Geisterbahn

Freitag, 31. März 2017 – Zehnuhreinundvierzig, dreizehnkommasechs. Blau der Himmel. Überall die Blüten.

Vor ein paar Tagen bei Peter Gay folgendes Zitat aus dem Tagebuch der Brüder Goncourt entdeckt: „Die Welt geht erst an dem Tage unter, an dem die jungen Mädchen aufhören, über schmutzige Witze zu lachen.“ – Ein interessanter, weil rätselhaft bleibender Satz. Weil ich gern wissen würde, wie er im Original heißt und in welchem Zusammenhang er steht, suche ich im Netz nach einer Ausgabe des Journals. Tatsächlich werde ich fündig, allerdings gibt es diesen Satz dort nicht. Der Grund: Nur die neunbändige, noch zu Lebzeiten von Edmond de Goncourt erschienene Edition ist online gestellt und als eBook erhältlich. Die aber ist wertlos, da gründlich bereinigt. Erst in den Jahren 1956 bis 1958 ist in Monaco unter der Schirmherrschaft von Fürst Rainier III. eine vollständige Ausgabe erschienen. Es gibt sie weder im Buchhandel noch im Netz. Das heißt, ich bin auf die deutsche Übersetzung des gesamten Tagebuchs angewiesen, die 2013 im Haffmans Verlag erschienen ist. Sie kostet 200 Euro, nicht viel für 11 Leinenbände und ein broschiertes Beibuch. Ich bestelle sie am Dienstag, am Mittwoch ist sie da. Wieder suche ich nach meinem Satz und finde ihn nun in dieser Übersetzung: „Die Welt wird an jenem Tag zu Ende gehen, an dem die jungen Mädchen nicht mehr über skatologische Witze lachen.“ Klingt gar nicht rätselhaft, gar nicht interessant, klingt, als sei hier ein Mord geschehen.
Sollte irgendwer dort draußen im Lande die monegassische Gesamtausgabe besitzen und mir die französische Formulierung nennen können, wäre ich für eine eMail dankbar. Der Eintrag findet sich zwischen dem 22. und dem 25. September 1855.
altenburg@janseghers.de

Heute vor einem Jahr ist Imre Kertész gestorben.

Freitag, 24. März 2017 – Zwölfuhrsechsundzwanzig, zwölfkommasechs Grad. Der Himmel so gemischt.

Gruseliges Gespräch mit Martin Walser in der „Zeit“. Gruselig egomanisch. Ich, ich, ich. Ich links. Ich rechts. Ich pubertär. Ich verantwortungslos. Ich unschuldig.

Schuld am Aufstieg des Rechtspopulismus, so liest man in den Feuilletons und hört man auf den Parties, sei das jahrzehntelange Diktat der Linksliberalen. „Die grenzenlose Öffnung unserer Gesellschaft hat die ganz normalen Menschen überfordert“, sagt der grauhaarige, leutselige Herr und lässt keinen Zweifel, dass er sich zu diesen Menschen zählt. Heißt das, ich muss nun dagegen sein, dass Frauen wählen dürfen, aber für die Abschaffung des Asylrechts, für die Wiedereinführung des Paragrafen 175 und der Todesstrafe, damit die AFD kleingehalten wird und der pensionierte schwäbische Schuldirektor wieder mit seiner Welt im Reinen ist?

Sonntag für Sonntag wedeln mehr und mehr lächelnde Menschen beim „Puls of Europe“ mit ihren gelb besternten blauen Fähnchen. Warum bloß habe ich den Eindruck, dass hier das Westend gegen die Nordweststadt auf die Straße geht, das Nordend gegen Griesheim, das 7. Arrondissement gegen die Banlieues?

Als ich vor Jahren dem Kollegen Herburger, der zu jener Zeit oft anrief und dann lange sprach, einmal sagte, dass ich nicht gerne telefoniere, fragte er: „Wovor hast du Angst? Vor den Worten?“
Aber nein, es ist keine Angst, eher ist es so, dass ich mich beim „Ferngespräch“ immer awkward fühle. Rührt das womöglich her von einem Misstrauen gegen Worte, oder gegen gesprochene Worte, oder gegen gesprochene Worte, deren Sprechern ich nicht ins Gesicht sehen kann? Ich mag originelle, leidenschaftliche Großmäuler, wie wir sie neulich hier versammelt hatten. Aber nichts schlimmer als die Schwätzer, die – beim Versuch, für sich zu interessieren – ihr Gegenüber mit monotonem Schwall sedieren. Also: nicht abheben!

In Chicago, so wird berichtet, sei ein 15-jähriges Mädchen von fünf bis sechs Männern vergewaltigt und das Verbrechen live auf Facebook übertragen worden. Von den vierzig Zuschauern habe keiner die Polizei benachrichtigt. Am gleichen Tag die Meldung, dass zahlreiche große Werbekunden von Google ihre Aufträge storniert haben, weil sie ihre Anzeigen nicht länger „in der Nähe von extremistischen Videos und Hassvideos“ sehen wollten. Google erklärt nun: „Ab heute nehmen wir eine kompromisslosere Haltung gegenüber hasserfüllten, beleidigenden und herabwürdigenden Inhalten ein.“ Bislang also hat man keine Kompromisse gemacht, jetzt will man überhaupt keine mehr machen …

Heute vor 37 Jahren wurde Óscar Romero, Erzbischof von El Salvador, erschossen. Sein Mörder war ein vom US-Militär ausgebildeter Scharfschütze, der den ebenfalls von den USA unterstützten Todesschwadronen angehörte. Kurz vor der Tat waren aus Hubschraubern über der Hauptstadt San Salvador Flugzettel abgeworfen worden mit der Aufforderung: „Sei ein Patriot – Töte einen Priester“.

Mittwoch, 8. März 2017 – Vierzehnuhrsieben, fünfkommasieben. Schüttet. Eben im Autoradio Telemanns Konzert für Viola, zwei Violinen und Basso continuo. „Das war schon ein guter Kerl, dieser Telemann“. Hat Matthias Beltz gesagt.

„Wer morgens aufsteht“, schreibt Salomon Korn, „muss wissen, dass an diesem Tag die Demokratie neu erkämpft werden muss. (…) Wer mit dem Unvorhergesehenen, dem Vielfältigen, dem Differenzierten nicht leben kann, ist für die Demokratie nicht wirklich reif.“

Wie er mir schon jetzt auf den Senkel geht, der Kandidat Schulz, mit seinem Engagement für die „hart arbeitenden Menschen“, das er – gefühlt – in jedem zweiten Satz seiner hölzernen Reden behauptet. Und weit und breit niemand, der sich mal für uns Faulenzer ins Zeug legte.

Was einem alles entgehen kann, wenn man sich nicht gelegentlich im Abseits umtut: Nie gelesen hatte ich Robert Frosts hinreißendes Gedicht „The Road Not Taken“. Und während ich noch an einer eigenen herumstümpere, entdecke ich Paul Celans Übertragung, die auf beglückende Weise vollkommen ist.

„Von der Freude eines solchen Augenblicks kann man ein Leben lang zehren“. Das wiederum schrieb J. A. Baker im „Wanderfalken“, als er an Heiligabend auf dem Ast einer Eiche den Sperber entdeckte. „Der Wanderfalke“ – eines der schönsten Bücher, die ich je gelesen habe. Hätte es der Filmemacher Werner Herzog nicht zur Pflichtlektüre für seine Studenten gemacht, wäre ich nie drauf gestoßen.

Todestag von Louise Colet – Dass auch einmal noch von ihr die Rede sei und nicht nur von ihrem Geliebten Gustave Flaubert, der sie so schnöde abserviert hat.

Freitag, 24. Februar 2017 – Sechzehnuhrsechzehn, siebenkommazwei. Fast ein Frühlingstag.

Ihr Herz, sagte Meryl Streep während der Verleihung der Golden Globes, sei gebrochen, als sie gesehen habe, wie Donald Trump einen behinderten Journalisten nachgeäfft habe. Streeps Freundin, die im Dezember verstorbene Schauspielerin Carrie Fisher, habe ihr jedoch den Rat gegeben: „Take your broken heart, make it into art!“

„Die herrschende Kunst ist die Kunst der Herrschenden“ – Wer hat’s gesagt? Marx, Adorno, Wagenknecht? Es war Dirk Boll vom Auktionshaus Christie’s in der aktuellen Ausgabe der „Zeit“.

Projekte: 1. Marthaler nach Strinz-Trinitatis schicken. 2. Die Lösshohlwege zwischen Alsheim und Mettenheim in Rheinhessen anschauen. 3. Unbedingt Edouard Louis’ ersten Roman lesen – was für ein erstaunlicher Knabe, und endlich mal ein entschiedener Gegner Houellebecqs. Womöglich interessanter als sein Lehrer Didier Eribon.

Georg Christoph Lichtenberg ist tot.
„Andächtiger und schöner als Lucinden
Wird man nicht leicht ein Mädchen beten sehn;
In jedem Zug lag Reue für die Sünden
Und jeder reizte zum Begehn.“

Donnerstag, 23. Februar 2017 – Elfuhrdreißig, neunkommaacht Grad. Sehr windig.

In der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit dem Schauspieler Gael García Bernal, der gerade in dem Film „Neruda“ zu sehen ist. Die Journalistin Juliane Liebert beschreibt ihn als einen Menschen, der freundlich ist, „auch zu der Hotelputzfrau, die während des Interviews ins Zimmer stürmt. Er behandelt sie, wie man eine Königin behandeln würde. Und das sagt bekanntlich mehr über jemanden als alle Preise, die er bisher gewonnen hat und noch gewinnen wird.“
Allein die folgenden paar Sätze, die García Bernal in dem Gespräch sagt, sind es Wert, dass die Geisterbahn mal wieder Fahrt aufnimmt:
„Als wir den Film drehten, war das vorherrschende Gefühl in etwa, wie wenn du mit Freunden redest, und sagst: Wir sollten uns öfter sehen. Mehr ausgehen. Öfter kochen. Es gab einen unschuldigen Impuls, der war: Wir müssen jetzt so viel mehr Schönes schaffen. Wir alle. Verdammt, es klingt so abgedroschen, aber gleichzeitig so notwendig. Es bewegt mich tief, wenn ich diese Typen reden höre, die Hasspredigten, die faschistische Plattform, die da entsteht. Und dann höre ich die andere Seite, dieses hypokritische Schulmeistergerede, das die Fragen vermeidet, die unbedingt gestellt werden müssen. Darum: Wir müssen jetzt so viel mehr Schönheit erschaffen. Jetzt ist die Zeit für Gedichte. Begeisterung. Hoffnung und Freiheit und Liebe. Sie lachen, aber ich sage Ihnen: Doch, doch, doch! Let’s be hippie about it! Let’s be hardcore about it as well!“
Wär’ doch schade, wenn diese Sätze mit der Zeitung im Altpapier landen würden.

Dreißigster Todestag von José Afonso (Grândola, Vila Morena)