Schnee und Eise,
erstarrt und hungrig, gräbt sich tief hinab,
und gräbt er nicht heraus den Bissen Speise,
so gräbt er, glaub’ ich, sich hinein ins Grab.
Die Sonne, einmal noch durch Wolken blitzend,
wirft einen letzten Blick auf’s öde Land,
doch, gähnend auf dem Thron des Lebens sitzend,
trotzt ihr der Tod im weißen Festgewand.

(Friedrich Hebbel)

14. Ein Brief aus dem Gefängnis

Jetzt ist es ein Jahr, daß Karl in Luckau sitzt. Ich habe in diesem Monat oft daran gedacht, und genau vor einem Jahr waren Sie bei mir, haben mir den schönen Weihnachtsbaum beschert … Heuer habe ich mir hier einen besorgen lassen, aber man brachte mir einen ganz schäbigen, mit fehlenden Ästen – kein Vergleich mit dem vorjährigen. Ich weiß nicht, wie ich darauf die acht Lichtlein anbringe, die ich erstanden habe.
Es ist mein drittes Weihnachten im Kittchen, aber nehmen Sie es ja nicht tragisch. Ich bin so ruhig und heiter wie immer. Gestern lag ich lange wach – ich kann jetzt nie vor ein Uhr einschlafen, muß aber schon um zehn ins Bett – dann träume ich verschiedenes im Dunkeln.
Gestern dachte ich also: Wie merkwürdig das ist, daß ich ständig in einem freudigen Rausch lebe – ohne jeden besonderen Grund. So liege ich zum Beispiel hier in der dunklen Zelle auf einer steinharten Matratze, um mich im Hause herrscht die übliche Friedhofstille, man kommt sich vor wie im Grabe. Von Zeit zu Zeit hört man nur ganz dumpf das ferne Rattern eines vorbeigehenden Eisenbahnzuges oder ganz in der Nähe unter den Fenstern das Räuspern der Schildwache, die in ihren schweren Stiefeln langsam ein paar Schritte macht, um die steifen Beine zu bewegen. Der Sand knirscht so hoffnungslos unter diesen Schritten, daß die ganze Öde und Ausweglosigkeit des Daseins daraus klingt in die feuchte dunkle Nacht.
Da liege ich still allein, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis, Langeweile, Unfreiheit des Winters – und dabei klopft mein Herz von einer unbegreiflichen, unbekannten inneren Freude, wie wenn ich im strahlenden Sonnenschein über eine blühende Wiese gehen würde. Und ich lächle im Dunkeln dem Leben, wie wenn ich irgendein zauberhaftes Geheimnis wüßte, das alles Böse und Traurige Lügen straft und in lauter Helligkeit und Glück wandelt.
Und dabei suche ich selbst nach einem Grund zu dieser Freude, finde nichts und muß wieder lächeln über mich selbst. Ich glaube, das Geheimnis ist nichts anderes als das Leben selbst. die tiefe nächtliche Finsternis ist so schön und weich wie Samt, wenn man nur richtig schaut. Und in dem Knirschen des feuchten Sandes unter den langsamen schweren Schritten der Schildwache singt auch ein kleines schönes Lied vom Leben – wenn man nur richtig zu hören weiß.

In solchen Augenblicken denke ich an Sie und möchte Ihnen so gern diesen Zauberschlüssel mitteilen, damit Sie immer und in allen Lagen das Schöne und Freudige des Lebens wahrnehmen, damit auch Sie im Rausch leben und wie über eine bunte Wiese gehen.
Ich denke ja nicht daran, Sie mit Asketentum, mit eingebildeten Freuden abzuspeisen. Ich gönne Ihnen alle reellen Sinnesfreuden. Ich möchte Ihnen nur noch dazu meine unerschöpfliche innere Heiterkeit geben, damit ich um Sie ruhig bin, daß Sie in einem sternbestickten Mantel durchs Leben gehen, der Sie vor allem Kleinen und Trivialen schützt.
Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt. Auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken …, die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert.
Neulich kam so ein Wagen, bespannt, statt mit Pferden, mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum erstenmal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz mit großen sanften Augen.
Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen … die Soldaten, die den Wagen führen, erzählen, daß es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benutzen.
Sie wurden furchtbar geprügelt … Dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewöhnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenutzt, um alle möglichen Lasten zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde.
Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen, daß die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! „Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid“, antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger drein …
Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete … Sonitschka.  Die Büffelhaut ist ja sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen.
Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still und erschöpft, und eins, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind.
Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll …
Ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen. Man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte.
Wie weit, wie unerreichbar  die freien saftigen grünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten.
Und hier diese fremde schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden furchtbaren Menschen, und – die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt …
Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht und Sehnsucht.
Der Soldat aber steckte beide Hände in die Hosentaschen, spazierte mit großen Schritten über den Hof, lächelte und pfiff leise einen Gassenhauer. Und dieser … ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei.
Sonjuschka, Liebste, seien Sie trotz alledem ruhig und heiter. So ist das Leben, und so muß man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd – trotz alledem.
Schreiben Sie schnell, ich umarme Sie,
Ihre Rosa

(Rosa Luxemburg)

15. An den Schwankenden

Du sagst:
Es steht schlecht um unsere Sache.
Die Finsternis nimmt zu. Die Kräfte nehmen ab.
Jetzt, nachdem wir so viele Jahre gearbeitet haben
Sind wir in schwierigerer Lage als am Anfang.
Der Feind aber steht stärker da denn jemals.
Seine Kräfte scheinen gewachsen.
Er hat ein unbesiegliches Aussehen angenommen.
Wir aber haben Fehler gemacht, es ist nicht zu leugnen.
Unsere Zahl schwindet hin.
Unsere Parolen sind in Unordnung. Einen Teil unserer Wörter
Hat der Feind verdreht bis zur Unkenntlichkeit.
Was ist jetzt falsch von dem, was wir gesagt haben
Einiges oder alles?
Auf wen rechnen wir noch? Sind wir Übriggebliebene, herausgeschleudert
Aus dem lebendigen Fluß? Werden wir zurückbleiben
Keinen mehr verstehend und von keinem verstanden?
Müssen wir Glück haben?
So fragst du. Erwarte
Keine andere Antwort als die deine!

(Bertolt Brecht. Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages)

16. Hinter den Hügeln

Dort, hinter den Hügeln
Siehst du
weitet  sich das Land.
Vergessen sein wird Vieles,
aber am Bach dort die Weiden
trauern noch immer.

Ein Haus vielleicht, vielleicht auch Rauch,
auf jeden Fall ein Weg,
der da ist
ohne Ziel.

Das Lied der Schäferin hat einen neuen Klang.
Und wunschlos vergehen die Tage.
Manchmal noch trifft man
zerborstenen Asphalt,
der keine Erinnerung mehr weckt.

Francesco, der ewig Verrückte
Schlägt seinen Hund nicht mehr.
Keiner lacht ihn aus dort
hinter den Hügeln.
Weitet sich das Land.

(Jan Seghers)

17. Liebeslitanei

Mein Leben.
Mein liebes, süßes Leben.
Mein Lebenslicht.
Mein Alles, mein Hab und Gut.
Mein Süßtönender.
Mein Hyazinthen-Beet
Mein Morgen- und Abendrot.
Mein Tau.
Mein Goldkelch.
Meine Luft und meine Wärme.
Meine süßeste Sorge.
Mein Paradies.
Meine Einsamkeit.
Meine Rast, meine Trauerweide.
Mein schönes Tal.
Mein Schatten am Mittag, mein Quell in der Wüste.
Mein Lehrer und Schüler.
Meine Himmelspforte.
Meine Seele sollst Du haben.

(Heinrich von Kleist, Henriette Vogel)

18. Zwischen den Zeiten

Dort hinten vielleicht bei den Hütten im Moor
Da ist noch nicht alles für immer vorbei
Da wird schon geplant, gelacht und geflüstert
Da prescht wenn es Tag wird ein Reiter durchs Tor

Da zieht durch die Auen am Morgen ein Nebel
da wirft man am Mittag die Kleider schon weg
da schwimmt man am Abend in grünlichen Flüssen
und sitzt wenn es Nacht wird noch immer am Steg

Da zwinkert die Magd beim Tanz auf der Tenne
Da raunt der Pastor, was er weiß ihr ins Ohr
Da findet man Bilder für uralte Träume
Es lärmen die Frösche noch immer im Chor.

Da gibt man sich Namen für kommende Kämpfe
Und singt schon die Lieder der kommenden Zeit
Da wickelt man Waffen aus Ölpapier aus
Und ist, wenn es Not tut, zu allem bereit.

Da jagen die Wolken am Himmel wie Fohlen
Da ist nichts vergessen und niemand verloren
Da riecht es nach Myrre, nach Dung und nach Flieder
Da werden trotz allem noch Kinder geboren

Da treibt eine Barke ans struppige Ufer
Da torkeln die Falter wie trunken am Teich
Da spielen die Kinder gefährliche Spiele
Und planen für sich ein ganz hiesiges Reich

Da hört man vom Bahndamm ein heißeres Rufen
Da liebt sich wer kann, wie er mag, wo er will
Dann geht eine Sonne am Nachthimmel auf
Und ist es danach manchmal unsagbar still

Da hockt man ums Feuer und reibt sich die Augen
Da steigt ein Rauch aus den Feldern empor
Da wird, wie so oft schon, von vorne begonnen
Dort hinten, wer weiß, bei den Hütten im Moor.

(Jan Seghers)